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Möge die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen! Möge sie zerbrochen werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zugrunde ging, wo die Selbstsucht gedieh, wo der Mensch vom Menschen ausgebeutet wurde! Mögen sie von Grund auf zerstört werden, diese übertünchten Grabstätten, in denen die Lüge und die Verderbnis herrschten.

Heinrich Heine

Gerechtigkeit

Er setzte den Blinker und nahm die Abzweigung, ohne Nachzudenken oder auf das Schild zu schauen. Komisch, dachte er bei sich. Er war noch nie mit dem Auto hier gewesen, zumindest war er nie selbst gefahren, wie denn auch, er hatte den Führerschein erst seit drei Jahren und das alles war ja schon viel länger her. So lange, dass er in letzter Zeit sogar manchmal daran geglaubt hatte, er könne es irgendwann vergessen. Doch damit hatte er sich wohl getäuscht. 

Vor gut zwei Stunden hatte er den Artikel gelesen. Und in diesen zwei Stunden war er ein anderer Mensch geworden. 

Nein, korrigierte er sich in Gedanken. Er war kein anderer. Er war immer noch Markus Lehmann. Der stille Angestellte aus dem Outdoorladen, der von seinen Freunden als schüchtern und zuverlässig beschrieben wurde, als jemand, der nicht allzu viel Alkohol vertrug, seit Jahren versuchte, sich das Rauchen abzugewöhnen und seit ebenso langer Zeit – aber wohl nicht ursächlich damit zusammenhängend – ein unfassbares Pech mit Frauen hatte.
Von seinen Freunden … hallte es in seinem Kopf, während er nach den Zigaretten tastete. Klang als hätte er haufenweise davon. Gut, da gab es natürlich Timo. Timo war sein Arbeitgeber (ihm gehörte der Outdoorladen), sein Vermieter (Timos Vater gehörte die Wohnung, in der sie lebten) und in der Regel auch derjenige, mit dem er am Wochenende klettern oder einen trinken ging. Die Kumpels, die sie dabei begleiteten, waren wenn überhaupt Timos Freunde und ganz bestimmt nicht seine.

Sie kannten sich schon seit zehn Jahren, seit Markus auf die neue Schule gekommen war, und obwohl oder vielleicht gerade weil sie so unterschiedlich waren, hatten sie sich von Anfang an verstanden. Er hatte Timo durchs Abitur geboxt, denn im Gegensatz zu ihm wusste er, wie man sich auf Prüfungen vorbereitete, oh ja, auch das hatte er im Internat gelernt. Dafür hatte Timo ihn dann angestellt, nachdem er sich von Papas Geld den Laden und die Wohnung eingerichtet hatte. Seine Kumpels spöttelten des Öfteren, weil sie praktisch ständig aufeinanderhockten und bezeichneten sie gerne als „das alte Ehepaar“. Und das, obwohl Timo im Gegensatz zu ihm wirklich alles andere als Pech mit Frauen hatte. 

Markus warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Kurz nach halb eins. Im Augenblick war Timo wahrscheinlich alles andere als gut auf ihn zu sprechen. Er war stinksauer, schätzungsweise. Meistens kam er zwischen zwölf und halb eins in den Laden und brachte Pizza, Döner oder was vom Chinesen mit. Über Mittag hatten sie geschlossen und nach dem Essen erledigten sie Bürokram, setzten Bestellungen auf oder zeichneten neue Ware aus.

Heute nicht. Heute würde Timo allein essen müssen. Und genau das meinte Markus damit, dass er sich verändert hatte. Vor zweieinhalb Stunden hätte er noch Stein und Bein geschworen, dass er den Laden nie im Leben, nicht wegen einer Bombendrohung und auch nicht wegen einer Tornadowarnung, im Stich lassen würde. 

*****

Wie üblich war er gegen halb neun gekommen und hatte als Erstes die Post aus dem Briefkasten geholt. Der braune Umschlag, auf dem nichts als sein Name und die Adresse stand, war ihm gleich aufgefallen, er hatte ihn auf die Theke und die restlichen Briefe auf den Schreibtisch im Büro gelegt. Dann hatte er Kaffee gekocht, die Klamottenständer mit der reduzierten Ware gerichtet und um neun die Vordertür aufgeschlossen. Er war eine Weile mit zwei Stammkunden beschäftigt gewesen, die Kletterseile gebraucht hatten, und direkt danach hatte er eine größere Lieferung entgegengenommen. Erst gegen zehn war er dazu gekommen, sich einen Kaffee einzuschenken und draußen schnell eine zu rauchen.

Den Umschlag hatte er mitgenommen und eine Weile auf seinen Namen gestarrt. Schwarzer Edding und Druckbuchstaben, er konnte die Schrift beim besten Willen niemandem zuordnen, den er kannte. Innen befanden sich zwei einzelne Blätter, die Kopie eines längeren Zeitungsartikels und seitlich stand in derselben Handschrift: Sie haben ihn wieder eingestellt!!

Es gab zwei Fotos und obwohl die Kopie nur schwarz-weiß und alles andere als scharf war, wurde ihm sofort übel. Die Gebäude des ehemaligen Gutshofes, die auf dem einen abgebildet waren, kannte er sehr gut. Zweieinhalb Jahre lang hatte er dort gelebt. Wie um sicher zu gehen, wanderten seine Augen zu der Überschrift des Artikels: 

LINDENTHALER INTERNATE FEIERN HUNDERTJÄHRIGES BESTEHEN

Gelungener Festakt. Bürgermeister lobt pädagogisches Engagement. 

Markus überflog den Text. Die hundertjährige Geschichte interessierte ihn nicht, die kannte er zur Genüge. Auch die Tatsache, dass die Abiturnoten immer noch weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt lagen und man als Absolvent an den Universitäten von Karlsruhe, Heidelberg oder Tübingen mit Handkuss genommen wurde, beeindruckte ihn nicht sonderlich. Er wollte etwas über die Sache von damals lesen und tatsächlich fand er diese Sätze: Selbst als vor elf Jahren bekannt wurde, dass ein angesehener Sportlehrer seine pädagogischen Kompetenzen in mehr als einem Fall überschritten hatte, gelang es der Internatsleitung, die Stabilität des Betriebs aufrecht zu erhalten. „Was damals geschehen ist, war wirklich tragisch“, so der Direktor im Interview. „Doch wir haben alle aus unseren Fehlern gelernt und sind sehr froh, dass wir dem ehemaligen Kollegen noch eine Chance geben konnten.“

Markus starrte auf die Zeilen. Pädagogische Kompetenzen überschritten? Auch eine Art, es auszudrücken. Und was bitte bedeutete „noch eine Chance“?

Die Antwort darauf fand er, als er das andere Foto betrachtete, auf dem das Kollegium und die Angestellten der Lindenthaler Internate abgelichtet waren. Er hätte ihn beinahe nicht erkannt, weil die Kopie so schlecht war und weil er sich wirklich verändert hatte, nicht nur wegen des Hausmeisterkittels, den er trug, auch wegen seiner gebeugten Haltung und des fast unterwürfigen Blickes. Er hatte einen Besen in der Hand, im Grunde sah es so aus, als müsse er sich daran abstützen.

Das änderte jedoch nicht das Geringste an der Tatsache, dass Markus in das eine Gesicht schaute, von dem er gehofft hatte, es eines Tages zu vergessen, oder zumindest niemals wieder zu sehen. Sie haben ihn wieder eingestellt!!

Wer hatte das geschrieben? Wer hatte diesen Umschlag geschickt? Eigentlich gab es nur einen, der dafür in Frage kam. Der andere Junge. Der erste, mit dem der Sportlehrer Einzeltraining gemacht hat. Der, der sich im Gegensatz zu Markus irgendwann getraut hat, zum Rektor zu gehen. 

„Hey – kann ich bei dir bezahlen oder gibt’s die Sachen heute umsonst?“

Markus starrte die Kundin an und irgendwie gelang es ihm, zurück in den Laden zu gehen und sie abzukassieren. Und die nächsten beiden Kunden fachmännisch zu beraten. Und sich noch eine Tasse Kaffee einzuschenken. Er ist wieder da, dachte er. Sie haben ihn tatsächlich wieder ins Internat gelassen. Ob er sich schon jemand Neues gesucht hat?

Es war kurz nach elf. Und Markus wusste, dass er nicht warten konnte. Er holte den Klamottenständer rein, schloss die Tür ab, zerknüllte die Kopien und den Umschlag und schrieb eine Nachricht auf den Notizblock: Sorry, Timo. Ich musste weg. Ich erklär's Dir später, wenn ich kann. Danke für alles. Markus. 

*****

Genau in diesem Moment, Markus war nur noch wenige Kilometer von seinem Ziel entfernt, klingelte das Handy. Timos Nummer erschien auf dem Display. Er ließ es klingeln. Als es zweimal piepste, nahm er es doch zur Hand und hörte die Mailboxnachricht ab: Ich bin's. Verdammt, was ist los, Markus? Wo steckst du? Ich habe den Artikel im Papierkorb gefunden. Und ich habe gesehen, dass die Metallkassette leer ist. Sag' mir nicht, dass du jetzt gerade da runter fährst! Das ist doch alles längst vorbei, Mann. Der Typ hat seine Strafe doch gekriegt, oder nicht? Also mach' keinen Scheiß, ja? Und melde dich!

Markus musste lächeln. Timo war fest davon überzeugt, dass sämtliche Handys von irgendwelchen Geheimdiensten abgehört wurden, deswegen hatte er von der leeren Metallkassette gesprochen und nicht von dem, was sich normalerweise darin befand.

Markus hatte seinen Freund schlicht für verrückt erklärt, als er vor etwa einem halben Jahr nicht nur mit Pizzakartons, sondern mit einer Walther PKK im Rucksack in den Laden gekommen war.

„Die ist von meinem Vater“, hatte er erklärt. „Hier werden in letzter Zeit so viele Läden überfallen, ich denke echt, wir sollten uns schützen.“

„Muss so ein Ding nicht in einem speziellen Waffenschrank aufbewahrt werden?“, hatte Markus skeptisch gefragt.

„Ja, klar“, hatte Timo spöttisch erwidert. „Wenn ein Einbrecher kommt, sagst du zu ihm: 'Moment, ich muss erst in den Keller, meine Knarre holen, such' dir derweil doch schon mal was aus!' Wir tun sie in die alte Metallkassette und stellen sie hier unter die Kasse. Außer uns beiden hat niemand einen Schlüssel. Was sollte also passieren?“

Also hatten sie die Pistole eingeschlossen und da seither niemand versucht hatte, den Laden auszuräumen, hatten sie sie auch nicht mehr hervorgeholt. Bis heute. Im Augenblick lag die Walther PKK unter seiner Jacke auf dem Beifahrersitz. Und das fühlte sich verdammt gut an.

 Das Handy klingelte erneut. Markus stellte es aus. Als er wieder hochschaute, sah er die Giebel des Gutshofes vor sich. Und das hölzerne, verspielt wirkende Schild: Lindenthaler Internate, 200m rechts. Einen Moment lang wurde ihm wieder übel. Er hörte Stimmen in seinem Kopf, die eines freundlichen Erwachsenen und die eines schüchternen Elfjährigen. „Na, das hat doch schon prima geklappt. Am Reck musst du noch besser werden, das üben wir beim nächsten Mal. Jetzt gehst du unter die Dusche und dann ab zum Abendessen.“

„Ich würde lieber drüben bei uns duschen …“

„Junge, du bist ganz nass geschwitzt, so kann ich dich auf keinen Fall nach draußen lassen. Komm schon. Wir machen ganz schnell heute.“

Markus schüttelte die Stimmen und die Übelkeit ab, parkte den Wagen auf dem Besucherparkplatz und griff nach der Pistole. Er war kein kleiner Junge mehr. Und das Erstaunlichste war: er hatte keine Angst. Seit gut zwei Stunden hatte er keine Angst mehr. Deswegen, vor allem, hatte er das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein. Hier ging es schließlich nicht um ihn. Hier ging es um die Frage, ob sich ein ehemaliger Sportlehrer, der jetzt Hausmeister war, einem neuen Jungen suchen würde, vielleicht zum Einzelunterricht an der Hobelbank oder im Heizungskeller. Ob es dort unten auch Duschen gab?, fragte sich Markus für einen Moment. 

Er stieg aus und ging zielstrebig über das Internatsgelände. Er wusste, wo die Werkstatt des Hausmeisters war. Sein Körper zitterte, doch auch das fühlte sich nicht nach Angst an. Es fühlte sich nach Entschlossenheit, nach Tatkraft, nach Stärke an. Ein feines Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Die Frau, die ihm entgegenkam, musterte ihn skeptisch. „Entschuldigung, das ist eigentlich Privatgelände, kann ich ihnen helfen?“

„Nein, das glaube ich nicht“, erwiderte Markus.

„Was suchen Sie denn hier?“, hakte sie nach.

Lächelnd hob er die Pistole. „Gerechtigkeit.“

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Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: http://cdn1.vienna.at/2013/02/missbrauchbb1-e1360150902359-600x306.jpg
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2013

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