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Einfach nur zuhören.

Ich bin alleine durch die Straße gegangen. Niemand war bei mir.
Das war wieder mal klar. Keiner brauchte mich. Mich und mein dummes Gerede.
"Ohne dich wären alle viel besser dran". Ich höre noch ihre Stimmen.
Mums Stimme. Die Stimme von Carmen, meiner Ex-besten Freundin.
Jetzt gibt es Carmen nicht mehr. In meinem Leben gibt es sie nicht mehr.
Sie sitzt in der Bankreihe vor mir.
Wir existieren dennoch für einander nicht.
Seit damals, als sie mich verraten hatte. Alle meine Geheimnisse.
Ich hatte ihr wirklich alles anvertraut. Mein ganzes Leben.
Die Sorgen, die ich hatte. Die Leere in meinem Kopf.
Wie ich mich fühlte, wenn mich die anderen einfach nicht beachteten.
Warum ich meine Eltern so sehr hasste.
Wie mein Vater mich schlug.
Mein ganzer Körper war voller blauer Flecken davon.
Carmen war die einzige, die das wusste. Und Mum. Aber das scherte sie einen Dreck.
Es war ihr egal. Hauptsache, ihr Mann ließ die Fäuste von ihr und ließ seine Wut nur an seinen Kindern aus.
Meine Schwester Lucy war seine Lieblingstochter. Sie bekam nie etwas ab.
Doch wenn mein kleiner Bruder Tim, mein älterer Bruder Billy und ich geschlagen wurden, lachte sie nicht.
Sie kam zu uns und nahm uns in den Arm. Wiegte uns leicht hin und her. Tröstete uns.
Lucy war das Licht in meinem Leben. Das Licht in der Dunkelheit.
Früher hatte es noch einen Menschen gegeben, den ich liebte.
Victor.
Er war derjenige, der mich in den Arm nahm und leicht über meinen Arm strich, wenn ich mal wieder auf seiner Bettkante saß und weinte. Er verstand mich. Er sagte nie etwas, flüsterte mir nur die schönsten drei Worte die es gibt ins Ohr.
"Ich liebe dich".
Victor verstand mich wirklich. Immer war er so lieb zu mir.
Verstand mich wortlos.
Er war mein erster Boyfriend und sollte der einzige bleiben.

Doch eines Tages zog ich meine grüne Tasche unter dem Bett hervor und hängte sie mir über die Schulter.
So schnell ich konnte, lief ich in Lucys Zimmer, sperrte ab und umarmte sie noch einmal.
"Nein.", weinte sie verzweifelt. "So etwas darfst du nicht machen. Das kannst du mir nicht antun."
Ich nickte nur mit tränennassem Gesicht und lief schnell zur Tür.
Der Weg zu Victor war nicht weit.
Ich nahm Buslinie 4 und setzte mich ganz hinten hin, damit der Fahrer nicht bemerkte, wie ich weinte und mich vor lauter Verzweiflung mehrmals übergab.
Endlich war ich da.
"Nur nicht die Tasche vergessen", ermahnte ich mich.
Dann stieg ich aus und hetzte zu seinem Haus.
Zum Glück war er zu Hause.
Er nahm mich in den Arm, strich mir über die Haare und küsste mein nasses Gesicht.
"Jetzt wird alles gut", flüsterte er beruhigend in mein Ohr.
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
Oben in seinem Zimmer öffnete ich meine grüne Tasche.
Und nahm die Rasierklinge heraus, die ich meinem Vater geklaut hatte.
"Ich kann nicht mehr", weinte ich in sein T-Shirt.
"Nein, Schatz. Es gibt immer einen besseren Ausweg als Selbstmord. Ich will dir helfen"
Er klang wütend, ich merkte aber, dass er nicht auf mich sauer war.
Sauer war er auf meinen Vater.
"Dieses Arschloch. Ich will dem ganzen ein Ende bereiten."
Victor stand auf und lief aus dem Haus. Ich ihm nach.
Wir rannten den ganzen Weg bis zu mir nach Hause.
Und ich wusste, was er vorhatte.
Als wir ankamen, saß Dad vor dem Fernseher, drei leere Flaschen Bier vor ihm, eine halbvolle in der Hand.
Er sah uns belustigt an.
"Hab ich dir denn nicht gesagt, dass du keine Jungen nach Hause bringen darfst", zischte er scharf.
Da konnte Victor sich nicht mehr zurückhalten. Er zog die Rasierklinge aus seiner Hosentasche und stürzte sich damit in der Hand auf meinen Vater.
Dieser lächelte nur herablassend, zog seine Pistole und schoss damit auf meinen Freund.
Victor war sofort tot.
Ich schrie auf vor Entsetzen und wollte weglaufen.
Doch Dad hielt mich fest und schlug mir mitten ins Gesicht. Mit der Bierflasche.
Es brannte höllisch. Mehr weiß ich nicht mehr. Ich wurde ohnmächtig.

Am Tag danach wachte ich auf. Ich lag in Lucys Zimmer, in ihrem Bett und hatte ein Coolpack auf meiner Beule.
Sie saß neben mir und musterte mich besorgt.
Als es mir besser ging, fuhren wir mit Victors Leiche zum Fluss und begruben ihn dort.
Ich weinte.
Dann nahm ich das Fahrrad und wollte Carmen um Rat fragen.
Doch sie war nicht zu Hause. Sie war nie zu Hause, wenn ich sie brauchte.
Am Abend rief ich sie an und erzählte ihr alles.
Carmen lachte nur spöttisch und meinte: "Dachtest du wirklich, mir hätte es nichts ausgemacht, dass du mich total vernachlässigt hast, wegen [i]Victor[/i]? Da hast du dich gehörig getäuscht. Fahrt doch zur Hölle. Mir egal. Ich brauche dich nicht mehr!" Sie kicherte schadenfreudig.
Dann war nur noch dieses scheußliche Piepsen in der Leitung zu hören. piep-piep-piep-piep-piep.
"Nein. Nein. Das darf nicht wahr sein.", keuchte ich.

Das alles war mir zuviel.
So schnell ich konnte, lief ich aus dem Haus, lief durch die Stadt und in den angrenzenden Wald hinein.
Ich wusste, dort gab es eine Klippe.
Als ich dort ankam, wünschte ich mir noch ein letztes Mal, sie hätten mir doch zugehört.
All die Lehrer, denen ich meine Probleme anvertrauen wollte. Einfach alle.
"Hört mir doch zu!", rief ich hinunter.
Im Wald war es auf einmal still. Nicht mal ein Vogel zwitscherte.
Die Zeit stand still.
"Hättet ihr mir doch zugehört.", flüsterte ich nun.

Dann stieß ich mich ab und sprang in die Tiefe.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen, die ähnliches wie die Hauptperson durchmachen müssen.

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