Lars Römer sitzt an seinem Tisch, der hübsch mit Tannenzweigen und Teelichthaltern in Nikolausform dekoriert ist, beobachtet das Treiben um ihn herum und stellt nicht zum ersten Mal an diesem Abend fest: Ich hasse Weihnachtsfeiern!
Schon die Nikolauspartys in seiner Schule waren ihm ein Gräuel, ganz zu schweigen von den späteren Studentenfeiern, bei denen es häufig dazugehörte, untereinander kleine Wichtelgeschenke auszutauschen. Einmal, so erinnert sich Lars, hat er sich wirklich die Mühe gemacht und darüber nachgesonnen, welches Präsent den oder die Beschenkte am meisten erfreuen würde. Letztendlich hat er den 10-Euro-Schein – teurer durfte das Wichtelgeschenk nicht sein – einfach in Alufolie zusammengerollt. Das Mädel, das sein Geschenk bekommen hat, schien allerdings nicht allzu erfreut gewesen zu sein.
Auf seiner ersten Arbeitsstelle wurden die Weihnachtsfeiern von den Mitarbeitern selbst organisiert, meistens traf sich nur ein kleiner Kreis, dem Lars von Anfang an fern geblieben war. In seiner jetzigen Firma läuft es jedoch ganz anders. Die Feier ist für leitende Angestellte Pflicht, genau wie das gemeinsame Wochenende im Sommer, das zur Verbesserung der Team-Struktur dienen soll. Jochen, ihr Chef, ist ein bekennender Fan von diesem psychologischen Firlefanz. Er hat auch kein Problem damit, dass das Wochenende seinen Mitarbeitern meist nur zur Verbesserung ihrer Handicaps dient. Und da das Golfhotel sehr gut von allein stehenden oder zumindest allein reisenden Damen frequentiert wird, kann man sich ja denken, was die Kollegen sonst noch alles trainieren.
„Prost“, sagt Lars zu sich selbst und kippt den Rest seines Whiskys hinunter. Eine aufmerksame Angestellte der Cateringfirma kommt sofort angetänzelt und fragt, ob er Nachschub möchte. Sie trägt ein furchtbar kitschiges Elfenkostüm, immerhin kommen ihre hübschen Beine darunter recht vorteilhaft zur Geltung. Was sie wohl an einem Abend wie diesem verdient? Lars verzichtet auf die Frage, stattdessen nickt er, stellt das Glas auf ihr Tablett und lächelt etwas länger als nötig. Sie wird unsicher und zieht sich mit einem „Bin gleich wieder da“ aus der Affäre.
Lars starrt auf ihren Hintern, als sie zum Buffet tänzelt. Die Cateringfirma wird schon lange von ihnen verpflichtet, aber das Mädel ist neu, Lars hätte sich garantiert an sie erinnert. In den vergangenen drei Jahren hat er sich die öden Weihnachtsfeiern dadurch versüßt, dass er entweder eine dieser Elfen oder eine Praktikantin ihrer Firma verführt und mit ihr eine heiße Nummer auf der Damentoilette geschoben hat. Er ist bei Weitem nicht der Einzige, und auch nicht der einzig Verheiratete, der sich auf diese Art amüsiert. Trotzdem hat ihn jemand bei seiner Frau angeschwärzt, Lars vermutet stark, dass es Frau Marten, die alte Schachtel aus der Buchhaltung, gewesen ist. Letztes Jahr und nach etlichen Eckes Edelkirsch hat sie doch tatsächlich versucht, bei ihm zu landen. Er hat sie, selbst nicht mehr nüchtern, ausgelacht und sich stattdessen mit der ihr direkt unterstellten Praktikantin amüsiert. Eine Stunde später ist wie aus dem Nichts seine Frau aufgetaucht, als er mit dem Mädel gerade auf dem Weg zu den Toiletten war.
Seine Ehe war schon lange nicht mehr die beste, seine Frau wusste längst, oder ahnte zumindest, von seinen zahlreichen Seitensprüngen. Diesmal wollte sie endgültig die Scheidung und es kostete ihn Wochen, um die Sache wieder hinzubiegen. Er empfand tatsächlich Reue, als er ihr einen Diamantring kaufte – das dazugehörige Collier war ihm dann doch zu teuer – und er schwor sich, in Zukunft treu zu sein und vor allem weniger zu trinken. Sein Vorsatz hielt bis zum Firmenwochenende im Sommer, allerdings hatte ihm weder das Saufen mit seinen Kollegen noch das Vögeln mit einer angeblich verwitweten und offenbar gut betuchten Bankiersfrau sonderlich viel Freude bereitet.
Die kleine Elfe von der Cateringfirma kommt zurück und bringt ihm seinen Whisky. Lächelnd fragt sie ihn, warum er nicht drüben bei den anderen ist. Sie haben den Beamer und die Karaokemaschine angeworfen, der größte Teil seiner Kollegen steht johlend im Halbkreis, während sein Chef Jochen mit Alex aus der Kundenbetreuung eine recht grauenhafte Version von „Last Christmas“ zum Besten gibt.
Lars verzieht das Gesicht, das Mädchen lacht. „Kein Interesse“, sagt er und fügt beinahe gegen seinen Willen hinzu: „Wie wäre es, wenn du mir ein bisschen Gesellschaft leistest?“
Ihr Lachen wird zum albernen Kichern, Lars fragt sich einen Moment, ob sie überhaupt schon achtzehn ist. „Ich muss noch arbeiten“, erklärt sie bedauernd.
„Komm schon“, erwidert Lars und wundert sich, wie ernst er klingt. „Trink etwas mit mir. Ihr sollt euch doch um die Gäste kümmern, oder nicht?“
Ihr Blick verändert sich. Wird kokett. Sie weiß, dass sie sein Interesse geweckt hat. „Okay … aber nur einen Drink, ja? Dann muss ich wirklich weitermachen.“
Wieder starrt er ihr nach und überlegt sich dabei, mit welchem Getränk sie wohl zurückkommt. Er tippt auf Hugo oder Aperol Spritz.
„Mhm … das sind ja hübsche Aussichten“, sagt jemand mit ironischer Stimme hinter ihm. Lars dreht sich nicht um. Er weiß, dass es Marc ist, sein Arbeitskollege, der sich jetzt neben ihn setzt und seinen Punsch auf dem Tisch abstellt. Sie verstehen sich gut, wären wahrscheinlich schon so etwas wie Freunde geworden, wenn sie nicht für dieselbe Firma arbeiten und um dieselben Prämien konkurrieren würden. Sie sind etwa im gleichen Alter, allerdings ist Marc im Gegensatz zu ihm immer noch Single und scheint auch keinerlei Interesse zu haben, an diesem Zustand etwas zu ändern.
„Es lässt sich aushalten“, ist Lars' einziger Kommentar.
Marc sieht reichlich albern aus mit seiner Weihnachtsmütze, die er wie fast jeder andere im Raum auf dem Kopf trägt. „Ja, das sehe ich. Scheinst ja mal wieder in allerbester Weihnachtsstimmung zu sein. Warum kommst du nicht mit nach drüben?“
„Weil ich keine Lust auf Ohrenkrebs habe?“, schlägt Lars genervt vor. „Das Gegröle ist von hier aus schon kaum zu ertragen.“
Marc lächelt. Er kennt das bereits. „Nach drei Gläsern Punsch lässt es sich halbwegs aushalten. Aber ich sehe schon, du bist wie üblich auf eine andere Art der Unterhaltung aus.“
Sein Blick hängt unverwandt an der jungen Angestellten. Lars fühlt sich ertappt. „Hast du ein Problem damit?“
Marcs Lächeln wirkt überheblich. „Ich nicht. Möglicherweise deine Frau, aber das geht mich ja nichts an.“
„Ganz recht“, entgegnet Lars und kippt seinen Whisky. Der Anflug von schlechtem Gewissen, den er verspürt, macht ihn noch wütender. „Es geht dich nicht das Geringste an. Und die Rolle des Moralapostels steht dir absolut nicht. Wie alt war die Kleine, mit der du am Firmenwochenende gevögelt hast?“
Marc ist vollkommen unbeeindruckt. „Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig“, erklärt er leichthin. Das „im Gegensatz zu dir“ muss er gar nicht extra erwähnen.
Lars nimmt einen weiteren Schluck, sein Glas ist schon wieder leer. Er schaut nach seiner Elfe, sie steht am Buffet und scheint sich nicht her zu trauen. Auf einmal kommt ihm die ganze Situation nur noch absurd vor. Was zu Hölle macht er eigentlich hier? Die Frage ist recht leicht zu beantworten: Er ist wieder einmal auf dem besten Weg, seine Ehe zu riskieren. Seine Frau wollte ihn gar nicht erst auf die Feier lassen, sie haben gestritten und wahrscheinlich wird sie morgen früh seine Sachen akribisch nach verdächtigen Spuren untersuchen. Soll er es wirklich darauf ankommen lassen?
„Nein“, sagt Lars laut. Er steht auf und sieht seinen Arbeitskollegen an. „Ich verschwinde. Jochen hat gesehen, dass ich da war, mittlerweile ist er wahrscheinlich viel zu besoffen, um noch etwas mitzukriegen. Wir sehen uns am Montag.“
Er nimmt sein Jackett von der Stuhllehne, zieht es über und holt seine Autoschlüssel aus der Tasche.
„Du willst jetzt aber nicht noch fahren?“, fragt Marc alarmiert.
„Klar, warum nicht?“
„Weil du hier in deiner Ecke einen Whisky nach dem anderen gekippt hast, deswegen! Du bist sturzbetrunken!“
Lars will sich durch die Haare fahren, dabei wird ihm erst bewusst, dass er selbst so eine idiotische Weihnachtsmütze trägt. Alex aus der Kundenbetreuung hat sie ihm aufgesetzt, als er gekommen ist. Er pfeffert sie auf den Tisch. „Ach ja? Ich glaube, das kann ich besser beurteilen als du, oder?“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Marc zückt sein Handy und erklärt versöhnlicher: „Komm schon, ich rufe dir ein Taxi.“
Lars blickt entgeistert auf seinen Kollegen. „Bist du selber betrunken oder hilft dir diese Samariter-Nummer, um bei den Weibern zu landen?“
Marc macht ein unschuldiges Gesicht. „Man wird doch auch mal nett sein dürfen! Schließlich ist Weihnachten!“
„Das wird dieses Jahr abgeschafft“, grummelt Lars und verlässt mit großen Schritten die Feier, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Das Mädchen am Buffet sieht ihm bedauernd nach.
Wenige Minuten später sitzt er in seinem Wagen und fährt die Landstraße entlang, er weiß, dass er zu schnell ist, aber das ist ihm egal. Seine Wut scheint mit jeder Sekunde größer zu werden. Er ist wütend auf seinen Kollegen, wütend auf seinen Chef und zu einem guten Teil auch wütend auf sich selbst. Warum fällt es ihm so schwer, sich auf solchen Feiern zu amüsieren? Was ist denn schon dabei? Warum ist er mit Marc nicht zurück zu den Kollegen gegangen? Schlechter als sein Chef singt er garantiert nicht. Vielleicht hätte Alex aus der Kundenbetreuung ja auch mit ihm ein Liedchen geträllert.
Wenigstens, denkt Lars, hätte er sich an Marcs Vorschlag halten und ein Taxi nehmen können. Als er nach draußen an die frische, kühle Luft gekommen ist, hat er erst gemerkt, wie schwummrig ihm war. Er hat sein Handy schon in der Hand gehabt, es dann aber doch wieder eingesteckt. Sein Wagen ist neu, Lars hat ihn erst seit einer Woche, er ist wahnsinnig stolz darauf und hat keine Lust, ihn hier irgendwo unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Und er hat auch keine Lust, morgen, am Sonntag, mit dem Taxi zurück zu kommen und das Auto zu holen. So weit ist es schließlich nicht. Und er kennt die Strecke gut.
Als das Waldstück beginnt, geht er etwas vom Gas. Nebel hat sich zwischen den Bäumen gebildet und die Anzeige auf dem Armaturenbrett warnt ihn blinkend, dass die Außentemperatur auf 0°C gefallen ist. Lars macht sich keine Sorgen, die Straßen sind halbwegs trocken. Trotzdem herrscht eine komische Stimmung. Die Buchenstämme reflektieren das Licht der Scheinwerfer, es wirkt ein bisschen gespenstisch. Nicht, dass Lars Angst vor Geistern hätte … aber so langsam müsste er doch an dem Landgasthof vorbeikommen, der etwa in der Mitte des Waldstücks liegt. Lars schaltet das Fernlicht aus und die Nebelleuchte an, weil er fast nichts mehr sieht. Da taucht endlich das Hinweisschild für den Landgasthof auf, 500 Meter weiter kommt die breite Einfahrt. Lars nickt, als er daran vorbeifährt, und starrt weiter in den Nebel. Ist sowieso ein komischer Winter bisher, sinniert er. Kühl und regnerisch, aber noch nicht eine einzige Schneeflocke, und die Prognosen versprechen für Heilig Abend eher frühlingshafte Temperaturen.
„Wahrscheinlich wird Weihnachten tatsächlich bald abgeschafft“, sagt er laut.
Dann hört er die Geräusche. Ein Klingeln, wie von unzähligen kleinen Glöckchen, die im selben Rhythmus bewegt werden. Ganz deutlich kann Lars ein tiefes, gutmütiges Männerlachen vernehmen. Etwas bricht von links aus dem Wald, er sieht nur einen Schemen, steigt sofort auf die Bremse. Etwas prallt gegen die Motorhaube, der Wagen holpert, dann ein Knall, links vorne. Es dauert Ewigkeiten, bis das Fahrzeug zum Stehen kommt.
„Scheiße“, flucht Lars. Er wiederholt das Wort gefühlte hundert Mal, was nichts daran ändert, dass seine Hände anfangen zu zittern. Sein erster Impuls ist, sofort weiterzufahren. Aber er hat noch gut fünf Kilometer vor sich und offenbar einen geplatzten Reifen, das schafft er nicht, ohne sich komplett die Felge zu ruinieren.
„Also gut.“ Er atmet durch. Er wird aussteigen und nachsehen, was ihm vor den Kühler gelaufen ist, dann wird er den Reifen wechseln und anschließend so schnell wie möglich von hier verschwinden.
„Klingt doch nach einem guten Plan“, sagt er, um sich selbst Mut zu machen. Dabei ist ihm alles andere als wohl zumute.
Als er aussteigt, merkt er, wie wackelig er auf den Beinen ist. Genaugenommen ist ihm kotzübel, aber er versucht, sich zusammenzureißen. Ein Blick auf den linken Vorderreifen bestätigt ihm, dass er platt ist. Der Mantel scheint jedoch nicht stark beschädigt zu sein. Dafür ist die Delle in der Stoßstange nicht zu übersehen. Etwas Helles klebt daran, es sieht wie Fell aus. Oder Haare? Lars erinnert sich an das Lachen, das er gehört hat. „Nein!“, ruft er laut. „Das ist vollkommen unmöglich. Es ist halb eins in der Nacht. Wer sollte …?“
Er vollendet den Satz nicht, stattdessen läuft er an seinem Wagen vorbei in die Richtung, aus der er gekommen ist. Besonders weit kann er nicht sehen, auch nicht abschätzen, wo genau die Stelle des Aufpralls gewesen ist. Er blickt zurück zum Wagen, dem einzigen Lichtpunkt in der dunklen Nebelsuppe. Er kommt sich unglaublich einsam vor in diesem Moment. Im Laufschritt kehrt er zurück, beinahe als würde er befürchten, dass der Wagen plötzlich in der Dunkelheit verschwindet.
Ohne Umschweife öffnet er den Kofferraum. Das Reserverad ist dort, wo er es vermutet hat, was er nicht findet, ist ein Wagenheber. Er durchsucht den ganzen Kofferraum – nichts.
„Das gibt’s doch nicht, verdammt noch mal“, ruft Lars aus. Ihm wird immer mulmiger und er weiß, dass dieses Gefühl nicht vom Whisky kommt. Er überlegt, ob er den ADAC anrufen soll. Der Nachtzuschlag macht ihm keine Sorgen, aber was ist, wenn der Monteur merkt, dass er betrunken ist?
Und was ist, fragt eine nagende Stimme in seinem Hinterkopf, wenn am Montag in der Zeitung steht, dass hier jemand überfahren wurde? Dann wird er dich bestimmt melden!
„Ich habe niemanden überfahren!“, ruft Lars, aber seine Stimme klingt nicht sonderlich überzeugt. Er nimmt sein Handy und wählt eine Nummer aus dem Speicher. Es dauert eine Weile, bis jemand dran geht. Die Stimme klingt besorgt. „Lars? Alles in Ordnung?“
Lars ist erstaunt, wie gut es ihm tut, seinen Kollegen Marc zu hören. „Nein. Hast du einen Wagenheber im Auto?“
Marc ist offenbar immer noch auf der Feier, im Hintergrund singt jemand herzerweichend „I'm dreaming of a white Christmas“. „Sicher, wieso?“
„Ich brauche deine Hilfe. Mein Reifen ist platt. Ich stehe kurz hinter dem alten Landgasthof. Kannst du kommen?“
„Klar. Bin in zehn Minuten da.“
Ein Gefühl der Erleichterung überwältigt Lars. Zögernd ergänzt er: „Fahr das letzte Stück langsam. Kann sein, dass etwas auf der Straße liegt.“
Marc fragt nicht nach, legt direkt auf. Lars überbrückt die Wartezeit, indem er das Warndreieck sucht und zusammenbaut. Seit er hier steht, ist kein einziges Fahrzeug vorbeigekommen, was ihn durchaus wundert. So spät ist es eigentlich noch nicht und ganz in der Nähe gibt es eine Disko, die allerdings erst in drei Stunden ihre Pforten schließt. Lars stellt das Warndreieck auf und lauscht in die Dunkelheit. Der Nebel verschluckt sämtliche Geräusche, die Stille wirkt beinahe bedrohlich.
Endlich hört er einen Wagen. Er nähert sich langsam und kommt direkt hinter Lars' Fahrzeug zum Stehen. Marc steigt aus, erkundigt sich sofort, ob Lars verletzt ist, und stellt dann die Frage, die er sich vorher verkniffen hat: „Was hast du vorhin gemeint, als du sagest, etwas könnte auf der Straße liegen?“
„Mir ist irgendetwas vors Auto gelaufen. Ich glaube, ich bin sogar darübergefahren, deswegen ist auch der Reifen geplatzt. Hast du etwas gesehen?“
Marc schüttelt den Kopf, geht um den Wagen herum und besieht sich stirnrunzelnd den Kühler. „Seltsam …“
„Was?“, fragte Lars misstrauisch.
„Na ja. Diese Delle … für eine Katze oder einen Hasen ist sie zu groß, für ein Reh eigentlich zu klein. Ich frage mich, was du da erwischt hast.“
Das mulmige Gefühl steigt erneut in Lars auf. Er muss einfach darüber reden. „Ich habe ein Lachen gehört, kurz bevor es passiert ist.“
„Ein Lachen?“, fragt Marc skeptisch.
„Ja, so ein raues, fröhliches Männerlachen.“
Beide blicken nachdenklich in die Richtung des Unfalls. „Hast du nachgesehen?“, will Marc wissen.
Lars schüttelt den Kopf. „Ich habe keine Taschenlampe dabei.“
Marc sieht ihn an, dann holt er eine Maglite aus dem Handschuhfach seines Wagens und stapft entschlossen los. Lars folgt zögerlich, es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sein Kollege endlich stehen bleibt.
„Bremsspuren. Hier muss es gewesen sein.“ Er leuchtet die Straße ab. Etwas weiter vorne ist ein dunkler Fleck. Lars weiß sofort, dass es Blut ist. Irgendetwas hat er erwischt. Die Frage ist nur, was. Oder wen.
„Schau mal hier“, ruft Marc und deutet auf etwas, das am Straßenrand liegt. Ungläubig starrt Lars auf die Weihnachtsmütze aus rotem Samt, mit weißem Bommel und flauschiger Umrandung. Ganz ähnlich wie die, die sie vorhin auf der Feier getragen haben, nur wirkt diese älter und ist von viel besserer Qualität. Marc kniet sich hin und fasst sie vorsichtig an. „Trocken. Die liegt noch nicht lange hier.“
„Ist Blut dran?“, fragt Lars wider Willen.
„Ich kann nichts erkennen. Aber ich glaube, hier sind Spuren. Die könnten aber schon älter sein. Sieht aus … wie von einem Schlitten oder so. Echt schräg.“
Die beiden Männer sehen sich an. Lars ist voller Sorge, Marc fängt plötzlich an zu grinsen. „Tja, mein Freund. So wie es aussieht, hast du heute Nacht den Weihnachtsmann angefahren. Oder eines seiner Rentiere. Obwohl es ja eigentlich noch ein bisschen früh für ihn ist. Vielleicht wollte nur er eine Probefahrt machen.“
Lars ist nicht nach Scherzen zu Mute. „Ich denke, ich werde die Polizei rufen.“
Marc wird umgehend wieder ernst. „Blödsinn. Wenn du die jetzt anrufst, bist du deinen Lappen und deinen Job los. Für nichts und wieder nichts!“
„Für nichts und wieder nichts?“, ruft Lars erregt und deutet in das Waldstück. „Vielleicht liegt gerade jemand da drin und verreckt, verdammt noch mal!“
„Mag sein. Aber den würden wir jetzt sowieso nicht finden. Und ich glaube auch nicht, dass die Polizei ein Suchkommando bestellt, weil ein besoffener Autofahrer irgendein Viech überfahren und vorher ein Männerlachen gehört hat. Eher schicken sie dich in die Klapse!“
Lars schüttelt verzweifelt den Kopf. Das alles ist ihm viel zu viel. Er will nach Hause, auf seine Couch und sich noch ein großes Glas Whisky genehmigen. Marc packt ihn an den Schultern. „Hör zu. Wir wechseln jetzt deinen verdammten Reifen und sehen zu, dass wir von hier verschwinden. Sollte in den nächsten Tagen etwas über den Unfall in der Zeitung stehen, kannst du dich immer noch melden und sagen, du hättest gedacht, es sei ein Hase gewesen. Dann können sie dir wenigstens nicht mehr nachweisen, dass du getrunken hast. Okay?“
Lars nickt matt, Marc ist zufrieden und schiebt ihn in die richtige Richtung. „Gut. Also los jetzt. Sonst werden wir auf dieser verdammten Straße auch noch überfahren. Obwohl heute ja wirklich gar nichts los ist.“
Lars geht voraus und traut seinen Ohren nicht, als Marc nach wenigen Schritten leise, aber ausgesprochen fröhlich anfängt, zu singen. „Rudolph the red-nosed reindeer, had a very shiny nose …“
Die ganze Zeit summt er die Melodie, während sie den Reifen wechseln und sogar noch, als sie das Werkzeug wieder im Wagen verstaut haben. Einen Moment lang stehen die beiden Männer voreinander und sehen sich an. Lars bricht das Schweigen. „Danke für deine Hilfe. Und Danke, dass du überhaupt gekommen bist. Ich war gerade eben auf der Feier nicht besonders nett zu dir.“
„Ach, vergiss es. Es ist ja auch grauenhaft, jedes Jahr aufs Neue. Du bist nur der Einzige, der es zugibt. Kommst du nach Hause?“
„Klar. Ich bin auf jeden Fall erheblich nüchterner als vorhin.“
„Gut. Pass trotzdem auf dich auf. Und nimm dir beim nächsten Mal ein Taxi.“
„Versprochen.“
Lars ist schon beinahe eingestiegen, als Marc noch etwas ruft: „Hey – spätestens am 24. werden wir wissen, ob du tatsächlich den Weihnachtsmann überfahren hast!“
Lars geht als Erstes unter die Dusche, als er zu Hause ankommt. Er fühlt sich widerlich, beschmutzt, der seltsame Geschmack in seinem Mund geht auch nach dem Zähneputzen nicht weg. Seine Frau ist schon im Bett, er legt sich zu ihr und umarmt sie mit einer Zärtlichkeit, die zwischen ihnen selten geworden ist. Sie wacht nicht auf, aber ihr Körper schmiegt sich an seinen.
In den kommenden Tagen studiert er aufmerksam die Zeitung und hört die Lokalnachrichten im Radio. Keine Meldung über einen Unfall beim Landgasthof. Er fährt mehrmals an der Stelle vorbei, findet die Bremsspuren, aber nicht die Blutlache. Auch die Weihnachtsmütze sucht er vergeblich. Er fährt in die Werkstatt, wegen des Reifens und einer neuen Stoßstange, und erkundigt sich nach dem Wagenheber. Der Werkstattbesitzer entschuldigt sich tausend Mal, er kann sich nicht erklären, wie so etwas bei einem Neuwagen passieren kann.
Seine Frau wundert sich in den kommenden Wochen, weil Lars so viel Zeit zu Hause verbringt, weil er recht selten zur Whiskyflasche greift und auf eine angenehme Art ruhig und nachdenklich wirkt. Die Zärtlichkeiten zwischen ihnen nehmen zu, zum ersten Mal seit Langem macht sie sich Hoffnungen, dass sie es doch noch schaffen können.
Um noch mehr Zeit für seine Frau zu haben, verzichtet Lars auf einen Auftrag und die dazugehörige Provision und schiebt ihn stattdessen Marc zu. Der kann das Geschäft erfolgreich abschließen, worüber beide glücklich sind. Sie verstehen sich immer besser seit dem Unfall. Aus einer Laune heraus fragt Lars ihn, ob er am 24. Dezember zum Raclette-Essen zu ihnen kommen will. Es wird ein großartiger Abend. Lars kann sich nicht daran erinnern, an Weihnachten jemals so viel Spaß gehabt zu haben. Als Marc mit dem Taxi nach Hause gefahren ist, überreicht er seiner Frau das Collier, das ihm im vergangenen Jahr noch zu teuer gewesen ist. Und er findet, dass das freudige Leuchten in ihren Augen einfach unbezahlbar ist.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer dreht sie sich noch einmal zu ihm um, umarmt ihn und sagt: „Der Weihnachtsmann muss in diesem Jahr wirklich gut auf uns zu sprechen gewesen sein. So großzügig war er schon lange nicht mehr.“
Sie verschwindet im Bad und während er ihr nachblickt, vernimmt er wie aus weiter Ferne ein tiefes, gutmütiges Männerlachen und das Klingeln von tausend Glöckchen, die im selben Rhythmus bewegt werden.
Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Original by shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2013
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