Prolog
Nancys Eltern waren vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war damals noch zu klein, um das zu verstehen. Als ihre Großtante Jane anrief und ihr Kindermädchen Dora abnahm, erschrak sie damals sehr, als diese weinte. Nach dem sie aufgelegt hatte, erzählte sie ihr vom Tod ihrer Eltern. Nancy war erst fünf. Sie wusste noch, dass sie gelacht hatte. Heute bereute sie es. Sie vermisste ihre Eltern. Überhaupt ihre Mam. Abends, wenn sie nicht schlafen konnte, hatte sie sich manchmal auf die Treppen gehockt und ihren Eltern beim Fernsehen zu geschaut – heimlich, versteht sich. Elin, ihre Mam, hatte immer gelacht.
Wenig später kam Großtante Jane. Sie steckte Nancy in ein schwarzes Kleid und fuhr mit ihr zu ihren Großeltern. Seit dem wohnte sie dort. Es war ziemlich fad.
Vor einem halben Jahr hatten Oma und Opa beschlossen, nach Irland zurückzukehren. Sie wohnten zwar in Kanada, doch sie waren Iren. Auch Nancy war Irin. Da sie ohnehin nie Freunde hatte, weil sie nicht auf die öffentliche Schule ging, sondern von einer Privatlehrerin unterrichtet wurde, war es ihr egal, dass sie umzogen. Sie war in Irland geboren worden und eine Woche nach ihrer Geburt waren ihre Eltern wieder zurück nach Kanada geflogen. Nancy hatte bereits vergessen, wie es in Irland gewesen war. Nur von Fotos kannte sie es.
„Irland heißt auf irisch Éire“, hatte ihre Oma immer gesagt. Nancy konnte irisch. Es war ihre Muttersprache. Sie sprach besser irisch als amerikanisch.
Heute wachte Nancy wie üblich durch das Gesumme ihrer Großmutter auf. Sie wusste nicht genau, welche Melodie es war, sie wusste aber dass sie irisch war. Aus der Küche roch es gut nach Irish Coffee und irischem Schwarztee. Nancy zog sich die Decke über den Kopf. Sie war noch müde und wollte nicht aufstehen. Oma riss die Zimmertüre auf. „Rasch aus den Federn! Heute ist der große Tag. Wir ziehen nach Éire!“, flötete sie und klang aber zugleich energisch. Nancy warf einen Blick durch ein Loch in der Decke. Ihre Großmutter hatte schneeweißes Haar und trug einen lavendelfarbenen Morgenmantel über ihrem weißen Nachthemd. Nancy knurrte und zog die Decke noch weiter nach oben.
„Nun komm schon, Nan“ Nun stand auch Opa in der Türe. Er hatte einen verschlafenen Blick in seinen wasserblauen Augen. Sein Haar war weißgrau und er trug einen schwarzen Pyjama. Nancy sprang aus dem Bett. Sie ging in die Küche und ließ sich von Oma eine Tasse schwarzen Tee einschenken. Heute hatte sie keinen Hunger auf Black und White Pudding. Deswegen nahm sie nur eine Rasher aus dem Korb und strich sich Marmelade hinein. Dann aß sie noch Baken Beans und Spiegelei mit gedämpften Tomaten.
Oma lächelte und lud sich einen ganzen Teller voller Scones mit Honig und Wheaten. Danach nahm sie noch Toast. Opa aß Black und White Pudding mit Bratkartoffeln und Wheaten.
Die Großeltern hatten neben ihrem Teller eine Tasse heißen Irish Coffee stehen.
Nachdem sie Oma geholfen hatte, dass Geschirr sauber zu waschen und auch noch einzupacken, stürmte sie Blitzschnell auf das WC. Sie musste sich übergeben. Wieso, wusste sie nicht. Sonst schmeckte ihr das Irish-Breakfast doch immer! Immer wieder ging ihr diese Melodie durch den Kopf, die Oma vorhin in der Küche gesummt hatte. Irisch. Sicherlich, obwohl sie sie noch nie gehört hatte. Sie kannte irische Musik, obwohl sie sie noch nie gehört hatte. Dudelsack, Flöte und Geige waren typisch für Irland.
Als sie das Klo wieder gesäubert hatte, ging sie in die Küche und fragte ihre Oma nach der Melodie. „Ich weiß nicht, was du meinst, Nancy. Hier wurde weder gesummt noch gesungen, noch hatte ich das Radio aufgedreht“, sagte sie verständnislos. Über Nancys Rücken lief ein eiskalter Schauer. In letzter Zeit passierten ihr oft merkwürdige Dinge. Seit Opas Stimmbänderriss sang und summte er nicht mehr. Das Risiko war zu groß. Wer war es dann gewesen? Nancy ging in ihr Zimmer und kleidete sich an.
Das Kleid war neu. Es hatte einen pflaumefarbenen Ton und um die Teile war ein hübsches weißes Seidenband mit Spitzenrand. Sie hängte ihre Silber-Kette, die einen irischen Anhänger hatte. Dann nahm sie das einzige Ding, dass noch in ihrem Zimmer war: Ein Foto ihrer Mam. Sie war auf dem Bild um die 15. Elin hatte frisch gewaschenes dunkelblondes, bauschiges Haar und lächelte. Das Foto war in Irland aufgenommen. Nancy hatte Elins blaubeerfarbene Augen, und diese hatte sie von Oma. Mam trug auf dem Bild ein dunkelblaues Seidenkleid und saß auf einer blauen Bank.
Nancy steckte das Bild in ihre Reisetasche. Dann verließ sie mit ihren Großeltern das Haus und setzte sich in Opas irischen Wagen. Sie saß auf der Rückbank. Durch die Klimaanlage war es angenehm lauwarm. Nancy freute sich schon auf Éire.
Nach langer Fahrt mit dem Auto und dann mit der Fähre war Nancy ziemlich müde. Aber sie war da. In Irland. Sie hatte sich soeben verliebt. Nancy wusste gar nicht, dass man sich in ein Land verlieben konnte. Doch es ging. Sie wirbelte herum, bis Opa sie am Arm festhielt und ermahnte, sie könnte über die Klippen oder die Kaimauer fallen.
Dann ging es weiter mit dem Bus. „Jetzt ist es nicht mehr weit“, sagte Oma. Wenig später waren sie da.
Die Brücke
Gestresst vom Auspacken verließ Nancy das Haus. Niemand fragte, wohin sie ging.
Sie hätte ja sowieso nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte. Von dem Haus gingen zwei Wege weg. Nach vorne und nach links. Nancy nahm den linken Weg, von dem anderen Weg waren sie ja vom Hafen zum Haus gekommen. Sie ging schnell. Es war ja ziemlich kühl hier, aber sie hatte ja ihre Windjacke an. Der Weg war von Bäumen gesäumt. Richtig irisch. Nach einer halben Stunde kam Nancy zu einer Brücke.
Sie war richtig alt, verwaschen und mit viel Moos bewachsen. Wahrscheinlich war es maurischer Baustil.
Das gefiel ihr. Plötzlich hörte sie wieder die merkwürdige irische Melodie. Woher sie wohl kam? Ehe sie ihr folgen konnte, hörte sie auch schon wieder auf. Seltsam, richtig seltsam.
Unter der Brücke hörte sie ein Rascheln. Sie beugte sich hinunter und sah einen reißenden Fluss. Am Ufer verschwand ein Mädchen im Gebüsch. „Hallo! Was ist los? Wieso versteckst du dich vor mir? Ich bin neu hier. Erst heute eingezogen. Mein Name ist Nancy. Wie heißt du?“, rief sie auf irisch. Keine Antwort. Nancy schüttelte den Kopf. Das Mädchen schien ungefähr in ihrem Alter zu sein. Um die fünfzehn. Aber sie war viel schüchterner. Nancy war auch nicht gerade mutig, aber richtig schüchtern war sie eben nicht.
Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Er war strahlendblau. Aber er war auch eisgrau – und wolkenlos.
Als sie den Kopf wieder senkte, flog ihr etwas entgegen. Es war ein kleiner Schmetterlingsflügel. Nur ein Teil davon. Nancy fing ihn geschickt auf. Er war wunderhübsch, violett, schwarz, grün, rot und bernsteinfarben. Vorsichtig steckte sie ihn in ihre Tasche.
Eine Weile lang blieb sie noch auf der Brücke. Sie setzte sich auf die Brückenmauer und schaute wieder in den Himmel. Es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen.
Nancy wachte mit einem Ruck auf und sah sich um. In der Ferne sah sie die Brücke.
Sie war auf Moos gebettet. Vorsichtig stand sie auf und klopfte sich das Kleid sauber. „Seltsam, ich bin doch auf der Brücke eingeschlafen, oder etwa nicht?“, fragte sie sich. „Wie zum Teufel bin ich hier her gekommen? Oder habe ich alles nur geträumt? Gibt es gar keinen Schmetterlingsflügel?“ Nancy griff in ihre Tasche und holte den Flügel hinaus. Doch, es gab ihn.
Sie lief zur Brücke hinüber und beugte sich wieder hinunter. An der Außenseite war ein Haken angebracht. Etwas hing daran. Was war das? Vorsichtig hielt sie sich fest und schaute nach unten. Es war ein pflaumenfarbener Stofffetzen. Voller entsetzen starrte sie auf ihr Kleid. Es hatte ein Loch, das der Größe des Fetzens entsprach. „Oh mein Gott, ich wäre fast da hinunter gefallen. Wie konnte das nur passieren? Und wieso bin ich auf dem Moos aufgewacht?“
Nancy hatte plötzlich furchtbare Angst. Um ein Haar wäre sie um ihr Leben gekommen. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter und sie begann zu zittern. Ihre Windjacke war fort. Sie begann zu frieren. Schnell lief sie den Weg, den sie gekommen war, wieder zurück.
Atemlos kam sie vor dem Haus ihrer Großeltern an. Sie beschloss, ihnen nichts von der ganzen Sache zu erzählen. Sonst würden sich die beiden nur wieder unnötig Sorgen machen. Oma und Opa waren ja immer so schreckhaft! Sicher würde sie nicht mehr alleine aus dem Haus dürfen!
Unbemerkt verschwand sie in ihrem Zimmer. Sie zog ihr Kleid aus und wechselte es gegen Jeans und ein weißes verwaschenes T-Shirt ihrer Mam, das die Aufschrift „LUCH“ trug. Das war irisch und bedeutete Maus.
Sie richtete sich ihre Schulsachen her. Ihre Großeltern hatten ihre versprochen, in Irland auf die öffentliche Schule gehen zu dürfen. Ein kleines bisschen freute sie sich schon.
Wenig später ging die Türe auf und Oma kam herein. An der Hand hielt sie ein irisches Mädchen, das scheu lächelte. „Nancy, wie schaust du denn aus? Hattest du vorher nicht noch dein hübsches Kleid an? Hat dieses T-Shirt deiner Mam gehört? Ich habe es immer verabscheut. Wie kann man nur ein T-Shirt tragen, auf dem Luch steht? Das ist ja Selbstlob!“, rief sie entrüstet. Nancy passte es gar nicht, dass Oma sie vor dem jüngeren Mädchen so fertig machte. „Oma, bitte! Mein Kleid hatte ein Loch. Ich habe dieses Shirt doch nur vorübergehend an!“ Ihre Großmutter nahm sich wieder einigermaßen zusammen. „Das hier ist Scarlet, deine irische Kusine. Ich lasse sie hier bei dir oben. Ihr könnt ja eine kleine Weile plaudern“, sagte sie nicht ohne Stolz und verließ das Zimmer.
Nancy hatte gar nicht gewusst, dass sie außer ihren Großeltern und den beiden Großtanten Jane und Alice noch Verwandte hatte. Die Kleine musste die Tochter von einem von Mams Geschwistern sein. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie Tanten oder Onkeln oder sogar beides hatte. „Setz dich doch einmal“, sagte sie und deutete auf ihr Bett.
Scarlet nahm Platz und blickte weg. Sie war ziemlich schüchtern. „Wie alt bist du?“, fragte Nancy sie vorsichtig. „Dreizehn. Und du?“
„Fünfzehn“
Scarlet lächelte. „Deine Eltern sind tot, oder? Meine auch. Sie starben bei demselben Autounfall wie deine. Devin saß am Steuer“
Nancy erschrak. Scarlet hätte jeden Grund, auf sie sauer zu sein. Schließlich war Nancys Dad für den Tod ihrer Eltern verantwortlich. Sie war aber kein bisschen sauer, nur schüchtern.
„Kinder, es gibt Irish Stew zum Abendessen!“, rief Oma von unten. „Bitte kommt doch!“
„Ich glaube, wir müssen nach unten gehen“, sagte Nancy und deutete ihrer Kusine, ihr zu folgen.
Wenig später saßen sie bei Tisch und schauten der lächelnden Großmutter ins Gesicht. „Was ist denn, Oma?“, fragte Scarlet. „Ach, ich bin so froh, dass wir endlich in Irland sind. Nancy, wir müssen dir unbedingt Dublin zeigen!“
Nancy nickte abwesend. „Scarlet, du übernachtest heute hier. Sie haben angerufen. Du wirst morgen abgeholt“, erklärte Opa.
„Wer hat angerufen?“, fragte Nancy. Die Großeltern und ihre Kusine taten so, als hätten sie sie nicht gehört.
Nach dem sie ein paar Runden ficheall gespielt hatten (Opa und Scarlet spielten, Oma gab Opa Tipps und Nancy Scarlet) gingen sie schlafen. Scarlet sollte auf dem Sofa in Nancys Zimmer übernachten. Nach dem Oma bei den beiden das Licht ausgelöscht und „Gute Nacht!“ gesagt hatte, plauderten die Mädchen noch ein bisschen. „Dein Vater war mein Taufpate“, flüsterte Scarlet. „Wirklich? Wer von deinen Eltern war mit meiner Mam verwandt?“
„Das weißt du nicht? Meine Mutter war die kleine Schwester deiner Mam.“
„Wie hieß sie?“
„Casey Joleen. Sie sah deiner Mutter ziemlich ähnlich“
„Meine hieß Elin. Aber das weißt du sicher, nicht wahr“
„Ja, natürlich.“
„Wo wohnst du eigentlich?“
„In Wicklow.“
„Und bei wem?“
„Soll ich dir das wirklich sagen?“
„Wenn du nicht willst, lass es bleiben“
„Na gut, ich erzähle es dir. Aber sag es niemandem, ja?“
„Natürlich nicht“
„Ich wohne bei meiner Urgroßmutter Velvet Glenn und meiner Urgroßtante Lynnell Kelsey. Die beiden sind Zwillingsschwestern, aber keine normalen. Verstehst du? Sie sind siamesisch. Zusammen gewachsen. Und deshalb brauchen sie mich. Ich muss ihnen den Haushalt führen. Das ist regelrecht schrecklich“
„Du arme“
„Und jeder denkt, sie wären verrückt. Sie glauben an Elfen, Kobolde und Feen. Aber ich auch“
„Ehrlich gesagt tue ich das auch. Und deshalb gelten sie als verrückt?“
„Ja, leider“
Dann sagte niemand der beiden mehr etwas und wenig später waren sie auch schon eingeschlafen.
Phyllis
Am nächsten Tag wurden die Mädchen von Oma geweckt. „Heute ist der erste Schultag. Scarlet besucht die gleiche Schule wie du. Dann lernst du auch ihre Schwestern und Brüder kennen, deine Kusinen und Cousins“, flötete sie und verließ das Zimmer. Sie vertraute den beiden, sie wusste, das sie aufstehen würden.
Nancy sprang aus dem Bett. Das tat ihrem Kreislauf gar nicht gut. Sofort wurde ihr schwarz vor Augen. Stöhnend hielt sie sich an der Sofalehne fest.
Scarlet war sofort bei ihr. Sie stützte ihre Kusine und half ihr, sich niederzusetzen. „Warte, ich hole dir Hilfe und ein Glas Wasser!“, rief sie ihr zu und rannte hinaus.
„Nancy ist zu schnell aufgestanden. Jetzt ist ihr ganz schwindelig“, erklärte sie Oma und füllte Wasser in ein Glas. Die Großmutter eilte gleich in Nancys Zimmer.
„Lieber Himmel, Mädchen!“, rief sie erschrocken.
Scarlet kam mit dem Glas Wasser ins Zimmer. „Hier, trink“
Nancy musste sich übergeben. Dann trank sie, stand auf und legte sich wieder in ihr Bett und war auch schon eingeschlafen.
Oma und Scarlet schüttelten den Kopf. Sie frühstückten alleine und dann rannte das Mädchen los, um ja nicht den Bus zu verpassen.
Zwei Stunden später wachte Nancy wieder auf. Sie hatte keinen Hunger und so fuhr Opa sie zur Schule.
Nancy wurde der 10 c zugewiesen. Richtig wohl fühlte sie sich in diesem Getümmel nicht.
Sie war noch nie in einer öffentliche Schule gewesen. Die Lehrerin hieß Prof. Kaley und unterrichtete matamaitic, das irische Mathematik.
Nancy saß in der Schulbank neben einem Mädchen namens Bevin Kayleigh. Sie sah, wie diese während des Unterrichts unter dem Tisch mit ihrem Handy SMS schrieb.
Fünfmal wurde sie von der Professorin ermahnt, aufzupassen. Beim sechsten Mal kam sie zum Pult und entdeckte das Handy. „Miss Thyre, sie wissen genau, dass das Handy im Unterricht nicht erlaubt ist. Geben sie es mir!“
„Das gehört nicht mir. Es ist von meiner neuen Sitznachbarin, Miss Weiylls!“, sagte sie trotzig und zeigte auf Nancy.
Diese fuhr in die Höhe und blickte Bevin Kayleigh bitterböse an. „Haben sie keine Sorge, Miss Weiylls. Ich glaube ihr ohnehin nicht mehr“, beruhigte die Professorin sie.
In der Pause holte Nancy ihr Pausenbrot aus der Schultasche und ging in den Schulpark. Dort ließ sie sich auf einer Bank nieder, nahm ihr Buch heraus und begann zu lesen. Plötzlich hörte sie, dass jemand ihren Namen rief. „Naaaannnnccccccccccyyyyyyy!!!!!!!!!!“, tönte es.
Mit einem Ruck drehte sie sich um. Scarlet winkte ihr. Schnell nahm sie das Brot in die linke Hand und lief zu ihr. „Hi Scarlet! Kann ich jetzt deine Geschwister kennen lernen?“
„Auf jeden Fall. Geht es dir auch schon besser?“
„Ja, es geht schon wieder“
Wenig später stellte Scarlet ihre Geschwister vor. Sie hatte drei Schwestern und zwei Brüder.
„Dia duit, Nancy. Ich bin die älteste Schwester von Scarlet. Mein Name ist Liadan Maeva. Ich bin 17“, sagte Nancys große Kusine.
Die anderen stellten sich als Meredia Onora (14 Jahre) und Pádraigín Caron (9 Jahre) vor.
Ihre Cousins hießen Eamon Darren und Luan Pádraig.
In der nächsten Pause verließ Nancy eilig das Schulgebäude, weil diese kürzer sein sollte.
Auf einmal sah sie einen Kreis von schreienden Mädchen. Schnell lief sie hin.
„Was ist denn hier los?“, fragte sie ein Mädchen neben sich. Diese gab ihr keine Antwort, so drängte sich Nancy einfach durch die Menge. Im Kreis stand ein Mädchen, das ungefähr so alt wie sie war. Sie erkannte sie sofort wieder. Es war das Mädchen, das bei der Brücke davon gehuscht war.
Das Mädchen hielt sich ängstlich die Hände vor ihr Gesicht. Die Menge schrie immer wieder: „Angsthasenstreberin!“
Nancy packte eine unglaubliche Wut. Wie konnte so eine Menge nur auf ein einziges, wehrloses Mädchen losgehen? Zornig schrie sie: „Hört sofort auf!“
Kurz verstummten die Versammelten, dann lachten sie spöttisch und schrieen weiter.
Nancy packte das Mädchen am Arm und zog es aus dem Kreis.
Ängstlich folgte sie ihr.
Scarlet kam angerannt. „Was ist denn passiert?“, fragte sie keuchend.
„Diese feigen Mieslinge, sie haben sie total ausgespottet und gedemütigt. So etwas habe ich noch nie erlebt“, schluchzte Nancy.
„Mein Hund...“, flüsterte das Mädchen und Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Was ist mit deinem Hund?“, fragte Scarlet leise und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Hastig drehte sie sich weg, um die Tränen zu verbergen. „Sie haben mir ihn weggenommen – er ist nicht mehr da“
Scarlet sah Nancy verständnislos an. „Wer hat ihn ihr weggenommen?“
„Ich vermute, die die dich auch ausgelacht haben, oder?“
Das Mädchen nickte.
„Wir müssen ihn suchen“, beschloss Scarlet.
Kurz darauf hatten die drei das Schulgelände verlassen.
Sie liefen, so schnell sie konnten. Wahrscheinlich war der Hund in den Wald gelaufen.
„Wie heißt dein Hund denn?“, fragte Nancy vorsichtig.
„Amber. Sie ist eine Hündin“
Alle drei begangen zu rufen. Es wurde der halbe Wald abgesucht. Erst, als es dunkel wurde, gingen sie heim.
„Wie heißt du denn?“, fragte Scarlet neugierig.
„Phyllis“, sagte sie und versuchte ein müdes Lächeln. Man konnte sehen, dass ihr die Tränen in den Augen standen.
Sie wandte sich ab. „Ich muss jetzt heim. Wir werden ohnehin genug Ärger wegen der Schule bekommen“, flüsterte sie und war auch schon davon gehuscht.
In der Nacht lag Nancy wach im Bett. Phyllis tat ihr furchtbar leid.
Sie konnte nicht schlafen. Also stand sie auf und ging vor die Türe. Dann holte sie tief Luft und rannte los.
Nancy rannte den gleichen Weg wie damals, als sie zum ersten Mal bei der Brücke gewesen war.
Etwas Angst hatte sie schon. Es war Nacht – und sie war alleine im Wald, in dem sie erst zweimal gewesen war.
Auf der Brücke ließ sie sich nieder. Plötzlich lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. War da nicht ein Rascheln gewesen?
Vor ihr tauchten zwei leuchtende Augen auf. Nancy schrie wie am Spieß.
Die Augen kamen immer näher. Sie schrie noch lauter und sprang auf. Nancy wollte davon laufen, da spürte sie etwas warmes an ihrem Schienbein und kurz darauf lautes Gebell.
„Amber!“, rief sie.
Die Augen hatten der Hündin von Phyllis gehört.
Amber sank nieder und wimmerte. Nancy kniete sich neben sie und beäugte sie vorsichtig.
Ihr Hinterbein war verletzt.
Sie pflückte ein Blatt von dem Baum neben ihr und wickelte es um den blutigen Körperteil.
Dann legte sie den Kopf auf Ambers Fell und machte die Augen zu.
Wieder hörte sie die Melodie.
Und dann schlief sie ein.
Als Nancy aufwachte, schien die Sonne bereits. Sie stand auf und streckte sich.
Amber bellte leise. Nancy stützte die Hündin vorsichtig und machte sich auf den Heimweg.
Einmal musste sie eine Pause einlegen, da ihr die Last zu schwer war.
Doch dann hatte sie es geschafft.
Beim Haus ihrer Großeltern klopfte sie vorsichtig an die Türe.
Ihre Oma öffnete. „Du liebe Güte! Was machst du denn um die Zeit hier draußen, mit einem Hund?“
Nancy erfand schnell eine Ausrede. Dann schob sie Amber ins Haus und legte ihr eine Decke hin.
Vorsichtig verarztete sie die Wunde. Anschließend bekam die Hündin noch einen Wassernapf hingestellt.
Nach dem Nancy gefrühstückt hatte, half Opa ihr, den Hund ins Auto zu heben. Dann fuhren die beiden in die Schule.
Opa verabschiedete sich und sie ging zum Sekretariat, um nach Phyllis Klasse zu fragen.
Nancy riss die Klassentüre auf und stürmte hinein. Eine Lehrerin sah sie verwundert an.
„Amber!“, rief Phyllis. Nancy lächelte Phyllis an. Dann erst ging sie in die eigene Klasse.
Die ganze erste Schulstunde freute sie sich schon auf die Pause. Als es endlich soweit war, ging sie schnellstens in den Pausenhof.
Dort wurde sie bereits erwartet. Phyllis und Amber kamen ihr entgegen gelaufen und fiel ihr in die Arme.
„Danke – danke für alles“, schluchzte sie. „Du warst es, die mich nicht ausgespottet, sondern verteidigt hat. Gestern liefst du mit mir in den Wald, nur um meinen Hund zu suchen, obwohl Schule war. Und du hast meine Amber, die mir das wertvollste ist, dass ich habe, zurückgebracht“
Nancy tätschelte beruhigend Phyllis Schulter. „Ist ja gut“
„Ich habe keine einzige Freundin. Niemand mag mich“, flüsterte sie.
„Doch, ich bin deine Freundin“, antwortete Nancy.
„Wirklich? Ich meine, es gibt sich doch niemand mit Phyllis Wodow ab“
„Doch, ich“
„Du bist meine beste Freundin“
„Ja eben. Und deswegen müssen wir uns doch einmal etwas ausmachen“
„Wirklich?“
Und so kam es, dass die beiden Mädchen, Nancy und Phyllis, sich für den Nachmittag verabredet.
Sie trafen sich auf dem Dachboden von Nancys Großeltern. Amber kam mit.
Dort oben gab es viele Mäuse. Sie legten sich ins Heu und Amber jagte, bis Phyllis sie am Halsband nahm und schüttelte und „Aus!“ sagte.
Sie tranken Kaffee und Nancy erzählte von der Brücke. Und davon, dass sie Phyllis schon einmal gesehen hatte.
Phyllis nickte. „Ich bin oft dort. Die Brücke, sie ist so wunderbar – man muss sie einfach lieben. Amber geht jagen und ich sitze am Ufer und schaue den Fischen und Vögeln zu. Das ist sehr interessant. Ich zeichne auch oft. Zum Beispiel die Brücke oder den Fluss.
Nancy lächelte, als Phyllis eine Zeichnung der Brücke aus ihrer Hosentasche holte.
„Weißt du eigentlich, dass du sehr gut zeichnen kannst? Du hast Talent, Phyllis“, sagte sie anerkennend. „Meinst du?“, fragte sie ungläubig.
Nancy nickte. Sie nahm die Zeichnung und hielt sie gegen das Licht.
„Meine Mam war Zeichner. Sie konnte das so gut. Mam begang Selbstmord, aus Verzweiflung, als ich ein halbes Jahr alt war. Und mein Daddy trennte sich von ihr, als er erfuhr, das sie schwanger war. Er hat Selbstmord begangen, als er hörte das sie dass auch tat. Weil er es bereute, sich von ihr getrennt zu haben, als sie mit mir schwanger war“
„Meine Eltern starben bei einem Autounfall, als ich 5 Jahre alt war.“
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die daran glauben, dass Schmetterlinge aus einer anderen Welt kommen.