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Kapitel 1


Irina saß auf der Fensterbank und starrte ins Dunkel. Sie konnte nicht einschlafen, denn ihre Eltern stritten schon wieder. Sie vermisste Bailey, wie sie neben ihr lief und ihr schönes goldblondes Haar im Wind wehte. Bailey war weg. Für immer. Sie hatte den Abschiedsbrief aufgehoben. Vorsichtig nahm sie ihn aus ihrer
Nachttischschublade. Er war klein und zerknittert:

„Bitte vermisst mich nicht. Mein Leben war so schwer und ich konnte das alles einfach nicht mehr verkraften. Es war so schwer, ich konnte nicht anders.
Eure Bailey“

Irina hatte ihn und Baileys toten Körper gefunden, als sie draußen die Hausmauer anmalen wollte. Sie war neben ihm niedergesunken und hatte geschrieen und geheult: „Nein! Nein! Bailey nein!“ Irina konnte sich noch zu gut erinnern, wie sie ihr Gesicht in dem toten Körper verborgen hatte. Sie war in Ohmacht gefallen. Ihre Eltern kamen und zogen sie weg. Alles verlief wie in Zeitlupe. Sie hatte nur geschrieen und geheult: „Bailey ist tot! Wieso Bailey? Bailey ist tot!“
Irina blickte hinab, an die Stelle, wo Baileys Körper lag. Tränen liefen ihr über die Wangen. Bailey war ihre Zwillingsschwester gewesen. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Wieso hatte Bailey Selbstmord begangen? Ihre Füße waren kalt geworden. Schnell sprang Irina ins Bett zurück und schlief sofort ein. Sie träumte von Bailey. Sie lief neben ihr. Ihr goldblondes Haar wehte im Wind. „Irina, ich kann nicht anders. Borg mir dein Fenster. Ich muss es tun. Mein Leben ist mir zu schwer. Es gibt keinen Ausweg“, rief Bailey im Traum und rannte in Irinas Zimmer. Immer wieder sprang sie aus dem Fenster.
Am nächsten Tag wachte Irina weinend auf. Ihre Mam stand neben dem Bett und drückte ihre Hand. „Ist es wegen Bailey?“, fragte sie sachte. Irina nickte. „Warum nur? Warum hat sie Selbstmord begangen? Es ist wegen mir. Ich bin schuld“, weinte sie. „Nein, Schatz. Auch wenn ihr in letzter Zeit sehr oft gestritten hattet. Sie war schon bei der Geburt sehr schwach. Bailey lernte erst mit 3 gehen. Ich wusste, dass es einmal soweit sein würde. Hätte sie sich nicht das Leben genommen, wäre sie spätestens ein Jahr später gestorben. Sie war so schwach. Bailey konnte wirklich nicht anders. Alles was die anderen taten konnte sie nicht mitmachen. Das Leben war für sie nicht lebenswert“, sagte sie zärtlich und strich ihr vorsichtig über die Hand.
„Ich muss jetzt aufstehen“, rief Irina hastig und sprang auf. Ihrer Mam huschte ein kleines Lächeln über die Lippen und sie ging aus dem Zimmer ihrer Tochter.
Kaum war sie weg, schrieb Irina in ihr Notizbuch:

Mam hat mir erklärt, warum Bailey sich das Leben nahm.

Schnell guckte sie in den Spiegel und frisierte ihr kinnlanges Haar. Sie war dunkelblond. „Bailey wäre jetzt auch so“, sagte ihre Mutter immer. Früher war Irina auch goldblond gewesen. Gott sei Dank musste sie Bailey nicht in dunkelblond sehen. Irina hatte tiefblaue Augen, genauso wie ihre Schwester. Sie zog ihr hellblaues Faltenkleid an und rannte hinunter. Ihre Eltern saßen sich schweigend gegenüber. „Das hat nichts Gutes zu bedeuten“, dachte sie sich. Dann räusperte sich ihr Daddy. „Hör zu, Irina. Deine Mam und ich kommen einfach nicht mehr aus miteinander. Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen“, erklärte er. Irina nickte traurig. Sie weinte nicht, denn sie hatte es gewusst. Von Baileys Tod an. Mam und Daddy waren nicht mehr dieselben gewesen. Sie stritten dauernd. „Du musst dich entscheiden, bei wem du wohnen willst. Wir beide werden von diesem Haus wegziehen, da es uns alleine zu teuer wird. Ich schätze, wegen Bailey wird es dir nichts ausmachen“, sagte nun ihre Mam. Irina nickte noch mal. Sie wusste beim besten Willen nicht, welchen von beiden Eltern sie mehr mochte. Ihr Daddy war strenger, schenkte ihr aber etwas, wenn sie ein gutes Zeugnis hatte. Das war Mam nicht. Mam konnte besser trösten, Daddy besser erklären. Mam redete mehr, was ihr manchmal ziemlich auf die Nerven ging, dafür redete Daddy so gut wie gar nichts, weswegen sie sich manchmal alleine fühlte. Beide gingen arbeiten. Daddy verbrachte die meiste Zeit vor seinem Computer oder Zeitung lesend. Mam telefonierte fast unerträglich lange. Beide hatten doofe Freunde.
„Ich werde es mir überlegen“, beschloss Irina.
Als sie fertig gefrühstückt hatte, schrieb sie in ihr Notizbuch:

Daddy und Mam wollen sich scheiden lassen. Ich muss mich entscheiden wo ich wohne.

Zufrieden schloss sie das Notizbuch wieder in die Lade ein. Eigentlich war sie gar nicht traurig, dass ihre Eltern sich trennen wollten. Im Gegenteil, sie war sogar froh, weil sie sich den ewigen Streit nicht mehr anhören musste.

Am Nachmittag saß Irina mit einem Buch in der Hängematte. Sie las „Eine für vier“ von Ann Brashares. Ihre Eltern hatten es ihr geschenkt, als Bailey starb. Es gab in dem Buch auch eine Bailey, die an Leukämie starb. Das Buch hatte sie schon gut 20mal gelesen, da es ihr so gut gefiel und es irgendwie ein Trost für sie war. In dem Buch ging es um vier Mädchen, Tibby, Lena, Bridget und Carmen die eine Jeans besaßen, die Zauberkräfte hat, mit der Post von Mädchen zu Mädchen geschickt wird und „Die JEANS auf Reisen“ genannt wird.
´Plötzlich hörte sie, wie der Postträger Briefe in den Briefkasten warf. Sofort legte sie das Buch weg und lief hin. Geschickt fischte sie die Post aus dem Schlitz und brachte sie ins Haus. Vorsichtig schaute sie den Stapel durch, ob etwas für sie dabei war. Nein, nichts. Enttäuscht ließ sie den Stapel fallen. Auf einmal fiel ein Brief aus einer Zeitung. Er war eindeutig an sie adressiert. Rasch schnappte sie ihn und lief in ihr Zimmer. Schnell ließ sie sich auf ihr Bett fallen und riss ihn auf.


Liebe Irina!
Du kennst mich wahrscheinlich nicht, aber ich bin deine Grandma Bailey.
Ich heiße genauso wie deine Schwester. Deine Eltern haben sie nach mir benannt.
Vielleicht möchten du und Bailey mich einmal besuchen kommen. Ich wohne in Griechenland, direkt am Meer.
Liebe Grüße an Bailey und deine Eltern
Grandma Bailey

Nachdem sie den Brief gelesen hatte, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie kannte ihre Grandma gar nicht, geschweige denn wusste sie, dass diese Bailey hieß. Ihre Eltern hatten ihr nie etwas davon erzählt. Grandma wiederum wusste nicht einmal, dass Bailey tot war. Wütend schmiss sie das Kuvert an die Wand. Drei Fotos flogen heraus. Sie zeigten eine alte, lockige, weißhaarige Frau, die einen Hut trug und lächelte, ein Haus, von Sand umgeben und das Meer. Sofort klappte Irina ihr Notizbuch auf und schrieb:

Ich habe einen Brief von meiner Grandma Bailey bekommen, von der mir Mam und Daddy nie etwas erzählt haben, die nichts davon weiß, das Bailey tot ist und in Griechenland am Meer wohnt.

Bevor sie das Notizbuch wieder zu klappte, legte sie die Fotos und den Brief dazu. Plötzlich kam ihr eine Idee. Ihre Mam hatte ein Notizbuch mit Adressen und Telefonnummern. Vielleicht konnte sie dadurch mehr über Grandma herausfinden? Vorsichtig schlich sie die Treppe hinunter in das Büro ihrer Mam. Dort stand ein Schreibtisch mit Computer, Telefon und Faxgerät. Daneben waren vier Bücherregale voller Bücher und Zeitungen. Eines war voller wichtigen Sachen. Sie sah darin Zeugnisse, Rechnungen, Dokumente, Briefe und vieles mehr. Endlich konnte sie auch das Telefonbuch entdecken. „Alice Vregery“ hatte ihre Mam in geschwungener Schreibschrift auf das Deckblatt geschrieben. Sie wusste, dass ihre Mam die Namen nach dem Anfangsbuchstaben der Vornamen geordnet hatte und blätterte gleich zu B. Bailey Vregery stand da. Aber halt, bei Adresse hatte Mam Amerika und nicht Griechenland geschrieben. „Das ist sicher meine Schwester“, dachte Irina. Als nächstes stand noch mal Bailey Vregery und Griechenland. Schnell schnappte sie sich das Telefonbuch und lief zurück in ihr Zimmer. Dort sperrte sie gründlich ab. Dann nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Grandmas Nummer.
„Bitte heb ab, heb ab, bitte heb ab“, bat Irina. „Hier Bailey Vregery am Apparat. Ich kaufe nichts und ich brauche auch keine Werbung“, schnauzte Bailey am anderen Ende. „Nein, ich weiß. Ich will auch keine verkaufen. Ich bin’s Irina“, erklärte sie. „Meine Güte Irina! Du klingst schon so erwachsen. Wie alt bist du jetzt?“ „Sechzehn. Grandma ich muss dir was erzählen.“ „Ja, ist ja klar, das du das willst, wenn du mich anrufst. Aber kann ich nachher noch Bailey sprechen?“ „Tut mir leid, aber Bailey ist ein Grund warum ich anrufe. Sie ist vor einem Jahr gestorben“ „Bailey? Nein, das darf nicht war sein. Nicht meine klein Bailey.“ „Sie hat Selbstmord begangen. Ich glaube Mam und Daddy haben dir nie etwas davon erzählt“ „Ja, da hast du Recht. Ich muss das erst einmal verarbeiten.“ „Genau. Und ich muss dir noch zwei Sachen erzählen. Mam und Daddy wollen sich scheiden lassen. Außerdem haben sie mir nie etwas von dir erzählt. Bist Mams oder Daddys Mutter?“ „Ich wusste, dass es irgendwann einmal passieren wird. Ich bin die Mutter von beiden“ „Was?“ „Ja. Dein Vater ist mein Adoptivsohn. Deine Mutter ist meine leibliche Tochter. Ich weiß zum Kuckuck noch mal nicht, warum sie dir das verheimlicht haben. Du solltest mich wirklich mal besuchen“ „Ja. Aber ich muss mit meinen Eltern reden, ja? Ich weiß noch nicht, bei wem ich wohnen will. Ich hasse beide, also will bei keinem wohnen“ „Hm. Ich rufe dich morgen an. Tschüss!“ „Tschüss“, verabschiedete sich Irina.
Beim Abendessen saßen die drei sich schweigend gegenüber. „Wieso habt ihr mir nichts von Grandma Bailey erzählt? Wieso? Sie hat mir einen Brief geschrieben. Sie wusste nicht einmal das Bailey tot ist“, schrie Irina. „Das sollte sie auch nicht wissen. Sie ist extrem abergläubisch und denkt, wenn jemand mit dem gleichen Namen wie sie stirbt, stirbt sie auch“, antwortete Daddy leise und lief rot an. „Das war eine schlechte Lüge, Daddy. Wieso lügst du mich an? Ich habe es satt mit euch!“, kreischte sie. „Schätzchen, höre zu, es ist ganz anders, als du denkst... “, versuchte Alice sie zu beruhigen. „Nein Mam, vergiss es! Ich habe mit Grandma telefoniert und ihr alles erzählt. Das mit Bailey und das ihr euch scheiden lasst und so weiter“, rief sie zornig und stürmte in ihr Zimmer.
Dort warf sie sich sofort auf ihr Bett und schlief ein. Wieder hatte sie einen seltsamen Traum. Ihre Grandma sagte in dem Traum: „Du kannst ja bei mir wohnen“
Dann plötzlich löste sie sich in Luft auf und verwandelte sich in Irinas Schwester Bailey. „Gehe nicht zu Grandma! Das ist ungerecht mir gegenüber, denn ich bin ja schon tot. Tu mir das nicht an!“, rief sie. Und dann sprangen Grandma Bailey und Schwester Bailey aus dem Fenster und riefen: „Wohne bei mir!“ und „Wohne nicht bei ihr!“ Dann lösten sie sich erneut in Luft auf.
Verwirrt wachte Irina auf. Es war halb acht. Das war die Lösung! Sie würde nicht bei Mam und Daddy wohnen, sondern bei Grandma in Griechenland! Ob das ihr wohl recht war? Und ob es ihren Eltern recht war? Sie beschloss, sie sofort anzurufen. Schnell wählte sie die Nummer, die sie mittlerweile schon auswendig konnte.
„Hallo Grandma. Ich bin’s Irina und kein Werbungsmacher“, begrüßte sie Bailey.
„Ach, hallo Irina! Weißt du schon bei wem du wohnen willst?“ „Ja, schon! Allerdings weiß ich nicht, ob ihr das recht ist“ „Bei wem denn? Wenn du es mir sagst, überrede ich denjenigen!“ „Okay. Derjenige bist nämlich DU!“ „Echt? Du willst bei deiner Grandma wohnen, die du nur von Fotos kennst? Aber ich nehme dich gerne auf. Ich bin sowieso immer so einsam. Natürlich kannst du bei mir wohnen. Ich freue mich schon irrsinnig! Hast du schon mit deinen Eltern geredet?“ „Nein, aber das ist schließlich meine Entscheidung. Mit sechzehn kann man entscheiden, wo man wohnt. Ich bin ja schließlich kein Kleinkind mehr“ „Da hast du recht. Kann ich vielleicht einmal jemanden deiner Eltern sprechen?“ „Sicher doch. Tschüss“ „Tschüss, Irina“, verabschiedete sich Bailey.
„Mam! Telefon!“, schrie Irina die Treppen hinunter. „Komme ja schon! Wer ist es denn?“, keuchte Alice und lief die Stiegen hinauf. Irina zuckte nur mit den Schultern und gab ihrer Mutter ihr Handy. „Hallo? Äh, hallo Mam“, sagte sie und ging mit dem Handy in ihr Büro. Irina schlich ihr nach und lauschte. Leider konnte sie nur einzelne Wörter verstehen. Was?, Irina, Griechenland, vermissen, nein, ja, Mutter und Vater, Heimweh, nein, nein, Meer, Flugzeug und bla, bla, bla waren einige davon. Also stieg Irina wieder die Treppen hoch in ihr Zimmer. Dort nahm sie das Notizbuch heraus und schrieb:

Ich wohne demnächst wahrscheinlich bei Grandma Bailey.

Etwas später saßen Alice, Irina und Mortimer am Esstisch und frühstückten. „Irina Schätzchen. Deine Grandma sagte, du willst bei ihr wohnen. Bitte überlege es dir gut. Ich weiß, du hattest in letzter Zeit viel Zoff mit mir und deinem Daddy. Aber tu bitte nichts unüberlegtes, ja?“, bat Alice sie. „Mam, ich habe es mir sehr gut überlegt. Ich will nach Griechenland zu Grandma Bailey. Sie wusste nicht einmal etwas von Baileys Tod. Wieso habt ihr es ihr nicht erzählt?“, ärgerte Irina sich. „Schatz, manchmal müssen Erwachsene auch Geheimnisse haben. Ich meine es jetzt nicht böse, aber das geht dich wirklich nichts an. Es war sehr wichtig, das Grandma Bailey nichts vom Tod deiner Schwester erfuhr. Du hast recht, die Sache, die ich gestern behauptete, war auch nicht die Wahrheit. Manchmal müssen Erwachsene lügen“, erklärte ihr Mortimer. „Es geht mich sehr wohl etwas an, denn Bailey war meine Schwester und Grandma ist meine Großmutter! Aber wenn ihr unbedingt wollt, behaltet es für euch“, zischte Irina. „Irgendwann, wenn du alt genug bist, wirst du es wohl oder übel erfahren müssen. Mach dir keine Sorgen, ja? Und wie es aussieht, wirst du den nächsten Flieger nach Griechenland nehmen. Er fliegt übermorgen“, sagte Mam. „Ja, so leid es mir tut, aber ich werde nach Griechenland ziehen. Ich will endlich Grandma kennen lernen“, rief Irina und ging auf ihr Zimmer. Erschöpft warf sie sich auf ihr Bett und kritzelte in ihr Notizbuch:

Ich fliege übermorgen nach Griechenland.

Dann holte sie ihren Trolly aus dem Kasten. Sie warf alle ihre Klamotten hinein. Obendrauf kamen ihr Notizbuch, „Eine für vier“, „Der Blaubeersommer“, „Oliver Twist“ und alle anderen Bücher die sie besaß packte sie in einen zweiten Trolly.
„Mist, das geht sich nicht aus“, fluchte sie und holte Daddys größten Trolly. Hier kam noch der Rest ihrer Bücher, etliche Fotos von Bailey, Mam und Daddy, ein paar Filme, ihr Lieblingskulischreiber, ihr Stoffhund Bimbo, ihr gesamtes Ersparnis, ihr Kalender, ihr Toilettebeutel und schließlich noch ihr Handy hinein. Dann stellte sie alle drei Trollys und ihre Handtasche auf den Gang. Plötzlich packte Irina Heimweh, obwohl sie noch zu Hause war. Sie warf sich auf ihr Bett und heulte hemmungslos. „Was ist bloß los mit mir? Will ich nach Griechenland oder nicht?“, dachte sie. Schließlich entschied sie, dass sie eindeutig nach Griechenland wollte. Ihre Eltern durften auf keinen Fall wissen, dass sie geheult hatte. Schnell wusch sie sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.


Kapitel 2


Irina, Alice und Mortimer standen im Flughafen. Irina drückte jedem einen Kuss auf die Wange und stieg ins Flugzeug. Ihre Eltern heulten. Beide hatten Taschentücher in den Händen und winkten. Irina setzte sich auf ihren Platz. Sie sah ihre Eltern durchs Fenster. Sie winkten noch immer. Einmal winkte sie zurück und wandte sich ab.
Wenig später startete das Flugzeug. „Alles anschallen!“, verkündete eine Stimme durch einen Lautsprecher. Auf dem Fernseher vor jeder Sitzgarnitur, die aus drei Sitzen bestand, stand das gleiche geschrieben. Gehorsam nahm Irina den Gurt. Aber irgendwie schaffte sie es nicht, sich anzuschnallen. „Soll ich dir helfen?“, fragte plötzlich eine Stimme neben ihr. Irina drehte sich erstaunt um. „Ich heiße Meggie und habe gesehen, dass du Hilfe brauchst. Kann ich dir helfen?“, fragte das schwarzhaarige Mädchen noch mal. Sie hatte sich neben Irina hingesetzt und ihr Buch zugeschlagen. „Eine für vier“ stand darauf. Verwirrt starrte Irina das Mädchen an. „Soll ich oder nicht? Das Flugzeug startet gleich!“, fragte sie zum dritten Mal. „Ja, ja, bitte. Das Buch habe ich auch“, stotterte Irina. Meggie nahm Irinas Gurt und schnallte sie an. „Danke“, bedankte Irina sich. „Wo fliegst du hin?“, wollte Meggie wissen. „Nach Griechenland zu meiner Grandma. Und du?“ „Nach Griechenland zu meinen Eltern. Wir sind Griechen und ich war bei meiner Tante in Amerika. Wie lange bleibst du bei deiner Grandma?“ „Für immer. Meine Eltern haben sich scheiden lassen und jetzt ziehe ich zu ihr“ „Deine Eltern haben dich weggegeben? Das würden meine nie tun!“ „Nein, natürlich nicht. Ich sollte mich entscheiden bei wem ich wohne. Und plötzlich kam ein Brief von Grandma, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Spontan habe ich mich entschieden, zu ihr zu ziehen“ „Ach so. Und deine Eltern waren gar nicht traurig?“ „Doch sicherlich. Ich kenne Grandma gar nicht mal“, erklärte Irina, während das Flugzeug los rollte. Es hob ab und einige Gäste kreischen. Irina wurde schlecht. „Es ist mein erster Flug“, flüsterte sie leise. „Das hätte ich mir schon denken können, als du dich nicht anschnallen konntest. Wie heißt du überhaupt?“ „Irina.“ „Schöner Name, kommt mir irgendwie bekannt vor.“ „Danke.“ „ Ich habe sechs Brüder und eine Schwester. Und du?“ „Ich hatte einmal eine Zwillingsschwester. Aber die ist gestorben als wir beide fünfzehn waren. Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Ich bin noch immer nicht über diesen scheußlichen Selbstmord hinweggekommen“ „Oh, dass tut mir leid. Wie hieß sie denn?“ „Bailey. Genauso wie meine Grandma“ „Wirklich? Ich glaube, ich kenne sie. Sie war vor einem Jahr oft in Griechenland. Wegen ihrem Freund. Er ist mein Bruder Timitri“ „Du kennst Bailey? Sie hatte einen Freund?“ „Ja. Sie ist fast jedes Wochenende mit dem Flieger gekommen. Manchmal erzählte sie von ihrer Zwillingsschwester Irina. Das musst du sein, nicht wahr?“ „Ja, genau. Ich kann mich wieder erinnern, dass Bailey vor ihrem Tod oft weg war. Meine Eltern sagten mir nie, wohin sie gegangen war“ „Bailey war meine beste Freundin. Sie war sehr schwach, doch das störte sie nie. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich das Leben nehmen würde. Bevor sie nie wieder zu uns nach Griechenland kam, hatte sie ziemlichen Streit mit meinem Bruder. Vielleicht hat sie deswegen Selbstmord begangen“ „Das kann sein. Meine Eltern haben mir nie etwas von Baileys Reisen nach Griechenland, von Grandma und von überhaupt nichts etwas erzählt. Das ist eine bodenlose Gemeinheit!“ „Tja, aber das hat sicher irgendeinen Grund“, erklärte Meggie.
Irina warf einen Blick aus dem Fenster. Sie flogen gerade über den Ozean. Eine Weile schwiegen die Beiden. Dann fragte Irina: „Wie alt bist du?“ „Sechzehn, fast siebzehn. Möchtest du wissen wie meine Geschwister heißen?“ „Ja, das wäre toll. Das sind sicher griechische Namen, nicht?“ „Ja, natürlich. Ich zähle sie dir auf: Adam ist der älteste, er ist 22. Dann kommt Christos mit 18. Als nächstes geboren ist Michail mit 17. Andrea ist 15. Timitri, dessen Namen ich schon erwähnt habe ist 19.
Mein jüngster Bruder ist Philipos mit 5. Meine Schwester heißt Athina und ist 3. Und wie alt bist du?“ „Auch fast siebzehn“, antwortete Irina.
Plötzlich drehte sich das Flugzeug und alle Passagiere kreischten wie wild. „Oh nein! Das Flugzeug stürzt ab!“, schrie Meggie. Irina hielt sich die Hände vor das Gesicht. Sie kreischte. „Unter ihren Sitzen finden sie aufblasbare Schwimmwesten. Holen sie sie bitte hervor und ziehen sie sich an. Ziehen sie an der Schnur, durch die sie sich automatisch aufbläst. Bitte Ruhe bewahren. Setzen sie nun die Sauerstoffmasken auf, die sie über ihren sitzen finden. Nun warten sie, bis das Flugzeug unter Wasser gleitet. Alle Passagiere sollen dann die Wasserrutsche ins Freie rutschen. Keine Panik“, verkündete eine Stimme aus einem Lautsprecher. Zitternd holte Irina die Jacke unter ihrem Sitz hervor und legte sie sich um. Schnell zog sie an der Schnur. Dann nahm sie die Sauerstoffmaske und setzte sie auf. „Oh nein!“, schrie Meggie. „Unter meinem Sitz ist keine Schwimmweste und die Sauerstoffmaske ist auch nicht da!“ Irina bekam es mit der Panik zu tun. Sie rief: „Hilfe! Meine Freundin hat keine Sauerstoffmaske und keine Schwimmweste! Was sollen wir tun?“ Eine Stewardess, die ebenfalls schon Sauerstoffmaske und Schwimmweste trug, kam angelaufen. „Oh nein! Wir sind davon ausgegangen, dass kein Unfall passieren wird und haben keine mehr nachgefüllt!“, schrie sie. „Was sollen wir tun?“, kreischte Irina noch mal. „Keine Ahnung!“, fluchte die Stewardess. „Sie wird sterben, wenn wir nichts tun!“, rief Irina. Die Stewardess zog ein Headset aus ihrer Tasche. „Bei einem Sitz befinden sich weder Sauerstoffmaske noch Schwimmweste. Haben wir Ersatz an Bord?“, gab sie durch. „Keine Ahnung, ich schau mal nach“, antworte der Pilot. „Nein. Wir haben keine. Was sollen wir bloß tun?“ „Ich weiß es nicht“, fluchte die Stewardess.
Doch für alles wäre es zu spät gewesen, denn in diesem Moment stürzte das Flugzeug ins Wasser. Die Türen öffneten sich und die Passagiere rutschten nach und nach ins Wasser. Irina fühlte, dass sie atmen konnte. Sie zog Meggie mit. Meggie japste nach Luft. „Sie wird sterben!“, dachte sie verzweifelt. So schnell sie konnte, rutschte sie ins Freie. Sie packte Meggie noch fester am Handgelenk. Die beiden waren unter Wasser. Irina tauchte mit Meggie Richtung Oberfläche. Meggie war bereits ohnmächtig. „Ich muss mich beeilen. Meggie liegt im Sterben. Wenn ich nichts tue, bin ich Schuld“, dachte sie panisch. Plötzlich bemerkte sie, dass sie mit Meggie keinen Zentimeter weiter nach oben kam, weil diese und die Maske so schwer waren. „Oh nein. Ich stecke in der Falle“, dachte sie ängstlich. Neben ihr war plötzlich ein alter Mann. Er schnappte Meggie und schob sie nach oben. Irina packte Meggie erleichtert noch fester am Handgelenk und half dem Alten. Endlich gelangten die drei an die Oberfläche. Dort stand bereits ein Rettungsboot. Die Beiden schoben Meggie an Bord und kletterten nach. Wenig später kamen Notärzte auf Schnellbooten angedüst. Sie nahmen Meggie mit ins Spital in Athen.
Irina machte sich Sorgen um Meggie. Ob sie wohl überleben würde? Schließlich fuhr das Rettungsboot mit den Passagieren des Flugzeuges nach Samos. Am Hafen ging es mit dem Bus weiter zum Flughafen. Dort wartete schon Grandma Bailey auf Irina.
„Irina, Schätzchen bist du groß geworden! Wahnsinn! Ich habe gehört, ihr seid abgestürzt. Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt. „Ja, Grandma. Es war halb so schlimm. Ein Mädchen, das ich beim Flug kennengelernt habe, hatte nicht einmal Sauerstoffmaske und Schwimmweste an. Sie liegt jetzt im Spital in Athen“, erzählte Irina. „Oh, mein Gott! Sei froh, dass dir das nicht passiert ist“ „Bin ich eh. Das Mädchen hat erzählt, dass Bailey früher jedes Wochenende zu dir nach Griechenland flog, um ihren Freund Timitri, einen Griechen, zu sehen. Das Mädchen heißt Meggie und ist die Schwester von Timitri“ „Ach ja, Meggie. Sie ist die Tochter meiner Nachbarn. Komm, lass uns nach Hause fahren“, beschloss Bailey. Beide stiegen in Baileys Auto.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen Zwillingen.

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