Cover

Der Krieger

„Sind die Kundschafter schon eingetroffen?“

„Nein, Herr.“ Der Wachposten blickte respektvoll zu Boden. „Es gibt noch kein Zeichen von ihnen.“

„Warum dauert das so lange?“

„Ich weiß es nicht, Herr.“

Diese Warterei machte ihn noch wahnsinnig. Er war es wirklich nicht mehr gewohnt, herumzusitzen und nichts zu tun. Die letzten Wochen waren so turbulent und ereignisreich gewesen, dass sie ihm kaum Zeit zum Luftholen gelassen hatten. Die Kundschafter mussten doch längst …

Ihm wurde bewusst, dass der Wachposten ihn fragend ansah. Es war sicherlich nicht angemessen, den Mann so deutlich spüren zu lassen, wie nervös er war, schließlich war er gerade erst zum Kriegsführer der Stämme gewählt worden.

„Ich will informiert werden, sobald sie das Lager betreten“, sagte er daher streng und ging zurück ins Zelt.

 

Im Inneren saß Gondir und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Toran, das war jetzt das dritte Mal, dass du den Wachposten gefragt hast. Was soll er von dir denken?“

„Das ist mir egal! Du weißt genau, wie gefährlich es in dieser Gegend ist. Wir hätten hier niemals ein Lager aufschlagen dürfen.“

„Du neigst nicht nur zur Nervosität, sondern auch zur übertriebenen Vorsicht, mein Freund.“

„Ja? Darf ich dich daran erinnern, dass uns diese 'übertriebene Vorsicht' vor wenigen Tagen vor einem Hinterhalt bewahrt hat, den wahrscheinlich keiner von uns überlebt hätte?“

„Ja, ja. Und du bist dadurch endgültig zu ihrem Helden aufgestiegen. Noch nicht einmal einen anständigen Flaum um die Wangen und schon Anführer, das hat es lange nicht mehr gegeben. Trotzdem sage ich: Beruhige dich! Setze dich hierher und trinke einen Becher Met, das wird dir gut tun.“

Er folgte Gondirs Rat und nachdem er den Becher zur Hälfte gelehrt hatte, lehnte er sich nachdenklich zurück. Von den Berichten der Kundschafter hing so viel ab! War es ihnen gelungen, die anderen Stammesführer ausfindig zu machen und zu überzeugen, sich ihrer Sache anzuschließen? Hatten sie sich an das Römerlager heranschleichen und seine Stärke und Befestigung herausfinden können? Er wusste, wenn es ihm, Toran, tatsächlich gelänge, die Römer aus dieser Gegend zu vertreiben, dann gäbe es niemanden mehr, der seine Führerschaft anzweifeln würde, dann würde er genügend Ruhm besitzen, um die restlichen Stämme zu vereinen und vielleicht würden sie ihm trotz seiner Jugend sogar zu ihrem Fürsten wählen. Alle würden ihn respektieren, sein Wort wäre Gesetz und seine Taten würden an den Lagerfeuern besungen werden.

Toran seufzte. Er wusste, es würde nicht leicht werden. Schon bis hierher zu kommen war ein unglaublich harter Weg gewesen. Er hatte wochenlang kaum geschlafen und war nur selten zum Essen gekommen. Er hatte sich in Zweikämpfe gestürzt und in Schlachten hervorgetan und sich auf diese Art nach und nach den Respekt der Männer erkämpft. Die Stammesführer waren auf ihn aufmerksam geworden und hatten ihn auf die Suche nach magischen Schätzen geschickt, die überall in dieser Gegend verborgen waren. Es war ihm sogar gelungen, im Labyrinth der Schattenhöhlen ein goldenes Geschmeide und ein machtvolles Schwert aus dem Drachenschatz zu entwenden. Das Geschmeide hatte er den Stammesführern geschenkt, das Schwert hatte er behalten. Es hatte ihn bereits mehr als einmal vor dem sicheren Tod bewahrt.

Nachdenklich blickte er zu Gondir, der sich einen weiteren Becher Met einschenkte. Auch Gondir hatte ihn bereits mehr als einmal vor dem sicheren Tod bewahrt und das Gleiche hatte er für ihn getan.

 Sie waren sich schon sehr früh begegnet, am zweiten Tag, als Toran seine Wanderschaft in diesem für ihn gänzlich neuen Leben begonnen hatte. Torans Eltern waren einfache Leute, die nicht das Geringste vom Leben der Krieger verstanden. Sie gingen verbissen ihrem Tagwerk nach und waren mit den Jahren so hart und kalt geworden wie die Welt, die sie umgab. Wenn Toran davon gesprochen hatte, dass er sich ein anderes Leben wünschte, eines, in dem man Abenteuer bestehen und Ruhm und Ehre erlangen konnte, hatten sie ihn ausgelacht oder geschlagen und ihn angewiesen, seine Aufgaben zu erledigen. Trotzdem war er eines Tages losgezogen. Wahrscheinlich hatten sie es noch nicht einmal bemerkt. Im Grunde war er ihnen doch immer vollkommen egal gewesen.

Toran hatte sehr schnell erfahren, dass das Leben als Krieger alles andere als ein Zuckerschlecken war, mehr als einmal hätte er beinahe sein Leben verloren, doch mit Geschick, Klugheit und seinen zunehmend besser werdenden Kampfkünsten war es ihm gelungen, zu überleben. Und nach und nach auch etwas von dem Ruhm und der Ehre zu ernten, nach der er sich so gesehnt hatte.

„Toran!“, Gondirs warnende Stimme riss ihn aus den Gedanken und er schaute alarmiert auf. Gondir deutet nur zum Zelteingang, in dem die Gestalt des Wachpostens erschienen war. „Sie kommen, Herr!“, rief er beflissen. „Und sie werden von Ondmar und seinen Kriegern begleitet. Offenbar haben sie ihn überreden können, sich dein Anliegen anzuhören.“

Toran nickte. „Ich komme sofort.“

Der Wachposten verschwand, Toran nickte immer noch, nicht länger in der Lage, seine Nervosität zu überspielen. Ondmar war einer der erfahrensten und angesehensten Stammesführer in dieser Gegend. Wenn es Toran gelänge, ihn zu überzeugen, hätten die Römer nicht die geringste Chance gegen sie!

Gondir stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Gratuliere, mein Freund!“

Toran blickte ihn unsicher an. „Ich habe noch nie mit einem so hochstehenden Fürsten gesprochen.“

„Keine Sorge, du wirst das hervorragend meistern. Er wäre ein Hornochse, wenn er sich dir nicht anschließt. Doch das darfst du ihn natürlich keinesfalls spüren lassen. Zeige ihm ruhig, wie viel Respekt du vor ihm hast. Frage ihn nach seiner Meinung. Gib ihm das Gefühl, er wäre ganz allein derjenige, der die Entscheidung fällt.“

Toran seufzte. Er wusste genau, was Gondir meinte. Er hatte oft genug …

 

***

„Verflucht noch mal, wo steckt dieser nichtsnutzige Bengel denn schon wieder! Thorsten! Ich habe dir gesagt, du sollst mir in der Garage helfen!“

„Ich komme gleich runter“, rief Thorsten aufgeschreckt.

„Gleich? Du kommst jetzt sofort nach unten, sonst komme ich hoch zu dir, und das willst du nicht erleben, mein Freund.“

Thorsten seufzte. Er öffnete ein Chatfenster und schrieb:

Toran: Sorry, kurze Pause, mein Alter schreit schon wieder

Wenige Sekunden später erschien:

Gondir: Mach hin. Ondmar wartet nicht ;-)

Thorsten drückte eine Taste, woraufhin über dem Zeltlager eine flammende Schrift erschien: Game paused

Er hatte sich in den vergangenen Wochen mehr als einmal gewünscht, diese Taste gäbe es auch für die angeblich so reale Welt, in der er lebte und die ihm weitaus düsterer und oftmals auch gefährlicher vorkam als das kriegerische Germanien.

Während er die Treppe hinunterging, huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. Die Begegnung mit seinem Vater war im Grunde eine ganz hervorragende Übung für sein späteres Gespräch mit Ondmar. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Er würde ihnen schon zeigen, was für ein großartiger Krieger er war. Dem einen wie dem anderen.

Impressum

Bildmaterialien: aus dem Film "The Last Samurai"
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /