An Heiligabend stirbt man nicht (eine Erzählung)
All die Jahre hatte ich es geschafft, mich vor dem Weihnachtsdienst zu drücken. Was für ein Graus, die Feiertage auf einer Intensivstation zu verbringen anstatt mit seinen Liebsten daheim zu sein. Gemütlich in der warmen Wohnung, bei Kerzenschein.
Ein Potpourri von Adventsdüften in der Nase. Es duftet nach Keksen und Tannenbaum, nach Nelken und Mandarinen. Aus dem Ofen wabbert, ganz genüsslich, der Duft nach weiteren Leckereien in die Küche. Glockenhelle Stimmen eines Weihnachtslieder singenden Kinderchores hört man aus dem Kinderzimmer.
Weihnachtsdekoration, bestehend aus bunten Elchen und Elfen, Merry X-mas Anhängern und bunten Kugeln schmücken die Wohnung. Auf einer Kommode stapeln sich schon die ersten verzierten Geschenke in Krepp oder Papier, gestreift oder gepunktet, mit Schleifen und Anhängern, die Kinderaugen groß und glänzend werden lassen. Und dieses Jahr sollte es anders werden.
Am 22. Dezember begann mein Dienst. Sieben Tage lang würde mich nun der Geruch von Desinfektionsmittel und Krankenhaus umgeben. Anstatt Kerzenschein würden nun die Neonröhren hart von der Decke strahlen. Anstatt Glöckchen klingen und Weihnachtsmusik würde mich jetzt acht Stunden am Tag die allgegenwärtige Melodie einer Intensivstation umgeben. Ein Bimmeln und Klingeln, ein Sirren und Summen, verursacht von den unterschiedlichsten Geräten und Maschinen. Der stetige Pulston der Überwachungsmonitore oder das Alarmieren der Heizungstöpfe und Beatmungsmaschinen. “Ich mag nicht gehen. Ich habe so ein ganz komisches Gefühl im Bauch. So als würde ich es noch bereuen, den Weihnachtsdienst gewählt zu haben.“ „ Ach was“ sagte mein Freund „das wird bestimmt ganz locker. Ist doch bestimmt nicht viel los. Und wenn du wieder zu Hause bist habe ich alles für das Familienessen eingekauft und die ersten Vorbereitungen erledigt.“
Auf Station angekommen und umgezogen, mache ich mich auf den Weg in den Schwesternstützpunkt. Sieht doch gar nicht so voll aus, denke ich mir, bei einem ersten prüfenden Blick über die Monitore. Nur ein schwerkrankes Kind, bei dem es nötig ist, alle Vitalparameter zu erfassen. Als nach einer kurzen Übergabe alle Kinder aufgeteilt sind, wird mir klar, dass ich das kranke Kind bekomme. Beim Betreten des Zimmers schlägt mir schon eine warme Brise entgegen. Abgestandene Luft von elektronischen Geräten.
Schon der erste Blick der durchs Zimmer schweift, lässt nichts Gutes vermuten.
Alles was die moderne Medizintechnik zu bieten hat, ist in diesem Zimmer vertreten. Einer ersten Einschätzung nach befinden sich rund um das kleine Kinderbett mindestens 20 Spritzenpumpen, ein Dialysegerät, eine Beatmungsmaschine, ein spezielles Gerät welches das Herz entlastet und den Körper zusätzlich mit Sauerstoff versorgt und noch vieles mehr. Völlig verängstigt und verloren sitzt zwischen all den Gerätschaften ein schier unglaublich traurig wirkendes junges Paar. Die Eltern. Ich stelle mich freundlich als die betreuende Schwester vor und schaue mir genauer das Kind an. Auf einem Bett, welches als Bett nur durch die darauf liegende Matratze zu erkennen ist, liegt ein Neugeborenes. Ein kleiner Junge. Ich sage: „Hallo du, ich heiße Katja. Die nächsten Tage werde ich immer für dich da sein und dich versorgen, so gut ich kann.“ Die Eltern lächeln dankbar in meine Richtung. Ich lächele aufmunternd zurück. Dabei ist mir eigentlich selber mulmig zumute, denn nach dem Studium der Patientenkurve, dem hohen Bedarf an Medikamenten und dem dennoch schlechten körperlichen Zustand des Kindes fühle ich mich eher zum Heulen. Genau so ein Kind zur Wehnachtszeit, wo man doch eh schon in einer eher melancholischen Stimmung ist. Es fällt mir schwer den Eltern ins Gesicht zu sehen. Zum einen, damit sie ja nicht erahnen, wie schlecht es um das Leben ihres Kindes steht und zum anderen um mein tiefes Mitgefühl nicht spürbar werden zu lassen.
Abends gehe ich Heim und fühle mich elend. Meine Gedanken kreisen immerzu um das kranke Kind. Zum ersten Mal seit langem verlässt mich die Arbeit auch nicht im Traum. Nachts schlafe ich so schlecht und wache immer wieder auf, dass ich mich um vier Uhr entschließe, auf zu stehen und zur Arbeit zu gehen. Schon wieder habe ich ein seltsames Gefühl. Um Punkt 5 Uhr morgens komme ich auf der Station an. Es ist der 23. Dezember. In meinem Zimmer finde ich ein komplettes OP-Team vor welches gerade notfallmäßig den Brustkorb meines Schützlings eröffnet hat um eine unklare Blutung zu stillen.
Mit Mundschutz, Haube und Kittel schaue ich voller Entsetzen auf den kleinen Körper unter all den sterilen Tüchern. Der Herzchirurg schüttelt immer wieder nur den Kopf. Wie gebannt schauen wir alle auf das babyfaustgroße Herz und die kleine weiße Lunge die immer wieder mechanisch aufgepumpt wird und dann in sich zusammenfällt. Obwohl beide Organe gerade erst frisch entwickelt und zum Sprung in das Leben bereit sein sollten, wirken sie wie alte Möbel, die unter jeder Bewegung vor Anstrengung zu ächzen scheinen. Die ganze Zeit starre ich auf den kleinen Körper und frage mich wie weit man wohl noch gehen wird. Ich frage den Chirurgen : „Und, wie sieht es aus? Alles OK?“ „Nichts ist OK! Ich glaube das wird ein böses Ende nehmen.“ Als alle verschwunden sind versuche ich mir zu überlegen, was ich den Eltern sagen könnte. Ich mag ihnen etwas Nettes sagen, etwas worüber sie sich freuen. Es ist ja schließlich morgen Weihnachten. Ich habe das Gefühl als wäre ich es ihnen schuldig. Mir fällt aber nichts Positives ein.
Der kleine Zwerg beginnt zu bluten. Aus allen Körperöffnungen. Egal was wir machen, es wird nicht besser. Die Therapie wird immer extremer. Die Eltern wirken heute noch hilfloser als gestern. Ich denke ich werde einfach ehrlich zu ihnen sein.
Aber ich trau mich nicht, ihnen zu sagen, wie krank ihr Kind ist. Auch die Ärzte drücken sich davor. Ich frage die Eltern, ob sie das Kind mit mir pflegen möchten. „Kommen, sie, seien sie mutig. Sie dürfen ihm die Augen sauber machen, den Mund mit Teestäbchen befeuchten und ihm durch die Magensonde etwas Tee füttern.“ Nach der Prozedur weint die Mutter. „Danke! Obwohl unser Sohn schon 10 Tage alt ist, haben wir noch nie seine Augenfarbe gesehen.“ Sie weinen und gehen, sich in den Händen haltend. Ich freue mich, dass ich ihnen wenigstens eine kleine Freude bereiten konnte. Auf dem Heimweg bin ich traurig. Ich muss immerzu an die Familie des kleinen Jungen denken. Eigentlich tu ich mir auch ein wenig leid. Denn Weihnachten ist für mich und meine Familie gelaufen. Nie im Leben könnte ich abends gelassen Feiern und Geschenke verteilen, wenn ich tagsüber so ein Leid mitbekommen habe.
Der 24. Dezember. Endlich wird beschlossen die Therapie zu beenden. Ich bitte unseren Oberarzt die Geräte noch morgens auszustellen. „Bitte, lassen sie uns alles so schnell wie möglich machen. Wir können kein Kind an Heiligabend sterben lassen während es draußen dunkel ist, überall die Kerzen brennen. Das können wir den Eltern nicht antun. An Heiligabend stirbt man nicht. Lassen sie es uns jetzt tun. So können die Eltern am Vormittag um den kleinen Moritz trauern und falls noch Geschwister da sind, gehört der Abend der Familie.“ Da so schnell kein Pfarrer verfügbar ist übernehmen wir Schwestern die Taufe. Ich halte Moritz kleine Hand und mit der anderen Hand streichele ich seinen Kopf. Alle weinen. Ich halte seine Hand so lange bis sein Herz nicht mehr schlägt und seine Lunge nicht mehr atmet.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2008
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