Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin immer schon ein Faschingsmuffel gewesen. Trotz der rheinländischen Wurzeln meiner Familie und obwohl Köln für mich eine großartige Stadt ist, konnte ich mit diesem dreitägigen Brimborium noch nie viel anfangen.
Die folgenden Ereignisse sind also nicht etwa der Auslöser meiner Faschingsphobie, sondern eher ein Resultat davon. Denn an diesem Faschingsdienstag im Jahr 1992 wollte ich vor allem eins: so weit wie möglich weg von bewohntem Gebiet und von allen Närrinen und Narren, die schon am Vormittag die Straßen unsicher machten. Damals wurde in unserem kleinen Kurstädtchen noch ein richtiger Faschingsumzug veranstaltet und außer mir und einigen wenigen Anderen schienen sich alle begeistert darauf einzustimmen.
Ich hatte an diesem Tag frei und Thomas, mein Freund, mit dem ich damals zusammenlebte, war auch zuhause. Eigentlich die ideale Voraussetzung, um es sich gemütlich zu machen. Lange ausschlafen, vielleicht ein Video schauen und sich später in der einzigen faschingsfreien Kneipe unseres Städtchens verkriechen. Doch so ganz ging diese Rechnung nicht auf, denn wir waren nicht mehr alleine. Seit zwei Monaten lebte Joey bei uns, ein einjähriger, schwarzer Schäferhundmischling, und der wollte natürlich nicht erst am Abend vor die Tür. Da ich vorrangig dafür verantwortlich war, dass Joey bei uns ein neues Zuhause gefunden hatte, und da mein Freund ein noch größerer Morgenmuffel war als ich, überließ er mir meistens die erste Gassirunde.
Also schälte ich mich um zehn aus dem Bett, schnappte mir Hund und Leine und rief Thomas noch zu: „Wir gehen hoch in den Wald!“
„Sei vorsichtig“, nuschelte er in sein Kissen.
„Ja, ja“, erwiderte ich nur.
Ich war kaum zur Tür draußen, als mir ein Pärchen in voller Faschingsmontur entgegen kam – sie war als Prinzessin verkleidet, er als Cowboy. Joey fing an zu grummeln, ich glaube, die zwei waren ihm genauso suspekt wie mir. Sie warfen uns ebenfalls einen skeptischen Blick zu und gingen weiter Richtung Stadtmitte, ich schlug den entgegengesetzten Weg ein. Es war trüb und kalt, ein leichter Wind wehte, für Anfang März war es aber durchaus okay. Joey und ich liefen die Straße entlang und bogen bald rechts ab, um die Abkürzung über das Gelände des Kleintierzüchtervereins zu nehmen. Für meinen Hund war das immer ziemlich aufregend, wenn er an den ganzen Kaninchen und Tauben vorbei musste. Er blickte stur geradeaus und zitterte vor Anspannung, um nur ja nicht der Versuchung zu erliegen.
Direkt hinter den Hütten der Kleintierzüchter begannen die Felder, ich ließ Joey von der Leine und eigentlich hätte ich schon zu diesem Zeitpunkt stutzig werden können. Normalerweise rannte er sofort los, sobald ihm das Klacken des Karabiners signalisierte, dass er frei war. Er raste ein paar Minuten lang in immer größer werdenden Schleifen um mich herum, einfach nur, um sich auszutoben, und kam dann zufrieden zu mir zurück. An diesem Tag blieb er jedoch neben mir, schnupperte hier ein bisschen und hob dort kurz das Bein, als sei er an einem Spaziergang eigentlich gar nicht so richtig interessiert.
„Kannst du mir mal erklären, warum du uns dann geweckt hast?“, fragte ich ihn, er schaute mich kurz an, nieste und trottete weiter.
Ich überlegte tatsächlich kurz, ob ich einfach umdrehen und wieder nach Hause gehen sollte, aber ich hatte meine Trägheit inzwischen abgelegt und wirklich Lust auf diesen Spaziergang bekommen. Also stapfte ich weiter den Feldweg hinauf. Bevor wir in den Wald kamen, drehte ich mich noch einmal um. Der Wind war inzwischen etwas stärker geworden und die Wolken hatten sich hinter mir verdichtet, die Wetterlage wirkte aber in keiner Weise bedrohlich auf mich.
Zwischen den Bäumen wurde Joey etwas lebhafter, offenbar gab es jede Menge interessante Fährten und ich war eine ganze Weile damit beschäftigt, ihn davon abzuhalten, einer oder mehreren davon zu folgen. Deswegen merkte ich zunächst auch nicht, dass es immer düsterer wurde. Wir liefen einfach weiter, ich versteckte Leckerlis oder balancierte mit dem Hund über Baumstämme, und als wir beinahe genau im Zentrum dieses recht großen Waldgebietes waren, wurde ich von einem Rauschen aufgeschreckt. Zuerst dachte ich, es sei ein Tiefflieger, die gab es damals noch reichlich in unserer Gegend. Ich spürte eine leichte Windböe, das Rauschen schwoll noch einmal an und dann, mit einem Schlag, war der Sturm bei uns angekommen. Bei uns am Boden war es noch halbwegs okay, aber über uns krachte und ächzte es in den Bäumen und ich hörte die ersten Äste knacken.
„Joey“, rief ich und begann zu rennen, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Als wenige Meter vor mir ein Ast mitten auf den Weg knallte, bremste ich ab und schaute mich um. Der Wind wurde immer stärker, Blätter und Zweige flogen überall durch die Luft und mittlerweile hatte auch ein unangenehm kalter Regen eingesetzt. Ich wusste ganz genau: Egal in welche Richtung ich mich wende, ich brauche mindestens zwanzig Minuten, bis ich aus dem Wald herauskomme. Ich war wirklich kurz davor, in Panik zu geraten, na ja, im Grunde steckte ich schon mittendrin. Und dann geschah das wirklich Bemerkenswerte dieses Vormittags. Joey setzte sich plötzlich direkt vor mich hin und schaute mich unverwandt an, als erwartete er ein Leckerli für eine bestandene Übung. Er war vollkommen ruhig, das Spektakel um uns herum beeindruckte ihn überhaupt nicht, er schien viel eher besorgt über meinen Zustand zu sein.
Es ist schwer zu beschreiben, was in diesem Moment zwischen uns geschehen ist, ich bin jedenfalls sofort ruhiger geworden und dachte: Katja, du bist für diesen Hund verantwortlich, du musst ihn aus diesem Wald bringen, also flippe hier nicht aus, sondern suche nach einer Lösung!
Und da mein Verstand wieder ordentlich arbeitete und nicht mehr von Angst umnebelt war, fiel mir auch sofort eine ein: Nur wenige hundert Meter von hier gab es eine offene Waldhütte, die zwar nicht allzu viel Schutz vor dem Wind bieten würde, aber zumindest vor dem Regen und vor allem vor den herunterfallenden Ästen.
„Joey, komm!“, rief ich.
Er sprang auf, bellte kurz und lief – kein Witz! – genau in die Richtung, in der die Hütte lag. Wir brauchten nur ein paar Minuten, bis wir angekommen waren, ich kauerte mich an die hintere Wand der Hütte, Joey legte sich entspannt neben mich. Durch den starken Wind kam doch immer wieder etwas Regen herein, aber ich fühlte mich trotzdem halbwegs sicher. Aus dieser Position heraus fiel mir dann auch wieder ein, dass ich eigentlich ein großer Fan von Sturm und Gewitter war und oft genug nach draußen gerannt bin oder zumindest die Fenster aufgerissen habe, wenn es blitzte und donnerte. Das Heulen und Tosen machte mir keine Angst mehr, Joey schloss sogar für eine Weile die Augen und döste vor sich hin.
Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange wir in der Hütte gesessen sind, schätze aber, es hat eine gute halbe Stunde gedauert, bis der Sturm endlich ein bisschen nachgelassen hat. Da mir in den feuchten Klamotten mittlerweile recht kalt geworden war, stand ich auf und wagte mich vor die Hütte. Joey trabte voraus, als wollte er sagen: „Los, komm schon, jetzt ist alles wieder okay!“, also machten wir uns auf den Nachhauseweg. Über uns in den Wipfeln knarzte es immer noch bedenklich, der Pfad war übersät mit Ästen und ich konnte sehen, dass mehrere Bäume entwurzelt worden waren. Ich war wirklich froh, dass ich in der Hütte Schutz gesucht hatte und noch mehr, dass Joey bei mir gewesen war und mich vor einer Panik bewahrt hatte.
Thomas und ein guter Freund von uns kamen uns auf dem Gelände der Kleintierzüchter entgegen. Sie hatten sich Sorgen gemacht, als der Sturm losgebrochen war und waren losgelaufen, um uns zu suchen. Ich fand, es war ein unbeschreiblich großartiges Gefühl, die beiden in diesem Moment zu sehen.
Der Faschingsumzug am Nachmittag wurde übrigens abgesagt, da es den ganzen Tag über weiterhin kräftige Sturmböen gab. Ich muss zugeben, dass mich diese Nachricht nicht allzu sehr erschüttert hat.
Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: http://www.wetter-eggerszell.de/images/dsc00510.jpg
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2013
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