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Alles was Räder hat




Wenn ich mir die Frage stelle, was man braucht, um eine schöne Kindheit zu erleben, fallen mir viele Dinge ein: liebevolle Eltern natürlich, ein Zuhause, das einem Platz zur Entfaltung bietet, Freunde, die einen fordern und fördern … und dann noch jemanden, der zumindest in meiner Kindheit eine unfassbar wichtige Rolle gespielt hat: Einen großen Bruder.

Meiner ist um einiges größer (was keine Kunst ist) und sechs Jahre älter als ich. Zu einem mir unbekannten Zeitpunkt, wahrscheinlich noch bevor ich laufen konnte, beschloss er, dass wir beide erheblich davon profitieren würden, wenn er mir auf meinem Lebensweg ein wenig unter die Arme griffe. Gut – in späteren Jahren hat er es damit gelegentlich auch übertrieben, zum Beispiel wenn er mir ausführlich erörtert hat, warum der Typ, in den ich gerade verschossen war, so gar nichts für mich sei. Aber das ist längst verziehen.

Unendlich dankbar bin ich ihm dafür, dass er mir die Neue Deutsche Welle so schnell ausgetrieben und mich so früh an gute Musik herangeführt hat – ich konnte mit zehn die Texte von Pink Floyd mitsummen, auch wenn ich damals noch nicht ahnte, wie sehr mich die Worte später beeinflussen würden, als ich sie wirklich übersetzen konnte.

Noch wichtiger ist jedoch, dass er mir alles beigebracht hat, was in irgendeiner Weise mit Fortbewegung auf Rädern zu tun hat. Und damit meine ich tatsächlich: alles.
Angefangen hat es mit meinem ersten und wahrlich heiß geliebten Fortbewegungsmittel: einem knallroten Bobbycar. Dass ich mit meiner etwas schwierigen Körperstatik dann doch irgendwann ganz gut laufen konnte, so sagte es ein Orthopäde, hätte durchaus etwas mit dem regelmäßigen Training der Beinmuskulatur durch das Bobbycar zu tun.
Mein Bruder fuhr zu diesem Zeitpunkt allerdings schon Fahrrad und fand meine Fortbewegungsweise entschieden zu langsam – aber wozu hatte mein Autochen denn diese große Plastiköse am Kühler? Kurzerhand ein Seil drangeknotet und an seinem Gepäckträger befestigt, so ging es dann in die Sindelfinger Innenstadt zum Kochlöffel. Und zwar über eine recht stark befahrene Hauptstraße mit reichlich Gefälle. Unten anzukommen war eigentlich nur eine Frage der Schwerkraft, dass wir es heil geschafft haben, begreife ich bis heute nicht. Jedenfalls gab es von seinem Taschengeld eine Tüte Pommes für jeden und dann machte er sich mit mir im Schlepptau an den – erheblich anstrengenderen – Nachhauseweg.

Mein erstes Fahrrad bekam ich mit knapp sieben. Mein Bruder hatte damals ein Bonanzarad mit Bananensattel und allem möglichen Schnickschnack am Lenker (um cool auszusehen) und zwischen den Speichen (um Krach zu machen). Ich war auf mein Kinderrad furchtbar stolz, er beäugte es kritisch und schraubte als Erstes die Stützräder ab. Und dann brachte er mir Fahrradfahren bei.
Lektion Eins: Ich sollte mich draufsetzen und die Füße auf die Pedale stellen, er hat mich kräftig angeschoben, losgelassen und ist dann hinter mir hergerannt, um mich wieder einzufangen, bevor ich durch den nachlassenden Schwung allzu sehr ins Trudeln geriet. Zum Glück war die Einfahrt vor unserem Haus recht groß, sodass wenig Kollisionsgefahr bestand. Ich schätze, die Sache war für ihn schweißtreibender als für mich, die Benutzung der Pedale hat er mir trotzdem erst bei einer späteren Lektion erklärt.



Eine kleine Narbe an meinem Kinn zeugt noch heute von dem ersten und einzigen Unfall, den ich beim Fahrunterricht mit meinem Bruder jemals erleiden musste. Ich war zehn und hatte zum Geburtstag ein Paar Rollerskates bekommen – diese coolen, knallbunten Dinger mit Gummistoppern vorne dran.
Mein Bruder hatte inzwischen ein Rennrad und wir begannen das Training in gewohnter Manier – er fuhr mit dem Rad los und ich klammerte mich an seinen Gepäckträger.
Beim dritten oder vierten Anlauf vergaß er leider, mich darüber zu informieren, dass er jetzt starten würde. Vielleicht war ich auch einfach nur abgelenkt, weil Christoph, der über uns wohnte und den ich beinahe so sehr vergötterte wie meinen Bruder, ebenfalls mit seinem Fahrrad in der Einfahrt unterwegs war. Jedenfalls trat mein Bruder in die Pedale, ich hatte die Finger noch am Gepäckträger, wurde ein Stück mitgezogen, rutschte ab und knallte mit dem Kinn auf den Asphalt.
Es ist wohl verständlich, dass ich für das Rollschuhfahren keine besonders große Begeisterung mehr entwickelt habe.
Auch das Skateboardfahren probierte ich eigentlich nur aus, weil mein Bruder so verdammt gut darin war – mir bescheinigte er nach einigen Versuchen allerdings absolute Talentfreiheit, und damit war die Sache dann auch erledigt.

Meine erste theoretische Führerscheinprüfung machte ich mit zwölf – weil ich meinen Bruder ständig abfragen sollte und die Antworten bald so gut wusste wie er. Für ihn begann danach eine neue Ära, weil er mit seinem ersten R11 auf einem Schlag zwei Dinge bekam, die er liebte: Etwas, mit dem man sich schnell fortbewegen und etwas, das man auseinanderbauen und wieder zusammensetzen konnte. Logisch, dass ich ihm bei beiden Beschäftigungen recht häufig Gesellschaft geleistet habe. Damals konnte ich so ziemlich jedes Teil benennen, das sich unter einer Motorhaube befindet und es ist ein bisschen beschämend, wie viel ich davon mittlerweile vergessen habe.

Meine erste Fahrstunde hatte ich mit sechzehn. Es gab da so einen großen, asphaltierten Volksfestplatz in unserem Provinzstädtchen, der gerne für alle möglichen Fahrübungen genutzt wurde. Da ich mit meinen kurzen Beinen nicht so richtig an die Pedalen des R11 kam, hing ich quasi unter dem Armaturenbrett, mein Bruder übernahm vom Beifahrersitz aus das Lenken und gab mir Anweisungen, wann ich Gas und Bremse betätigen sollte … lassen wir das besser.

Und dann wurde ich endlich achtzehn und bekam mein erstes eigenes Auto, einen ebenfalls knallroten R5. Der musste meiner Behinderung entsprechend umgebaut werden und da es in unserer Gegend natürlich kein Fahrschulauto gab, das ich benutzen konnte, wurden auf der Beifahrerseite ein zusätzliches Brems- und Gaspedal für die Fahrstunden eingebaut.

Da es mein Wagen war, stand er auch vor meiner Tür, natürlich mit der strikten Auflage, dass ich ihn bis zur bestandenen Führerscheinprüfung nur dann bewegen durfte, wenn ein Fahrlehrer nebendran saß. Wenn man es genau nimmt, habe ich mich daran eigentlich auch gehalten. Es hatte schließlich niemand etwas von einem staatlich geprüften

Fahrlehrer gesagt, oder?

Impressum

Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Familie Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Peter

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