„Soll ich was von Pink Floyd spielen? Kennt ihr das?“
Ich und die drei anderen, die um das Klavier herumstanden, schüttelten den Kopf. Ich hätte lieber genickt, schließlich war es Martin, der die Frage gestellt hatte, und Martin war einfach ein richtig toller Typ. Er war relativ neu in unserer Klasse, seine Eltern waren gerade erst hergezogen. Er sah gut aus, war eher von der ruhigen Sorte, wusste total viel über Geschichte und Politik und vor allem über Musik. Ich war zum ersten Mal bei ihm zu Hause, er hatte uns eingeladen und als Susi das Klavier in seinem Zimmer entdeckte, hat sie ihn sofort gefragt, ob er etwas für uns spielen würde. Susi ist in diesen Dingen immer schon forscher gewesen als ich. Ich war gerade fünfzehn geworden, die Achtziger standen in voller Blüte.
Martin sah unsere ratlosen Gesichter, schüttelte seinerseits über soviel künstlerischen Unverstand den Kopf und fing an zu spielen und zu singen. Ich wippte zuerst mit dem Fuß, dann mit dem Kopf, und dann begannen sich meine Lippen zu bewegen.
„Hey, du singst ja mit“, rief Martin. „Kennst du es doch?“
„Logisch“, sagte ich stolz. „Ich wusste nur nicht, wie die Band heißt. Das hört mein Bruder ständig!“
„Cool“, meinte Martin nur und setzte mit der nächsten Strophe ein.
Ausgesprochen zufrieden – weil ich bei Martin ein paar Punkte gut gemacht hatte und weil der Nachmittag wirklich klasse gewesen war – ließ ich mich von seiner Mutter nach Hause fahren und stürmte direkt ins Zimmer meines Bruders: „Kann ich deine Pink-Floyd-Platte haben?“, fragte ich zur Begrüßung.
„Welche?“, fragte er trocken zurück.
Ich war seit meinem vierzehnten Geburtstag selbst im stolzen Besitz eines Plattenspielers, aber meine Sammlung war im Vergleich zu der meines Bruders noch ausgesprochen bescheiden. Ich hörte wahnsinnig gerne Musik, immer schon, es gab in unserer Familie eigentlich niemanden, der nichts mit Musik anfangen konnte. Allerdings waren die Geschmäcker ausgesprochen unterschiedlich. Meine Mutter liebte Klassik, mein Vater dagegen stand auf deutsche Schnulzen á la Gitte Haenning und Stephan Sulke. Ich hatte mich eine Zeit lang auf Udo Jürgens und Alexandra eingeschossen, hielt mich inzwischen aber längst an das, was mein sechs Jahre älterer Bruder als „cool“ erachtete. Dazu gehörten Bands wie „Kraftwerk“ und „Talk Talk“, und eben auch diese englische Gruppe, die Anfang der Achtziger mit der Schulhasser-Hymne „Another Brick in the Wall“ in sämtlichen europäischen Charts vertreten war.
Ich stutzte. „Wie viele hast du denn von denen?“
„Fast alle“, erwiderte er.
An diesem Tag lernte ich also die Musik kennen, die in den kommenden Jahren mein Leben mehr beeinflussen sollte als alles andere, was ich bis dahin je gehört habe. Mein Bruder spielte mir in den nächsten Tagen etliche Platten von Pink Floyd vor, ich konnte kaum begreifen, dass diese so unterschiedlichen Stücke von ein und derselben Band waren. Mit den frühen, mehr psychedelischen Sachen, konnte ich damals noch nicht allzu viel anfangen. Die Platte „Wish you were here“ hat mir dafür gleich richtig gut gefallen und das Größte war natürlich „The Wall“ - das Album, aus dem Martin einen Song gespielt hatte.
Mein Englisch war noch nicht so besonders, aber irgendwie hatte ich sofort das Gefühl, dass auch die Texte wichtig waren. Ich fragte meinen Bruder, ob er mir die Platte leihen könnte – tat er natürlich nicht, seine Plattensammlung war ihm absolut heilig. Aber er überspielte sie mir auf Cassette und ich verbrachte einige Nachmittage damit, die Songtexte, die in enger und krakeliger Schrift auf dem Inlet aufgedruckt waren, abzuschreiben. Noch mehr Zeit verbrachte ich damit, sie zu übersetzen. Je mehr ich verstand, desto beeindruckter war ich.
Es ging um Einsamkeit, darum, dass die Erwachsenen einfach nicht begriffen, was wir brauchten und versuchten, uns ihre Lebensweise aufzudrücken. Um den Konsumrausch der Gesellschaft und darum, dass man irgendwann anfing, eine Mauer um sich herum zu errichten, um den ganzen Schmerz im Außen nicht mehr zu spüren. Es ging um das Auf-der-Suche-sein nach jemandem, der begreift, wie es einem geht und um ein letztendliches Scheitern an dieser vollkommen irrsinnigen Welt.
Ich bin stundenlang in meinem Zimmer gesessen, den Kopfhörer auf den Ohren, habe diese Musik gehört und alles um mich herum vergessen. Ich war oft wie in Trance, völlig gefangen in den durch die Klänge ausgelösten Gefühlen. Vor allem empfand ich Wut und Zorn, aber auch Trauer. Oft habe ich eher mitgebrüllt als mitgesungen. Oder ich habe mir meine Ölkreiden und den Zeichenblock geschnappt und ohne darüber nachzudenken einfach nur die Farben aufs Papier geschmiert.
Ich habe mit meinem Bruder und vor allem auch mit Martin ständig darüber geredet, was die Texte bedeuteten, wir haben angefangen, uns in The-Wall-Zitaten zu unterhalten und wenn meine Mutter mich genervt hat, habe ich ihr auch manchmal welche an den Kopf geknallt. Jeder, der zu mir zu Besuch kam, wurde mit Pink Floyd beschallt und es gab einige Klassenkameraden, die mit dieser Musik überhaupt nichts anfangen konnten. Ich fand es unfassbar, dass sie die Genialität dieser Songs einfach nicht kapierten. Die Musik dieser Band wurde für mich zum Weg, meine Gefühle ungefiltert zu spüren und nach draußen zu lassen. Egal, ob ich Ärger mit meiner Mutter hatte, unglücklich verliebt war oder generell an den Reaktionen der Menschen verzweifelte – ich tauchte für eineinhalb Stunden weg und wenn ich wieder „hervorkam“, ging es mir einfach besser.
Irgendwann erfuhr ich dann, dass es zu „The Wall“ auch einen Film gab. Der war allerdings erst ab 16 und wurde in unseren Provinzkinos auch nur recht selten gezeigt, auf Video gab es ihn noch nicht. Also musste ich warten. Bis Oktober 1986, da lief er dann endlich in einem Programmkino in der Nähe. Wir trommelten ein paar Leute zusammen und fuhren hin, ich war zwar erst fünfzehneinhalb, wurde an der Kinokasse aber nur selten nach meinem Alter gefragt. Die Stimmung im Kinosaal war klasse, alle hatten gute Laune und unterhielten sich, nur ich saß still da und wartete, bis das Licht ausging.
Die kommenden eineinhalb Stunden verbrachte ich in einem kompletten Rausch. Die Kombination aus der mir so vertrauten Musik, den Filmszenen mit Bob Geldof und den genialen Zeichentricksequenzen von Gerald Scarfe war einfach unfassbar. Das ging noch viel tiefer, als wenn ich nur die Platte hörte. Ich saß in meinem Kinosessel und wusste nicht mehr, dass es außerhalb dieser Bilder und Klänge noch eine Welt gab. Als der Film zu Ende war, strömten alle nach draußen, nur ich blieb noch eine ganze Weile sitzen. Die anderen wurden langsam sauer, weil ich nicht kam, also raffte ich mich auf, aber draußen vor der Tür hielt mich schon wieder etwas auf. Das Kino liegt in einer Seitenstraße der Altstadt und das flache Kopfsteinpflaster in den Straßen sah für mich exakt so aus, wie die Mauer im Film, die gerade eben erst vor meinen Augen zum Einsturz gebracht worden war. Ich stand wie angewurzelt da und habe nur noch auf den Boden und auf diese Steine gestarrt. Jemand aus der Clique fragte mich allen Ernstes, ob ich etwas geraucht oder getrunken hätte. Nein, hatte ich nicht. Mit fünfzehneinhalb war ich mit diesen Dingen noch ziemlich zurückhaltend.
Ein halbes Jahr später hatte sich das zwar längst geändert, trotzdem war ich relativ nüchtern, als ich „The Wall“ zum zweiten Mal gesehen habe, diesmal lief er in unserer Stadt, wir konnten alle zu Fuß hin. Die Wirkung war die Gleiche. Ich muss geheult haben zwischendurch, jedenfalls war mein Gesicht nass, als ich aus dem Kino raus bin. Die anderen unterhielten sich über den weiteren Verlauf des Abends, ich konnte es einfach nicht fassen, wie sie so einfach zur Tagesordnung übergehen konnten. Alles war mir viel zu laut und hektisch. Jemand fragte mich, ob ich noch mit in die Kneipe komme, ich lehnte ab und machte mich auf den Heimweg. Ich war so tief in meine innere Welt versunken, dass ich erst wieder richtig „wach“ wurde, als ich mit dem Schlüssel in der Hand vor unserer Haustür stand. Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich dorthin gekommen bin.
Selbst beim dritten Mal war die Wirkung noch ähnlich intensiv. Ich hatte aus der Erfahrung gelernt und zwei Freunde von mir gefragt, ob sie mich nach Hause begleiten. Allein zu gehen war mir einfach zu unsicher. Als wir bei mir waren, legten wir natürlich Pink Floyd auf, tranken Rotwein, den ich bei meiner Mutter aus dem Regal geklaut hatte, und redeten nur wenig. Plötzlich fing ich damit an, eine Wand meines Zimmers freizuräumen. Die beiden anderen halfen, ohne groß zu fragen. Als wir fertig waren, holte ich aus dem Keller eine Flasche mit schwarzer Acrylfarbe und zwei Pinsel und wir begannen, lauter Mauersteine auf die weiße Wand zu malen. Besonders professionell war es nicht, aber ich habe es recht lange so gelassen.
Ich kann nicht sagen, wie oft ich den Film inzwischen gesehen habe, ich habe ihn längst auf DVD und natürlich bin ich nicht mehr ganz so durch den Wind wie früher, wenn ich ihn mir anschaue. Trotzdem ist er nach wie vor viel mehr als ein normaler Musikfilm für mich.
Am 21. Juli 1990 war ich mit meinem Bruder in Berlin, wo The Wall als bombastisches Konzert und Bühnenstück auf dem Potsdamer Platz aufgeführt wurde. Inklusive Hubschraubern, fliegenden Schweinen und einer riesigen Pappmaché-Mauer. Das war dann noch mal ein ganz spezieller Rausch.
Natürlich habe ich mir nach und nach auch die meisten anderen Alben von Pink Floyd zugelegt. Es ist allerdings immer noch so, dass ich die Musik dieser Gruppe nicht einfach so nebenbei hören kann. Manchmal kommt es mir wie Frevel vor, wenn Stücke von ihnen einfach so, völlig zusammenhanglos, im Radio gespielt werden. Wenn ich Pink Floyd hören will, dann mache ich mir einen Rotwein auf und nehme die Kopfhörer. Und dann versinke ich für ein paar Stunden, genau wie früher, im Rausch der Musik.
Texte: bei mir
Bildmaterialien: http://www.kickacts.com/wp-content/uploads/2011/05/pink_floyd_the_wall_by_NOTaFIREexit.jpg
Lektorat: wie immer ;-))
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an Martin, dessen Namen ich geändert habe, für die gute Zeit. Und natürlich an meinen Bruder für die geniale Musik!