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Vorwort

Dies ist eine Leseprobe.

 

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Albnacht

Kapitel Eins

Genaugenommen hatte sie ihn gewarnt. Mehr als einmal. Sie hatte zu ihm gesagt: „Chess, vielleicht wachst du eines Morgens auf und ich bin weg, ohne dass ich dir eine Nachricht hinterlassen kann. Vielleicht dauert es eine Weile, bis ich zurückkomme. Wenn das passiert, hat es jedenfalls nichts mit dir zu tun.“
Er hatte gegrinst und erklärt, er wäre sowieso nicht der Typ fürs Ständig-Aufeinander-Hocken, aber er hätte in den letzten Jahren gelernt zu warten, wenn es sein müsste, auch für eine Ewigkeit.
Sie hatte ihn angelächelt, mit diesem tiefgründigen und undurchsichtigen Lächeln, das ihn manchmal erregte und manchmal auch innerlich schaudern ließ, und behauptet, eine Ewigkeit würde es sicherlich nicht dauern.
„Und was bitte verstehst du unter einer Ewigkeit?“, fragte er lauter als beabsichtigt. Der Nachklang seiner Worte hallte durch die kleine Waldkapelle und obwohl die Aussegnung noch nicht begonnen hatte und die anderen Anwesenden in kleinen Grüppchen beieinanderstanden und sich ebenfalls leise unterhielten, trafen ihn ein paar missbilligende Blicke. Er kümmerte sich nicht darum und starrte weiter auf den Sarg. Also schön. Sie hatte ihn gewarnt. Was sie allerdings vergessen hatte zu erwähnen, war: „Ich werde bald von einem dunkelblauen Van überfahren, und zwar mehrfach, sodass die Polizei Schwierigkeiten haben wird, meine Leiche zu identifizieren und der Sarg bei der Aussegnung leider geschlossen bleiben muss, weil kein Bestattungsunternehmer der Welt in der Lage sein wird, mein Gesicht zu rekonstruieren.“

Sie hatte auch nicht gesagt, dass der Van Fahrerflucht begehen und es bis heute keine Hinweise auf den Schuldigen geben würde. Oder dass die Polizei von einer Art Hinrichtung sprach und er wahrscheinlich immer noch zu den Verdächtigen zählen würde, wenn er nicht ein verlässliches Alibi gehabt hätte.
Einmal Straftäter, immer Straftäter, das war ja schließlich nichts Neues. 

Er wurde durch die Ankunft dreier weiterer Personen in seinen Gedanken unterbrochen. Zwei davon kannte er gut. Es waren Robbie und seine Freundin Alex. Sie entdeckten ihn ebenfalls und Robbie kam mit entschuldigend erhobenen Händen auf ihn zu. „Sorry, Alter, aber diesen Ort hier zu finden ist ja fast unmöglich! Wenn die hier schon mitten in die Pampa eine Kapelle bauen, könnten sie ja wenigstens ein paar Schilder aufstellen.“

Alex begrüßte ihn mit einer sorgenvollen Umarmung und einem freundschaftlichen Kuss. „Hi, Chess. Wie geht’s dir?“ Bevor Chess antworten konnte, drehte sie sich zu Robbie um und warf ihm einen nicht gerade freundlichen Blick zu. „Wenn du einfach auf mich gehört hättest, anstatt sinnlos herumzufluchen, hätten wir uns auch nicht verfahren. Ich habe dir doch gesagt, dass ich den Weg kenne. Ich war schon mal hier.“

„Ach ja?“, fragten die beiden Männer gleichzeitig.
Alex nickte und sah sich mit einer gewissen Ehrfurcht in der Kapelle um. „Allerdings. Das ist ein alter heidnischer Kraftplatz. Die Christen haben einfach eine Kirche darauf gebaut, um zu beweisen, dass sie mehr Macht haben als die alten Götter. So wie an etlichen anderen Orten auch.“
„Du meinst“, begann Robbie mit einem anzüglichen Grinsen, „hier haben früher Hexen nackt im Mondschein getanzt?“
Alex verdrehte die Augen. „Ja, genau. Und manchmal machen sie das auch heute noch. Ellie hat mir den Platz gezeigt.“ Ihre Augen wanderten zum Sarg. Trauer zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.
Robbie, ebenfalls ernst geworden, legte tröstend einen Arm um sie und erkundigte sich: „Was genau läuft hier jetzt eigentlich ab, Chess?“
„Keine Ahnung“, antworte Chess wahrheitsgemäß. Er war noch damit beschäftigt, Alex’ Aussage zu verdauen. Zu erfahren, dass die beiden Frauen schon einmal zusammen hier gewesen waren, machte ihn nicht eifersüchtig – schließlich waren sie gute Freundinnen und hatten oft genug etwas zusammen unternommen. Aber einen kleinen Stich hatte es ihm trotzdem versetzt. Vor allem wegen dieser Endgültigkeit, an die er sich erst noch gewöhnen musste.
Du hast Alex diesen Platz gezeigt. Mir wirst du ihn nicht mehr zeigen.

Es war kein Geheimnis, dass Alex ein Faible für diesen ganzen Hexen-, Mystik- und Neo-Paganismus-Kram hatte, sie ging regelmäßig zu irgendwelchen Versammlungen, um den Frühling oder den Vollmond oder was auch immer zu feiern. Und Ellie war nun einmal eine ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet.
Gewesen, korrigierte sich Chess. Sie ist eine Expertin gewesen.

Er seufzte und fuhr fort: „Ein ganz normaler Gottesdienst, nehme ich mal an. Ich bin zwar mit ihrer Cousine hergefahren, aber wir haben nicht viel darüber gesprochen.“
Alle drei blickten zu der Gruppe, die sich mittlerweile um den dritten Neuankömmling geschart hatte. Der trug ein schlichtes dunkles Gewand mit einem Gürtel und sah eher wie ein Mönch als wie ein Priester aus, hatte aber keine Tonsur, dafür eine durchaus eindrucksvolle Ausstrahlung, die sogar auf die Entfernung zu spüren war.
Robbie betrachtete die Leute und seine Stirn legte sich in Falten. Chess konnte nachvollziehen, warum. Er hatte oft genug mit Ellies Verwandtschaft zu tun gehabt und sich mittlerweile daran gewöhnt, dass die meisten von ihnen ein bisschen seltsam waren, obwohl sie sich heute, dem Anlass entsprechend, weitgehend in gedeckte Farben und eher unauffällig gekleidet hatten. Trotzdem wirkten die Harmloseren unter ihnen immer noch wie eine Mischung aus Alt-Achtundsechziger und modernem Öko-Aktivist. Sie trugen Kleider oder Anzüge, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr in der Mode waren, falls überhaupt jemals. Ellies Tante hatte knallrot gefärbte Haare und wäre auf jeder Halloweenparty als Hexe durchgegangen, während Ellies jüngste Cousine mit ihren langen, dunklen Haaren eher wie eine Schwester von Pocahontas aussah. Am Auffälligsten war ein älterer Mann – Chess kannte ihn noch nicht und bisher hatte sich auch niemand die Mühe gemacht, sie einander vorzustellen. Der Typ hatte jedenfalls mehr Ähnlichkeit mit Catweasel als mit irgendetwas anderem.

Natürlich waren auch ein paar Leute da, die ganz normal und harmlos aussahen, Arbeitskollegen und Freunde von Ellie aus der Uni, Leute aus dem Sportzentrum, ein paar von den Esoterikfreaks, mit denen sie und Alex befreundet waren, aber der größte Teil der Anwesenden bestand eindeutig aus Ellies skurriler Verwandtschaft.
„Na gut“, seufzte Robbie. „Dann werden wir uns mal überraschen lassen.“
„Ich finde es auf jeden Fall toll, dass sie sie hier in diesem Friedwald beerdigen“, sagte Alex und ergänzte sofort: „Na ja, toll ist sicher das falsche Wort. Ihr wisst schon, was ich meine. Die Energie an diesem Ort ist richtig stark. Wenn ihr euch darauf einlasst, könnt vielleicht sogar ihr zwei Banausen etwas spüren.“ 

„Ja, vielleicht“, erwiderte Chess fahrig, der heute wahrlich andere Sorgen hatte, als irgendwelchen Energien nachzuspüren. 
Alex wusste längst, dass ihr Freund Robbie alles, was mit Mystik und Spiritualität zu tun hatte, für ausgemachten Blödsinn hielt und sie wusste auch, dass Chess diesen Dingen zumindest skeptisch und eher kritisch-rational gegenüberstand. Im ersten Jahr ihrer Beziehung hatte sie sich noch bemüht, Robbie zu einem anständigen Heiden zu bekehren, aber sie hatte die Versuche bald aufgegeben, weil es für alle Beteiligten zu peinlich geworden war.
Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass sie Robbie liebte, und deswegen hatte sie sich von ihren Freunden und Bekannten auch schon so einiges anhören müssen. Bisher hatte ihr das wenig ausgemacht. Bisher hatte sie ja auch Ellie gehabt.
Ellie war so ganz anders gewesen als die selbst ernannten Hexen, Schamanen, Heilerinnen und Lichtarbeiter aus ihrer spirituellen Gruppe. Ellie hatte über ein unglaubliches mythologisches und spirituelles Wissen verfügt und es kaum jemals nötig gehabt, dies an die große Glocke zu hängen. Sie hatte sich über Robbies Witzchen genauso amüsieren können wie über die mit größter Ernsthaftigkeit ausgeführten esoterischen Rituale in ihrer Gruppe.

Alex war dabei gewesen, wie Ellie in diesem Wald hier auf irgendeine Art einmal die Kraft der Bäume angerufen hatte, und das war so ergreifend, so magisch gewesen, dass sie es in ihrem Leben nicht mehr vergessen würde. Alex war auch dabei gewesen, ziemlich oft, um genau zu sein, wie Ellie sich im Busters wahlweise mit Bier oder Erdbeerlimes in Stimmung gebracht und dann mit ihrem verrückten und ausdrucksstarken Tanz sämtliche anwesenden Männer um den Verstand gebracht hatte. Ellie hatte nie ein Problem mit Robbie gehabt, ganz im Gegenteil, sie hatte immer verstanden, was Alex an Robbie schätzte. Schließlich war sie selbst über ein Jahr mit Chess zusammen gewesen, und der hatte nun definitiv noch eine Menge mehr auf dem Kerbholz als Robbie!

In die Gruppe um den Priester kam Bewegung. Ellies Tante Heidrun bedeutete Chess und seinen Freunden, sich schon in die Bank zu setzen, zögerte und gesellte sich dann doch kurz zu ihnen. „Wir werden gleich beginnen“, sagte sie mit gedämpfter Stimme zu Chess. „Tut mir bitte den Gefallen und verhaltet euch ruhig, ja?“
„Soll ich vielleicht ich ein paar Worte sagen oder so?“, fragte er.
„Nein“, erwiderte Tante Heidrun, als wäre dieser Gedanke weit hergeholt. „Das wird nur eine einfache Aussegnung, der Priester wird die Rede halten. Wir werden später im Wald noch ein besonderes Ritual feiern, das habe ich dir ja schon erklärt. Nur die Familie“, ergänzte sie mit Blick auf Alex, deren Augen bei dem Wort „Ritual“ kurz aufgeleuchtet hatten.
„Verstehe“, nickte Chess, dem klar war, dass Heidruns Hinweis nicht nur an Alex gerichtet war, sondern auch ihn ausschließen sollte. Er gehörte nicht zu dieser Familie, oder genauer, diese Familie hatte ihm das ganze vergangene Jahr über recht deutlich zu verstehen gegeben, dass er niemals dazugehören würde. Und, ja, es hatte ihn verletzt und verletzte ihn auch jetzt wieder.
Ellie hatte ihm und ihren Verwandten gegenüber immer klargestellt, die Meinung ihrer Familie würde sie in dieser Angelegenheit nicht im Geringsten interessieren, aber Chess wusste genau, dass das nicht stimmte. Sie lebte schließlich immer noch bei ihrer Tante und ihrem Onkel, zusammen mit ihren Cousins und Cousinen und anderen Leuten, die sich regelmäßig in dem großen Haus einquartierten, und war im Grunde ständig mit irgendwelchen Familienangelegenheiten beschäftigt.
Hat gelebt, korrigierte er sich erneut. Sie hat bei ihnen gelebt.

Aus den kleinen Lautsprechern, die Chess erst bemerkte, als er sich danach umschaute, erklang plötzlich Musik. Es war irgendein christliches Requiem, und er fand, dass es an diesem Ort, obwohl es eine Kapelle war, seltsam unpassend wirkte, ebenso unpassend wie die Lautsprecher selbst.
Er setzte sich neben Robbie und Alex in die Bank und schaltete ab. Es interessierte ihn nicht, was der Priester oder Mönch oder was auch immer er war zu sagen hatte. Im Grunde interessierte ihn die ganze Veranstaltung nicht. Er war hier wegen des diffusen Gefühls, es Ellie schuldig zu sein und zu einem guten Teil auch aus Trotz. Schaut her, hätte er den Leuten in den Bänken vor ihm am liebsten zugerufen. Ich bin hier, ob ihr wollt oder nicht, denn Ellie war meine Freundin, ob ihr wollt oder nicht, ich habe sie geliebt, und zwar mehr als irgendeinen anderen Menschen auf dieser verfluchten Welt.

Sie hatten nur etwas mehr als ein Jahr gehabt, doch dieses Jahr war angefüllt gewesen mit ungeahnter Zufriedenheit, oft genug auch ungeahnter Lust, und dem seltsamen und unvertrauten Gefühl, endlich angekommen zu sein, wo auch immer. Selbst wenn er alle glücklichen oder guten oder auch nur halbwegs brauchbaren Momente der zweiunddreißig Jahre davor zusammenrechnete, waren sie doch nur ein schwacher Abklatsch gegen die Zeit mit Ellie. Sie war die Frau seines Lebens, die Frau, von der er schon längst nicht mehr, oder eigentlich noch nie, geglaubt hatte, dass sie tatsächlich existierte. Und jetzt war sie tot. Und er fragte sich mit großer Ernsthaftigkeit, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er sie nie getroffen hätte, wenn er sein kleines, mieses und langweiliges Leben einfach weitergelebt und nie eine Ahnung davon bekommen hätte, was alles möglich sein konnte. Denn dann hätte er auch nie diesen lähmenden und von tiefstem Verlust geprägten Schmerz spüren müssen, der ihn in den letzten Tagen beinahe um den Verstand gebracht hätte.
Er wusste die Antwort, lange bevor er die Frage zu Ende formuliert hatte.

Nach der Aussegnung – der Sarg blieb wie erwartet geschlossen – machte sich eine spürbare Unruhe breit. Viele der Anwesenden gingen nach draußen, der größte Teil von Ellies Familie scharrte sich jedoch um den Sarg. Chess folgte Alex und Robbie, der sich, kaum auf die von der Nachmittagssonne durchflutete Lichtung vor der Kapelle getreten, erst einmal eine Zigarette anzündete. Allein die Tatsache, dass er kein Wort sagte, bewies Chess, wie ergriffen er war, offenbar hatten die Worte des Priesters bei ihm Eindruck hinterlassen. Chess konnte sich an kein einziges mehr erinnern.
Alex schaute auf die Zigarettenschachtel, schien sich aber nicht zu trauen, ebenfalls zuzugreifen, vielleicht weil der Ort für sie irgendwie heilig war. Stattdessen begann sie, sich die Schnitzereien am hölzernen Portal der Kapelle anzusehen, die in dem tief stehenden Licht deutlich hervortraten. Auch sie schwieg und war in ihre eigenen Gedanken versunken. Chess wusste nicht wohin mit sich und war beinahe erleichtert, als sich Svenja, Ellies Cousine mit dem Tick für alles indianische, ebenfalls mit einer Kippe im Mund, zu ihm gesellte. Wenn es in Ellies Familie jemanden gab, der ihm das Gefühl vermittelte, willkommen oder zumindest geduldet zu sein, dann war sie es. Sie war gerade neunzehn geworden, studierte an der Uni und war so verrückt, wie es ein Mädchen in ihrem Alter nur sein konnte. „Puh“, machte sie und blickte demonstrativ zurück zur Kapelle. „Ganz schön dröge, oder?“
„Das war eine Beerdigung“, entgegnete Chess rüder, als er es beabsichtigt hatte. „Was hast du erwartet? Konfetti und Luftballons?“
Svenja kicherte. „Nee, aus dem Alter bin ich glaube ich raus. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum es bei den Christen immer so biederernst zugehen muss, wenn jemand stirbt.“
Chess starrte sie an, er hatte keine Lust und keine Kraft, mit ihr zu streiten und sah auch wenig Sinn darin. „Hat vielleicht was damit zu tun, dass der Verstorbene tot ist“, erwiderte er zu matt, um zynisch zu klingen. „Und dass die Leute ihn vermissen.“
Svenja blickte ihn plötzlich ernst und ein wenig verletzt an. „Ich vermisse Ellie so sehr, dass es mir das Herz zerreißt. Aber glaubst du wirklich, sie hat etwas davon, wenn wir hier wehklagen und jammern? Ihr würde es wahrscheinlich viel besser gefallen, wenn wir eine gigantische Party feiern. Mit Erdbeerlimes und den Pogues statt Messwein und christlichen Chorälen.“
„Ja, vielleicht“, entgegnete Chess und fragte einen Moment später: „Was ist eigentlich mit diesem anderen Typ? Der, mit dem sie an dem Abend zusammen war?“
„Du meinst Harry?“ Svenja schaute sich um. „Ich habe ihn nicht gesehen. Schätze, er hatte Schiss, dir zu begegnen.“
„Den sollte er auch haben.“ Chess atmete durch. Er spürte die Wut, die unter all seiner Trauer brodelte. Aber dies war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Er wusste, wo er sich diesen Harry vornehmen würde. „Bleibst du noch hier, zu diesem Ritual oder was auch immer deine Leute da vorhaben?“
Svenja nickte. „Ich muss. Ist so ein Familiending, weißt du? Ziemlich alte Tradition. Wird wahrscheinlich den ganzen Abend dauern, und die halbe Nacht dazu. Weißt du schon, wie du zurück in die Stadt kommst?“
„Du kannst mit uns fahren“, bot Robbie umgehend an.
Chess gab nickend sein Einverständnis. Svenja warf ihre Zigarette achtlos auf den Boden und umarmte ihn kurz. „Schön, also dann bis irgendwann mal.“
„Bis dann“, sagte Chess. Ellie war tot und Ellie war der einzige Grund, aus dem er ihre Cousine kennengelernt hatte – würden sie sich nach dem heutigen Tag überhaupt noch einmal sehen? Er wollte sich gerade abwenden, da ergänzte Svenja leise: „Sie hat dich verdammt gern gehabt, weißt du das?“
Chess schloss für einen Moment die Augen. „Ja, ich denke schon.“
Er ging ohne sich noch einmal umzudrehen zu Robbies Wagen. Er setzte sich auf die Rückbank und wartete, bis die beiden anderen eingestiegen waren. Robbie drehte sich zu ihm um. „Alles okay?“
„Fahr einfach“, war alles, was Chess sagte.

Sie brauchten beinahe eine Stunde, bis sie wieder in der Stadt waren, und die ganze Zeit über herrschte Schweigen im Wagen. Alex fand es irgendwie bedrückend, es war, fand sie, so ein typisches Männerschweigen, noch schlimmer, ein Gute-Kumpels-Schweigen, bei dem man sich als Frau immer unweigerlich fragte, ob man gerade irgendetwas verpasst hatte. Robbie starrte durch die Windschutzscheibe, Chess durch das Seitenfenster, und trotzdem hatte Alex das Gefühl, sie würden sich irgendwie verständigen. Vielleicht klang ihre Stimme deswegen ein wenig spitz, als sie kurz nach dem Stadttunnel fragte: „Wir beide gehen dann aber schon erst mal zu mir, oder?“
Robbie zögerte nur unmerklich. „Ja klar, hab ich dir ja versprochen.“ Er warf einen Blick durch den Rückspiegel. „Wo soll ich dich absetzen? Zu Hause?“
„Im Busters“, erwiderte Chess düster.
Robbie schaute auf sein Armaturenbrett. „Alter, es ist gerade mal sechs Uhr, was willst du denn jetzt schon im Busters?“
„Sichergehen, dass ich besoffen bin, wenn sie um zwei dichtmachen.“
„Und was ist mit den Klamotten?“
„Was soll damit sein?“
Natürlich hatte Chess sich der Situation entsprechend gekleidet. Er trug dunkle Hosen, ein graues Hemd und ein ziemlich gut sitzendes Jackett, das er einmal für einen ganz anderen Anlass erstanden hatte. Seine lederne Krawatte war zwar auch längst aus der Mode, aber Ellie hatte sie immer gemocht. Groß gewachsen und hager wie er war, standen ihm die Sachen verdammt gut, was ihm die Blicke von Ellies Freundinnen in der Kapelle durchaus bestätigt hatten. Aber das war nicht der Grund, aus dem er darauf verzichtete, sich umzuziehen. Es war ihm schlicht zu viel Arbeit. Er brauchte jetzt ein Bier. Mehr als eins. Viel mehr als eins.
Da Chess nichts weiter sagte, seufzte Robbie und bog am Nordring rechts ab, um den kürzesten Weg ins Busters zu nehmen. Er wusste, jeder Versuch, seinen Freund von etwas anderem zu überzeugen, wäre vollkommen sinnlos gewesen.

Sie kannten sich schon beinahe ihr ganzes Leben lang, seit dem Kindergarten, um genau zu sein, als Robbie noch Robert oder – schlimmer – Robertchen genannt wurde und Chess mit dem wenig segensreichen Namen Detlef herumgelaufen war. Im Unterschied zu heute hatten sie damals nur wenig gemeinsame Interessen gehabt. Robert war ein lauter und meist recht aufmüpfiger Junge gewesen, der gerne Sachen kaputt machte oder kleine Mädchen an den Haaren zog. Detlef war still, zurückgezogen und, wie die Erzieherinnen meinten, oftmals verstockt.
Bis zur Grundschule hatten sie, abgesehen von ein paar Zusammenstößen, nur selten miteinander zu tun, dann bekamen sie jedoch recht schnell Kontakt zu der Gruppe von älteren Jungs, die die Schule, den Schulhof und einen Teil der umliegenden Straßen fest im Griff hatten – Robert als deren Mitglied, Detlef als ihr Opfer.
Mike, der Kopf der Gruppe, erklärte Robert, wenn er bei ihnen mitmachen wollte, bräuchte er einen anständigen Namen, und so wurde er ab sofort Robbie genannt. Robbie machte begeistert mit, wenn sie andere Schüler auf dem Schulhof herumschubsten, ihre Ranzen auslehrten oder ihnen das Pausenbrot oder Taschengeld abzockten. Er fühlte sich großartig dabei.
Detlef versuchte anfangs, den großen Jungs aus dem Weg zu gehen und keine Aufmerksamkeit zu erregen, doch dazu war er auf seine ganz eigene Art zu auffällig. Er hatte wenig zu tun, deswegen lernte er und schrieb häufig gute Noten. Er suchte nach neuen Herausforderungen und brachte sich selbst das Schachspielen bei. Mit acht gewann er den Wettbewerb der Sieben- bis Zehnjährigen, als jüngster Schüler in der Geschichte der Schule. Die meisten freuten sich für ihn. Mike und seine Gang begannen, ihn nach Strich und Faden zu schikanieren.
Dass finanziell bei ihm nicht viel zu holen war, merkten sie recht schnell, er lief sowieso immer in den letzten Klamotten herum. Jacke und Schuhe klauten sie ihm trotzdem, aber nur, um sie vor seinen Augen zu verbrennen. Ihre größte Freude war es, das hölzerne und zusammenklappbare Schachspiel zu ergattern, das er meist mit sich herumtrug. Manchmal reichte es ihnen, mit den Figuren Weitwurf zu spielen, sodass er sie alle wieder zusammensuchen musste. Manchmal zertraten sie das Brett, warfen die Figuren in den Fluss oder steckten sie einfach ein.

Detlef hielt lange still. Wenn er mit Blessuren, zerrissenen Sachen oder ohne Schachbrett nach Hause kam, erfand er irgendwelche Ausreden und musste sich für seine angebliche Achtlosigkeit oder Dummheit noch schelten lassen. Wenn die Jungs ihn in der Mangel hatten, ließ er es ohne Gegenwehr, aber auch ohne Jammern oder Betteln über sich ergehen. Wahrscheinlich wäre es Mike bald zu langweilig geworden, sich mit ihm zu befassen, wenn da nicht eine Sache gewesen wäre: Egal, wie oft sie Detlefs Schachbrett zerstörten oder es ihm wegnahmen, es dauerte immer nur ein paar Tage, bis er wieder ein neues hatte. Robbie zählte mit und konnte später genau berichten, dass das zweite und dritte Grundschuljahr seinen Freund einundzwanzig Schachbretter gekostet hatten. Einige davon hatte Robbie selbst zertreten, erwähnte er meist mit zerknirschtem Unterton dazu.
Doch irgendwann kam der Tag, der alles veränderte. Es war ein später Frühlingsnachmittag, kurz vor Ende der dritten Klasse. Robbie stromerte mit Mike und zwei anderen Jungs durch den Park, getrieben von Langeweile und der Lust, irgendwelchen Leuten Angst einzujagen, als sie plötzlich Detlef entdeckten, der allein auf einer Parkbank in der Sonne saß und gegen sich selbst Schach spielte. Mike setzte ein überlegenes Grinsen auf, versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass seine drei Adjutanten hinter ihm waren und ging zielsicher auf Detlef zu. Der war so vertieft in die Partie, dass er sie erst bemerkte und erschrocken hochfuhr, als es längst zu spät war.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte Mike beißend. „Unseren kleinen Schachbubi, der mit sich selber spielt.“
Die drei anderen lachten, während sie die Bank umringten und Detlef jeden Fluchtweg verstellten. „Lasst mich in Ruhe“, versuchte er sich trotzdem zu verteidigen.
„Oh, unser kleiner Schachbubi ist so mit sich beschäftigt, dass er keine Zeit für uns hat!“
In einer einzigen Bewegung fegte Mike die Figuren vom Brett. „Vielleicht kann er ja jetzt mit uns reden!“
Detlef schaute den Figuren nach, die im Gras gelandet waren. Nur seine Finger bewegten sich. Vielleicht war es ja die Ausweglosigkeit der Situation, die ihn dazu brachte, sich diesmal anders zu verhalten als sonst. Sie würden ihn ja sowieso zusammenschlagen. Den Blick immer noch gesenkt, fragte er: „Wie hast du mich gerade genannt?“
Mike war verblüfft. „Schaut mal an, er redet ja tatsächlich mit uns! Wie ich dich genannt habe? Bist du schwerhörig oder was? Schachbubi! Du bist ein dämlicher, asozialer und schwuler Schachbubi, jawohl!“
Die anderen beiden feixten, nur Robbie hielt sich zurück. Irgendwie merkte er, dass etwas im Busch war. Wenn man sein Leben lang Ärger gestiftet und von Ärger bedroht gewesen war, bekam man ein Gespür für so was, auch wenn man erst neun Jahre alt war.
Detlef schaute immer noch in die Wiese. Er klappte langsam sein Spielbrett zusammen. Es sah aus, als wolle er aufstehen, deswegen machte Mike noch einen Schritt auf ihn zu, um ihn daran zu hindern. Detlef nahm das Brett und rammte es ihm mit voller Wucht in den Bauch.
Mike taumelte ein paar Schritte zurück, eher überrascht als ausgeknockt, aber mehr brauchte Detlef nicht. Er sprang auf, das Brett fest in der Hand, rief: „Wie hast du mich genannt?“ und begann, auf Mike einzuschlagen. Er schlug ihm das Brett gegen die Brust, die Arme und, als Mike zu Boden ging, auch gegen den Kopf und schrie immer wieder, mit überschlagender Stimme: „Wie hast du mich genannt?“
Die anderen beiden großen Jungs standen da wie gelähmt, völlig überrumpelt, weil sich die Situation so schnell und so unerwartet verändert hatte. Hätte Mike ihnen gesagt: „Macht ihn fertig!“, wären sie sofort losgestürmt, doch Mike war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen.
Auch Robbie beobachtete gebannt, welche Gewalten da aus Detlef hervorbrachen und er bekam ein bisschen Angst. Dann hatte er plötzlich einen richtig guten Einfall. „Chess!“, rief er so laut, dass Detlef, schwer atmend, tatsächlich inne hielt. „Was?“
„Chessboy! So hat er dich genannt. Weil du so gut Schach spielst. Chess! Das ist Englisch!“
„Ich weiß, dass das Englisch ist!“, schnappte Detlef beleidigt.
„Also! Das ist ein voll cooler Name, den er dir da gegeben hat.“
„Echt?“, fragte Detlef erstaunt.
„Ja klar. Oder, Leute? Das ist doch ein cooler Name?“
Die beiden Großen versicherten umgehend, dass Chessboy oder Chess ein affengeiler Name wäre und dass er den ja auch verdient hätte, weil er so gut spielen würde und den Wettbewerb gewonnen hätte und überhaupt ein richtig cooler Typ wäre.
„Echt?“, fragte Chess mit einem Stolz in der Stimme, der vorher nicht da gewesen war.
Alle nickten einhellig.
„Okay“, sagte Chess. Er blickte zu Mike, der wimmernd in der Wiese lag, und dann schaute er auf sein Schachbrett. Er rupfte einen Büschel Gras und wischte das Blut ab. Dann bückte er sich und hob den schwarzen König auf. Probehalber warf er den beiden Großen einen ernsten Blick zu, die umgehend damit begannen, die restlichen Figuren einzusammeln, bis alle wieder in dem zusammengeklappten Brett verstaut waren.
„Ich gehe jetzt nach Hause“, erklärte Chess anschließend.
„Ich komme mit“, sagte Robbie, der viel schneller als die anderen kapierte, dass der Wind sich gedreht hatte, dass ihr Anführer kein Anführer mehr war – wie sollte man ein Anführer sein, wenn man sich von einem Jungen fertigmachen ließ, der zwei Jahre jünger war? – und dass es höchste Zeit wurde, sich neuen Aufgaben zu widmen.
Chess musterte ihn kurz, vielleicht dachte er an die einundzwanzig zerstörten Schachbretter, doch dann besann er sich und dachte an die Zukunft. „Okay“, sagte er und marschierte los.
Robbie folgte ihm. Als sie schon eine ganze Weile gegangen waren, erkundigte sich Chess: „Spielst du Schach?“
„Nö. Aber ich kann dafür sorgen, dass sie dich in Ruhe lassen, wenn du spielst.“
„Auch gut.“
Mikes Mutter erstattete noch am selben Abend Anzeige und Chess bekam zum ersten Mal richtig Ärger mit der Jugendhilfe, mit der er schon seit Längerem Kontakt hatte. Es sollte bei Weitem nicht das letztes Mal bleiben. Aber es war für lange Zeit das letzte Mal, dass ihn jemand beim Schachspielen störte.

***

Robbie hielt vor dem Busters und sagte laut: „Wir sind da“, weil Chess keine Reaktion zeigte. Tatsächlich blinzelte er, als würde er aus einer Art Tagtraum erwachen, schaute sich kurz um und öffnete wortlos die Wagentür.
„Ich komm nach“, rief Robbie ihm hinterher. „Ich hoffe, du bist dann noch nüchtern genug, um mich zu erkennen.“
„Kommt drauf an, wann du auftauchst“, erwiderte Chess nur.
Auf dem Weg zur Eingangstür dachte er kurz darüber nach, dass er vielleicht eine Jacke hätte mitnehmen sollen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, es war bereits merklich kühler geworden und ihn fröstelte leicht. Auf der anderen Seite … es fröstelte ihn schon seit Tagen, seit dem Moment, als er die Nachricht von Ellies Tod erhalten hatte.

Das Busters war eine Mischung aus Kneipe und Tanzclub, einer der wenigen anständigen Läden in ihrem Viertel und wie die meisten anständigen Läden fest in der Hand der Russen, genauer gesagt eines Russen, Boris Jelnikoff. Chess kannte ihn gut, er und Robbie hatten schon den ein oder anderen Job für ihn erledigt und Chess hatte für ihn oder wegen ihm oder wie immer man es drehte zweieinhalb Jahre im Knast verbracht. Mit den entsprechenden Kontakten bekam man im Busters, was man wollte – Drinks, Drogen, Waffen oder Frauen, je nach Geschmack und Belieben. Ohne die entsprechenden Kontakte kam man gar nicht erst hinein. 

Chess ging die Treppe hinunter und betrat die großzügige Kellerbar, nicht ohne sich vorher am Automaten eine Schachtel Zigaretten zu ziehen. Es war noch kaum etwas los, aus den Lautsprechern tröpfelte eher ruhige Musik, es klang nach Sadé. Das einzige, was sich auf der Tanzfläche bewegte, waren zwei bunte Scheinwerferlichter. 

Da sie normalerweise nur am Wochenende und meistens auch erst später am Abend herkamen, schaute der Barkeeper entsprechend erstaunt, als er Chess erblickte. Er hieß Andrej, war um ein paar Ecken mit Boris verwandt und ein einigermaßen guter Schachspieler. Chess hatte ihn schon ein paar Mal gewinnen lassen, um es sich nicht mit ihm zu verscherzen.
„Hey. Hast du dich verlaufen oder was machst du um die Uhrzeit schon hier?“
„Gib mir einfach ein Bier.“
„Und was ist das überhaupt für eine Aufmachung? Willst du auf eine … Oh. Tut mir leid. Ist heute der Tag, wo deine Freundin …?“
„Ja. Bekomme ich jetzt was zu trinken oder muss ich vorher erst einen Fragebogen ausfüllen?“
Andrej stellte ihm eine Bierflasche und ein Glas hin, Chess ignorierte das Glas und ging mit dem Bier in der Hand ein paar Schritte den Tresen entlang. Der Barhocker, den er anpeilte, war zum Glück noch frei. Wäre er besetzt gewesen, hätte er den Gast entweder bestochen oder ihm eine aufs Maul gehauen, damit er sich einen anderen Platz suchte. Genau hier, an der Ecke der Bar, wollte er heute Abend sitzen. Genau dort, wo er vor einem Jahr und gut drei Monaten gesessen war, Robbie neben, ein Bier und eine Schachtel Zigaretten vor sich.

Es war eine beschissene Zeit gewesen, damals. Vier Wochen vorher war er erst entlassen worden und immer noch damit beschäftigt gewesen, sich in seinem alten oder in seinem neuen Leben, je nach dem, von welcher Seite man es betrachtete, zurecht zu finden. Er hatte einen beschissenen Job annehmen müssen, sein Bewährungshelfer lag ihm in den Ohren, er solle Abstand von seinen alten Kontakten nehmen und seine alten Kontakte lagen ihm in den Ohren und wollten wissen, wann er wieder für sie arbeiten würde.
Boris hatte ihn bereits drei Tage nach seiner Entlassung zu sich zitiert. Chess war mit Robbie irgendwo hinten an einem der Tische gesessen, als Zlatko plötzlich neben ihm aufgetaucht war, einer von Boris’ Gorillas. „Der Boss will dich sprechen.“
Chess hatte sich umgesehen. „Wo ist er denn?“
„Draußen im Wagen.“
„Sag ihm, ich habe kein Interesse.“
Zlatko ließ ihn einen kurzen Blick auf sein Pistolenhalfter werfen. „Ich glaube schon, dass du Interesse hast.“
Chess war versucht, ihm zu erklären, dass es in einer öffentlichen Kneipe voller Besucher manchmal zu seltsamen Reaktionen kam, wenn plötzlich jemand eine Waffe zog, aber dann stand er doch auf. Wenn Boris ihn sprechen wollte, würde er ihn sprechen, es sei denn, Chess würde unverzüglich einen Charterflug nach Papua-Neuguinea nehmen, aber dafür fehlten ihm zurzeit definitiv die Mittel.
Er folgte Zlatko nach draußen und stieg in die großzügige Limousine.
„Chess, mein Junge“, begrüßte ihn Boris mit einem wohlwollenden Grinsen. „Ich habe gerade gehört, dass sie dich entlassen haben. Wie geht es dir?“
Boris war kaum älter als Chess, doch sein rasanter Aufstieg in der Szene erlaubte es ihm, so ziemlich jeden als seinen Jungen zu bezeichnen.
„Geht soweit“, antwortete Chess knapp. Er spürte, dass seine Hände feucht wurden, und er ärgerte sich darüber. Er hatte nur zweieinhalb von seinen vier Jahren absitzen müssen, weil er im Knast den Kopf eingezogen und sich aus sämtlichem Ärger herausgehalten hatte. Und er hatte überhaupt nur deswegen vier Jahre bekommen, weil er beharrlich über seinen Auftraggeber und seine Komplizen geschwiegen hatte. Boris wusste das. Und Boris hatte über seine Kontakte dafür gesorgt, dass Chess im Knast weitgehend Ruhe gehabt hatte vor den Leuten, die Ärger suchten. Von daher war nicht so ganz klar, wer jetzt wem etwas schuldete oder ob sie quitt waren, und das machte Chess nervös.
„Kam recht plötzlich, mit deiner Entlassung, oder nicht?“, fragte Boris und sein Ton war nicht mehr ganz so wohlwollend.
Chess zuckte mit den Achseln. „Schon. Wahrscheinlich haben sie den Platz gebraucht.“
„Und es gab keine Bedingungen? Oder Vereinbarungen?“
„Das Übliche. Innerhalb von vierzehn Tagen einen Job suchen, einen festen Wohnsitz angeben, einmal die Woche zum Bewährungshelfer und das Land nicht verlassen.“
Boris’ Stimme wurde leise und bedrohlich. „Hast du einen Deal gemacht, Chess?“
Obwohl Chess nervös war, hielt sich seine Angst in Grenzen. „Nein. Du weißt, dass ich keinen Deal gemacht habe. Sonst hättest du mich schon im Knast fertiggemacht.“
Boris lachte. „Ja, mag sein. Obwohl auch mir manchmal etwas entgeht. Aber ich glaube dir. Sonst würdest du deine Entlassung wohl kaum in meinem Club feiern, nicht wahr? Brauchst du einen Job?“
Chess seufzte. „Einen mit Lohnsteuerkarte und Krankenversicherung, ja. Ich bin auf Bewährung.“
Boris grinste. „In dieser Branche ist nicht allzu viel zu verdienen.“
„In der anderen habe ich in letzter Zeit ziemlich draufgezahlt.“
Zlatko, der sich neben ihn gesetzt hatte, rammte ihm zielsicher den Ellbogen in die rechte Niere. Chess krümmte sich und brauchte einen Moment, bis er wieder Luft bekam. Boris hob beschwichtigend die Hand. „Zlatko, bitte. Das ist ein Gespräch unter Freunden, nicht wahr? Ich hatte angeboten, dir einen Anwalt zu besorgen, Chess. Aber du wolltest nicht, also beschwere dich jetzt nicht über die Kosten, die dir entstanden sind.“
Es gab so einiges, was Chess gerne dazu gesagt hätte, zum Beispiel, dass er von der vereinbarten Summe für den Job, für den er in den Knast gegangen war, bisher keinen Pfennig gesehen hatte. Gut, die Sache war komplett in die Hose gegangen, aber das war ja nun wirklich nicht seine Schuld gewesen. Doch er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es in solchen Momenten besser war, zu schweigen. Den Schmerz in seiner Seite brauchte er da gar nicht als Erinnerung.
Boris beobachtete ihn und schien nur darauf zu warten, dass er sich beschwerte. Nach einer Weile holte er einen Kugelschreiber aus seiner Jacke und schrieb eine Adresse und eine Telefonnummer auf einen Zettel, den er anschließend Chess reichte. „Hier.“
„Was ist das?“, fragte Chess skeptisch.
„Ein Bekannter von mir hat eine große Lagerhalle am Hafen. Sag ihm, dass ich dich schicke, dann gibt er dir einen Job. Auf Lohnsteuerkarte und wenn du Glück hast auch mit Krankenversicherung. Verdienen wirst du dabei nicht viel, dafür ist dein Bewährungshelfer glücklich. Und wenn du für einen anständigen Job bereit bist, sag mir Bescheid.“
Chess nickte. Gemocht hatte er Boris noch nie, aber er konnte nicht allzu wählerisch sein, jetzt noch viel weniger als früher. „Danke.“
„Wozu hat man Freunde, hm? Und jetzt verschwinde. Sag Andrej, die Rechnung heute geht auf mich.“

Unterdessen im Wald

„Soweit hätte es niemals kommen dürfen, Ansgar.“
„Ich weiß, Heidrun. Es war eine Verzweiflungstat. Niemand konnte ahnen, dass diese Leute sich tatsächlich einmischen. Aber sie hat das einzig Richtige getan. Anders hätten wir sie nicht beschützen können.“
„Ja, das ist wohl so. Trotzdem ... Ich hatte gehofft, Harald wäre besser in der Lage, auf sie aufzupassen.“
„Offenbar war er das nicht. Altes Blut allein ist kein Garant für Stärke. Er lebt mehr in der äußeren Welt als in seiner eigenen.“
„Chess hätte auf sie aufgepasst“, erklärte eine junge Frau bestimmt, die mit ihren dunklen, langen Haaren ein bisschen wie eine Indianerin aussah.
„Mag sein“, erwiderte der Mann, der Ansgar hieß und entfernt an Catweazle erinnerte. „Aber es ist müßig, darüber nachzudenken. Lasst uns lieber beginnen. Es wird Zeit, sie zurückzuholen.“

Kapitel Zwei

Chess rieb sich, an seinem Eckplatz an der Bar, die Augen. Was war heute nur los mit ihm? Er war eigentlich kein Typ, der viel über die Vergangenheit nachdachte. Aber Ellies Tod und diese seltsame Beerdigung hatten so viele alte Wunden aufgerissen, ihn so vollkommen in sein altes Leben hineinkatapultiert, von dem er etwas mehr als ein Jahr lang gedacht hatte, dass er ihm endgültig entkommen wäre.
Damals hatte er sich zehn Tage lang die Hacken nach einem Job abgelaufen, doch als ungelernter Straftäter auf Bewährung standen seine Chancen mehr als miserabel. Einen Tag vor dem nächsten Termin mit seinem Bewährungshelfer war er dann zum Hafen gegangen und hatte sich von Boris’ Bekanntem eine Stelle geben lassen. Es war nicht die Art der Tätigkeit, die ihn so lange hatte zögern lassen. Er hatte schon härtere Jobs für weniger erledigt. Was ihm Bauchschmerzen bereitet hatte, war das Gefühl, Boris schon wieder etwas schuldig zu sein.

Chess bestellte noch ein Bier und blickte sich in der Kneipe um. Mittlerweile war es etwas voller geworden, der eigentliche Ansturm würde jedoch noch etwas auf sich warten lassen. Die meisten Leute kannte er vom Sehen. Ein Typ grüßte und machte Anstalten, sich neben ihn zu setzen, ließ sich aber durch seinen Blick und vielleicht auch durch seine düstere Aufmachung von der Hirnrissigkeit dieser Idee überzeugen.
Chess war aus zwei Gründen hier. Aus drei, genaugenommen. Er wollte sich besaufen, er wartete auf jemanden und er wollte sich an den Abend vor einem Jahr und gut drei Monaten erinnern. Den Abend, an dem er auf genau diesem Barhocker gesessen war. Den Abend, an dem Robbies Freundin Alex – die beiden hatten sich irgendwann in der Zeit kennengelernt, als Chess im Knast gewesen war – Ellie mit ins Busters gebracht hatte.

Robbie hatte die beiden Frauen entdeckt und ihn mit einem „Da sind sie“ auf sie aufmerksam gemacht. Chess hatte sich umgedreht und das Erste, was er gedacht hatte, war: Oh wow! Ellie war kleiner und zierlicher als Alex, wirkte aber auf eine seltsame Weise viel präsenter als sie. Ihre Klamotten waren weder besonders figurbetont noch besonders modern – sie trug Jeans, bequeme Stiefel und ein flippiges Oberteil – schienen ihr aber wie angegossen zu passen. Sie hatte sich ein buntes Tuch in ihre rotbraunen Haare gebunden, was ihr ein verwegenes und gleichzeitig irgendwie vertrauenswürdiges Aussehen verlieh. Nichts als Widersprüche, vom allerersten Moment an. 

Alex stellte sie einander vor, sie übernahm für eine Weile die zwanglose Konversation und dann tat sie Chess den Gefallen – ohne dies direkt zu beabsichtigen, nahm er an, vielleicht steckte aber auch Kalkül dahinter – und überzeugte Robbie davon, mit ihr auf die Tanzfläche zu gehen. Ellie setzte sich neben ihn auf den frei gewordenen Barhocker.
„Willst du auch tanzen?“, fragte er anstandshalber.
„Später vielleicht“, antwortete sie. „Ich muss erst noch ein bisschen warm werden. Ich war noch nicht allzu oft hier. Du?“
„Ja, ich bin ziemlich regelmäßig da“, sagte er und dachte: Abgesehen von den letzten zweieinhalb Jahren.

„Wenn du was wissen willst, frag ruhig.“
Er bemerkte selbst, dass sein letzter Satz recht dämlich geklungen hatte, und Ellie begann prompt zu grinsen. „So ganz allgemein, jetzt?“
Chess lächelte entschuldigend. „Klar. Ich bin echt gut im Fragen beantworten.“
„Trifft sich gut. Mir wird gelegentlich vorgeworfen, ich würde zu viele stellen. Gelten persönliche Fragen auch?“
„Was immer du willst“, sagte Chess ergeben, dem schon jetzt, aus mehreren Gründen, ein wenig mulmig war.
Ellie tat, als müsste sie erst überlegen. „Gut, also ... dein Spitzname. Hast du den, weil du so gut oder weil du so miserabel Schach spielst?“
Chess lachte. „Ich hoffe doch mal, weil ich so gut spiele. Früher habe ich sogar ein paar Wettbewerbe gewonnen, zurzeit bin ich ein bisschen aus der Übung.“ Er hatte im Knast gelegentlich gespielt, aber keinen Gegner gefunden, der eine echte Herausforderung gewesen wäre.
„Und wie heißt du richtig?“
Chess fand, sie wurde ganz schön schnell persönlich, es störte ihn jedoch nicht im Geringsten. „Detlef. Aber verrate es keinem.“
„Warum?“, fragte sie entrüstet. „Das ist ein guter Name. Er kommt aus dem Altnordischen und bedeutet: Sohn des Volkes. Die Söhne der Stammesführer wurden früher so genannt.“
„Wow“, sagte Chess, ernsthaft beeindruckt. „Das habe ich nicht gewusst.“
„Schade.“
Es entstand ein kurzes Schweigen. Chess beschloss, ihrer Spur zu folgen. „Ellie ist doch bestimmt auch eine Abkürzung, oder?“
Sie lächelte wieder. „Allerdings. Meine Familie ist ein bisschen altmodisch, was Namen angeht. Ich heiße Eldrid. Die Feuerreiterin.“
Es sollte noch eine Weile dauern, bis Chess feststellte, dass Ellies Familie nicht nur bezüglich der Namen ein bisschen altmodisch war. Fürs Erste stellte er nur fest: „Du kennst dich ziemlich gut aus mit so was, oder? Namen und Sprache und so?“
Ellie nickte. „Ja. Ich arbeite an der Uni.“
Es sollte bescheiden klingen und Chess fiel auf, dass das eine nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hatte, schließlich arbeiteten an der Uni auch Reinigungskräfte und Kantinenfrauen und andere Leute, die wahrscheinlich noch nie im Leben über die Herkunft ihres Namens nachgedacht hatten.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, war es jetzt an ihr, entschuldigend zu lächeln und sie ergänzte: „Ich habe Ethnologie und Germanistik studiert und seit einem Jahr eine Assistenzstelle bei meinem alten Prof.“
„Nicht schlecht“, sagte Chess und dachte: Junge, das hier ist eine Nummer zu groß für dich.

Prompt wollte sie wissen: „Und was machst du?“
„Ich ... mh ... bin in der Logistikbranche tätig.“
„Klingt interessant“, sagte sie ganz ernsthaft.
Chess hatte normalerweise wenig Probleme damit, die Wahrheit zu seinen Gunsten zurecht zu biegen oder auch glatt zu lügen, wenn es die Situation erforderte. Doch aus irgendeinem Grund hatte er an diesem Abend keine Lust, Storys zu erzählen. „Wenn du es genau wissen willst: Ich arbeite in einem Lagerhaus am Hafen. Container entladen, Waren sortieren, Waren zusammenstellen und in Lkws laden, mehr ist es nicht.“
Er erwartete Enttäuschung, stattdessen fragte sie mit einer gewissen Begeisterung in der Stimme: „Kannst du Gabelstapler fahren?“
Chess nickte nur. Er hielt den Staplerschein nicht unbedingt für die größte seiner Errungenschaften, er fuhr lieber anständige Autos, aber Ellie schien andere Prioritäten zu haben. „Nimmst du mich mal mit?“
„Ähm ... ja, kann ich machen. Wenn mein Chef mal im Urlaub ist oder so.“
„Cool. Gibst du mir einen Drink aus?“
Das mulmige Gefühl in seinem Bauch verstärkte sich. Wobei es kein schlechtes Gefühl war. Er war es nur nicht gewohnt, dass Frauen – normale Frauen, also keine Professionellen – so direkt, so ungekünstelt, so echt in jeder Hinsicht waren.
„Klar. Was willst du haben?“
„Erdbeerlimes.“
Er musste schon wieder lachen. „Bist du sicher?“
„Absolut.“
„Also schön. Andrej? Noch zwei Bier und für die Lady einen Erdbeerlimes.“
Ellie schaute ihn direkt und ziemlich tief in die Augen. „Ich bin keine Lady.“
„Nein? Was dann?“
„Mal sehen ... vielleicht findest du es ja noch heraus. Ich glaube, nach dem Limes habe ich Lust zu tanzen. Bist du dabei?“

***

Chess wurde erneut in seinen Gedanken unterbrochen, als sich jemand direkt neben ihn an die Bar stellte. „Hey, Alter. Hier steckst du.“
Chess musterte die Person. „Kennen wir uns?“
„Blödmann“, grinste Robbie. „Verarschen kann ich mich alleine. Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du zugedröhnt bist. Sorry, dass es so lange gedauert hat.“
„Wieso, wie spät ist es?“
Robbie setzte sich und schaute demonstrativ zu der großen Uhr über der Bar. „Kurz nach zehn.“
Chess war irritiert. „Schon? Komisch. Ich habe das Gefühl, als wäre ich erst seit einer Stunde hier oder so.“
Robbie runzelte die Stirn. „Wohl doch ein bisschen viel getankt, was? Andrej, wie viele hat er schon?“
Andrej hob die Hand und streckte zwei Finger in die Luft.
„Von zwei Bier wirst du nicht besoffen“, stellte Robbie fest.
„Das ist es auch nicht“, versuchte Chess zu erklären. „Ich muss nur dauernd an irgendwelches komisches Zeug denken. Ich frage mich, was Ellies Leute heute Abend noch im Wald anstellen. Oder mir fallen Geschichten von früher ein, wie ich Ellie kennengelernt habe oder die Sache mit Mike damals, erinnerst du dich noch?“
„Dunkel“, erwiderte Robbie skeptisch.
„Ich habe schon ewig nicht mehr dran gedacht. Vorhin im Auto ist mir wieder alles eingefallen, ich konnte mich beinahe an jedes Wort erinnern.“
„Hm. Na ja, ist ja kein Wunder, wenn nach so einem Tag wie heute alles ein bisschen durcheinander gerät. Ich würde vorschlagen, wir holen jetzt nach, was du in den letzten vier Stunden versäumt hast. Andrej, noch zwei Bier und eine Flasche Whisky. Was sind’n das übrigens für Zigaretten? Rauchst du wieder?“
Chess starrte auf die Packung, die er sich vorhin gezogen hatte und die immer noch unberührt vor ihm auf dem Tresen lag. In seinem ersten Jahr im Knast hatte er sich das Rauchen abgewöhnt, weil Zigaretten als Währung wertvoller waren denn als eigenes Genussmittel. Man bekam zum Beispiel Sonderlieferungen aus der Gefängnisbücherei. Oder, wenn man ein halbes Jahr lang eisern sparte, ein eigenes Schachbrett und die Figuren dazu.
Kaum entlassen, hatte er wieder angefangen zu rauchen, aber irgendwie hatte es ihm nicht mehr viel gegeben und Ellie war sowieso meistens ziemlich genervt(gewesen) von dem Qualm. Chess wusste selbst nicht genau, warum er die Schachtel heute gekauft hatte. Vielleicht einfach nur aus Trotz. 

Da er keine Antwort gab, zuckte Robbie nur mit den Achseln und nahm sich eine Zigarette heraus. Sie stießen mit dem Whisky an, schwiegen und beobachteten, was um sie herum geschah. Robbie fiel auf, dass Chess sich häufiger umschaute als sonst. „Wartest du auf jemanden?“
„Jep.“
„Auf wen?“
„Siehst du dann schon.“

Robbie musste sich nicht mehr allzu lange gedulden. Er bemerkte, wie sich die Augen seines Freundes plötzlich weiteten, wie er einen großen Schluck des gerade nachgefüllten Whiskys nahm, aufstand und zur Eingangstür ging. Robbie schaute in die gleiche Richtung, sagte laut: „Oh Scheiße!“ und folgte Chess.
Der war bereits an seinem Ziel angekommen. Ohne Vorwarnung packte er einen blonden Kerl am Kragen, der gut zehn Jahre jünger aussah als er und recht schicke Klamotten anhatte. Die anderen Gäste protestierten zwar, ein paar Mädels kreischten erschrocken, doch niemand hielt ihn auf. Vielleicht dachten sie aufgrund seiner düsteren Kleidung, er würde in offizieller Mission handeln. Er zerrte den Kerl in die nächste Ecke und drückte ihn gegen die Wand. „Ich glaub’s nicht, ey! Du Wichser traust dich tatsächlich noch hierher? Nach dieser Scheiße, die du gebaut hast?“
„Ich konnte doch nichts dafür!“, krächzte der Typ ängstlich.
„Ach nein?“, rief Chess wütend. „Ich dachte, du solltest bei Ellie bleiben und auf sie aufpassen. Stattdessen holst du dir im Kino einen runter, während sie draußen auf der Straße zusammengefahren wird!“
Er spürte, dass die anderen Gäste langsam näherkamen und ihn umringten. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis sich jemand einmischte. Wahrscheinlich würde er dann endgültig die Fassung verlieren. Ihm war durchaus klar, dass sich schwere Körperverletzung nur schlecht mit seinen Bewährungsauflagen vereinen ließ. Es war ihm egal. Sollten sie ihn doch wieder in den Knast stecken.
Plötzlich stand Robbie hinter ihm. Mit verschränkten Armen und souveränem Blick fixierte er die Umstehenden. „Leute, das hier ist Privatsache, überhaupt nichts Dramatisches, nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Also geht einfach weiter und habt einen schönen Abend, alles klar?“
Die meisten Gäste wussten schon, dass es im Busters gelegentlich zu Schlägereien kam und auch, dass Boris oder einer seiner Leute die Angelegenheit meist schnell regelte. Die Menge zerstreute sich langsam. Chess musste für einen winzigen Moment lächeln. Wie schon so oft sorgte Robbie dafür, dass er in Ruhe arbeiten konnte.
Er wandte sich wieder dem jungen Kerl zu und starrte ihn wütend an.
„Das war doch alles ganz anders“, versuchte der sich zu verteidigen.
„Tatsächlich?“ Chess zog ihn noch ein Stück weiter zu einem der Tische und drückte ihn unsanft auf die Bank an der Wand. Anschließend zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf. „Dann erzähl’ mir, wie es war.“
Der Junge öffnete den Mund, Chess hob die Hand. „Warte. Robbie, kannst du den Whisky holen?“
„Klar. Ich glaube, ich bringe ihm auch ein Glas mit.“

Als Robbie zurück kam, war Chess’ Wut noch nicht verraucht, er spürte sie immer noch brodeln, dicht an der Oberfläche, aber er hatte sich wieder halbwegs im Griff. Er schenkte ein Glas voll und reichte es dem Jungen. „Hier. Du heißt Harry, oder?“
„Harald, ja“, sagte er und betrachtete das Glas, als wäre es ein Schierlingsbecher. Doch dann kippte er den Whisky souverän, ganz offenbar war es nicht sein erster Drink.
„Ich höre“, drängte Chess.
Haralds Stimme klang immer noch ein wenig schrill. „Am Anfang war es ein ganz normaler Abend. Wir waren zusammen im Kino, Ellie wollte unbedingt diesen Film sehen. Sie hat noch gesagt, in so romantische Schnulzen bekommt sie dich nie hinein.“
„Schön. Weiter“, sagte Chess und verbarg recht gekonnt, dass es ihm schon wieder einen Stich versetzte.
„Und dann ... der Film lief schon eine ganze Weile, da wurde sie plötzlich unruhig. Sie sah gar nicht gut aus, meinte aber nur, sie müsse mal kurz aufs Klo.“
„Und du Held bist nicht auf die Idee gekommen, mal nach ihr zu schauen?“, fragte Robbie.
„Sie hat gesagt, ich soll sitzen bleiben, egal, was passiert, sie würde auf jeden Fall gleich wiederkommen. Der Film ging nur noch eine halbe Stunde, ich habe gedacht, sie würde vielleicht im Foyer warten. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie schon drei Straßen weiter war!“
„Und du hast nichts gemerkt? Irgendjemand, der euch gefolgt ist? Es muss doch einen Grund gehabt haben, warum sie so nervös geworden und rausgegangen ist.“
Harald schüttelte mit großen Augen den Kopf. Chess glaubte ihm. Er war wahrscheinlich noch nie in seinem Leben verfolgt worden und von daher auch nicht besonders geübt, auf solche Dinge zu achten.
Chess seufzte. Im Grunde war ihm klar gewesen, dass er von diesem Kerl nicht allzu viel Neues erfahren würde. Eines interessierte ihn allerdings noch. „Wieso warst du heute Nachmittag nicht auf der Beerdigung?“
Harald wirkte plötzlich zerknirscht. „Sie wollten nicht, dass ich komme. Tante Heidrun meinte, du würdest wahrscheinlich Ärger machen.“
Chess schnaubte. „Ja klar. Der Gadscho hat ja schließlich schon vom ersten Moment an Ärger gemacht, was?“
„Gadscho?“, fragte Harald befremdet.
„Ja. Darum geht es doch, oder nicht? Um dieses beknackte Sinti-und-Roma-Ding.“
„Hat Ellie dir das erzählt?“
Chess war zu aufgebracht um zu bemerken, wie verwundert Harald war. „Sie hat gesagt, ihr gehört zu irgendeiner alten Volksgruppe und eure Leute reagieren immer ziemlich angepisst, wenn ihr euch mit Außenstehenden einlasst. Oder geht es doch darum, dass mein Bankkonto zu klein und meine Polizeiakte zu lang ist?“
„Nein ... nein, ich glaube nicht. Sie dachten nur, du wärst ... ich weiß es nicht. Sie haben versucht, das Richtige zu tun.“
„Indem sie mich ausbooten und stattdessen so einen Milchbubi wie dich aus dem Hut zaubern, ja?“
Robbie legte Chess eine Hand auf die Schulter. „Komm schon, Alter. Lass es gut sein. Die Dinge werden sich nicht ändern, wenn du ihm eine in die Fresse haust.“
Chess streifte die Hand ab. „Das ist auch der einzige Grund, warum ich es nicht tue.“ Er atmete durch. „Ich will dich hier nicht mehr sehen, klar?“
„Das ist nicht deine Kneipe“, entgegnete Harald trotzig.
„Nein. An deiner Stelle würde ich es trotzdem nicht darauf anlegen.“
Chess stand auf, nahm sein Glas und die Flasche und ging zurück zur Bar.
„Mach dich vom Acker, Kleiner“, ergänzte Robbie drohend und folgte seinem Freund.

Chess setzte sich auf seinen Barhocker, trank das Glas leer und dann nahm er sich eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und machte ein paar genüssliche Züge, wie jemand, der sein Tagwerk erfolgreich hinter sich gebracht hatte.
„Und was jetzt?“, fragte Robbie.
Chess hob die Schultern. „Lass uns von hier verschwinden.“
„Gute Idee. Wir können in die Altstadt fahren und uns irgendwas suchen, wo wir unsere Ruhe haben.“
„Nein. Nach Hause.“
„Jetzt schon?“ Robbie klang enttäuscht.
Chess reagierte nicht.
Robbie seufzte. „Wenn’s sein muss. Dann nehmen wir den Whisky mit und holen uns noch ein paar DVDs. Die Videothek am Einkaufszentrum hat bis zwölf offen.“
„Meinetwegen.“

Sie zahlten und machten sich auf den Weg ins Gewerbegebiet, Chess blieb im Wagen und rauchte noch eine, während Robbie in den Laden ging und einige Filme aussuchte. Er schaute die hellerleuchtete Schnellstraße entlang, die die Hauptverbindung zwischen dem Hafenviertel, in dem sie lebten, und dem Rest der Stadt bildete. Früher, vor gut hundert Jahren, als der Schiffshandel noch eine ernst zu nehmende wirtschaftliche Rolle gespielt hatte, war es ein reiches und lebendiges Viertel gewesen, bevölkert von Kaufleuten, Händlern und Reisenden aus der ganzen Welt. Die riesigen Lastkräne hatten haufenweise Güter von den Schiffen geholt, wertvolle Kolonialwaren und Rohstoffe, die in den großen Betrieben der Stadt weiterverarbeitet wurden.
Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Die Lastkräne moderten vor sich hin oder wurden nach und nach demontiert, um wenigstens mit dem Alteisen noch Gewinn zu machen. Die reichen Leute und die Händler waren längst weggezogen, dafür hatte die Arbeitslosigkeit Einzug gehalten. Die großen Häuser aus der Gründerzeit standen noch, verfielen jedoch immer mehr, die Grundstückspreise und Mieten sanken ins Bodenlose und zogen zwielichtige Spekulanten an. Die Kriminalitätsrate stieg parallel zum Drogenkonsum, es gab haufenweise Leute, die daran zugrunde gingen und ein paar wenige, die damit reich wurden.
Frischer Wind war aufgekommen, als die Stadt in den Siebzigern nach billigem Baugrund gesucht und genau zwischen Hafenviertel und Altstadt den neuen Universitätskomplex errichtet hatte. Junge Studenten, die sich frei und erwachsen fühlten, weil sie den Zwängen von Elternhaus und Schule endlich entronnen waren, überschwemmten auf der Suche nach billigen Wohnungen die Gegend. In der heruntergekommenen und verruchten Atmosphäre des Hafenviertels fanden sie einen gewissen Reiz, und natürlich auch die Drogen, die sie brauchten, um ihr anstrengendes Leben zwischen Partykeller und Hörsaal zu bewältigen. Den kulturellen Schock, der beim Aufeinanderprallen dieser so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen entstanden war, verkraftete das Viertel erstaunlich gut und es dauerte nicht lange, bis man sich miteinander arrangiert hatte.

Chess kannte es nicht anders. Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, wenn man von der Zeit im Knast und den drei Jahren Kinderheim am anderen Ende der Stadt absah. Allerdings hatte er nie besonders lange am selben Ort gewohnt. Als Jugendlicher hatte er zwei Pflegefamilien verschlissen, bis man ihn mit sechzehn in ein betreutes Wohnen und eine Ausbildungsmaßnahme steckte, die er kurz darauf schon wieder abbrach. Ein Jahr später gaben die Behörden es auf und legten ihm nahe, sich etwas Eigenes zu suchen. Er und Robbie arbeiteten zu dieser Zeit schon regelmäßig für Dimitri, Boris’ Vorgänger, und Chess verdiente sich ein Zubrot, indem er in den Kneipen alte Männer beim Schachspielen abzockte. Sie quartierten sich im Sommer in leer stehenden Wohnungen ein und kamen im Winter bei irgendwelchen Freunden unter. Ab gesehen von der permanenten Bedrohung durch Gesetzeshüter oder anderen Typen, die einem an den Kragen wollten, war es ein erstaunlich sorgenfreies Leben gewesen.

***

„Hey, träumst du schon wieder?“, erkundigte sich Robbie.
Chess hatte nicht bemerkt, dass er mittlerweile ins Auto gestiegen war, einen Stapel DVD-Hüllen, ein Sixpack und ein paar Tüten Chips im Arm.
„Ich habe mich grade gefragt, wann ich in meine erste eigene Bude gezogen bin.“
Robbie musterte ihn skeptisch. „Junge, dieser ganze Scheiß heute ist dir echt nicht gut bekommen. Hast du überhaupt jemals eine eigene Bude gehabt? Du hast dich doch ständig bei deinen Weibern einquartiert.“
„Stimmt auch wieder.“

Aus diesem Grund hatte er im Knast auch irgendwann ein Problem bekommen. Seine damalige Freundin hatte schon längst mit ihm Schluss gemacht, nicht etwa, weil er ein Verbrechen begangen hatte, sondern weil er sich hatte erwischen lassen, was ihn ihrer Ansicht nach zum Loser abstempelte. Sie hatte seine Sachen bei Robbie vorbeigebracht – viel mehr als eine Kiste voll war es nicht – und nie wieder etwas von sich hören lassen.
Als der Sozialarbeiter ihm eine vorzeitige Bewährung in Aussicht stellte, betonte er, das Wichtigste dabei wäre ein fester Wohnsitz. Chess nutzte seine Telefonmünzen, um mit Robbie über das Problem zu sprechen, der versprach sich umzuhören. Etwa vier Wochen vor dem Entlassungstermin kam er ihn besuchen und erwähnte wie nebenbei: „Übrigens, ich bin umgezogen.“
„Is wahr?“, fragte Chess mäßig interessiert. „Hat Alex dich doch überredet, mit ihr zusammenzuziehen?“
„Quatsch! Ich zieh’ doch nicht mehr mit einer Frau zusammen, du weißt doch, dass das bei mir immer in die Hose geht. Außerdem will sie nicht aus der Altstadt weg und da geh’ ich ganz bestimmt nicht hin. Nee, was Eigenes, ne Dreizimmerwohnung, zwischen Park und Güterbahnhof. Ganz nette Ecke.“
Der Güterbahnhof war größtenteils stillgelegt, eben weil es am Hafen nur noch so wenig Warenverkehr gab, und der Park, in dem früher reiche Kaufleute lustgewandelt waren, beherbergte heute vorwiegend Obdachlose und Junkies.
„Was willst du denn bitte mit einer Dreizimmerwohnung?“, hakte Chess nach. „Hast du vor, ein Stundenhotel aufzumachen?“
Robbie lachte. „Hey, du bringst mich echt auf eine Idee! Aber im Ernst ... ich dachte, du kannst eins von den Zimmern haben.“
„Ich?“
„Ja. Okay, es ist echt ne Bruchbude, irgendwie muss ich’s ja finanzieren, bis du einen Job findest. Wenn es nichts ist, kannst du dir auch was anderes suchen, aber wenigstens hättest du erst mal ne Adresse.“
Chess war nicht besonders geübt mit solchen Situationen. „Hey, das ... Cool. Danke.“
„Vergiss es. Ich bin dir schließlich was schuldig.“
„Du bist mir überhaupt nichts schuldig“, erwiderte Chess ernst.
„Doch, bin ich. Du hättest mich ganz schön mit reinreiten können.“
„Und was hätte ich davon gehabt?“
„Ein halbes Jahr weniger, zum Beispiel“, schlug Robbie mit leiser Stimme vor.
Chess schüttelte den Kopf. „Ach was. Es reicht wirklich, wenn einer von uns hier drinnen versauert.“

An dem Tag, als Chess entlassen wurde, wartete Robbie vor dem Gefängnis auf ihn. Chess fand keine Worte um zu beschreiben, wie unglaublich gut sich dieser Moment anfühlte, weil es so selbstverständlich, so vertraut, so normal war, zu seinem Freund in den Wagen zu steigen. Sie wechselten nicht viele Worte auf der Fahrt und als sie an die Stadtgrenze kamen, hatte Chess zum ersten Mal in seinem Leben das diffuse Gefühl, tatsächlich nach Hause zu kommen.
Robbie hielt vor dem großen Mehrfamilienhaus am Güterbahnhof, das auch nicht schlimmer aussah als die anderen Häuser in dieser Gegend. Die Wohnung war winzig, ja, aber im Vergleich zu seiner Gefängniszelle kam sie Chess wie ein wahrer Palast vor. Es gab eine Küche, ein Klo mit Dusche und ein Wohnzimmer, das zumindest über die wichtigsten Einrichtungsgegenstände – Couch, Fernseher und DVD-Player – verfügte.
„Und das wäre dann dein Zimmer“, kündigte Robbie an und öffnete die nächste Tür. Chess sah ein Polsterbett, einen Sessel, einen Schrank mit kaputtem Scharnier und an der nackten Wand ein Poster von Linkin Park, kein zusammengefaltetes aus irgendeiner Zeitschrift, sondern ein recht guter Druck.
Weil er den Blick seines Freundes nicht deuten konnte, fuhr Robbie fort: „Die Kiste mit deinen Sachen steht dahinten, deinen CD-Player habe ich mir ausgeliehen, weil meiner den Geist aufgegeben hat. Ich bring’ ihn dir gleich. Was denkst du?“
Chess schaute sich, nach wie vor um Worte bemüht, noch einmal um. Dann grinste er. „Das Poster ist cool.“
Robbie entspannte sichtlich. „Ein kleines Willkommensgeschenk.“
„Und wo sind die Möbel her?“
„Hm ... sagen wir mal ... vom Laster gefallen.“
Aus der Müllpresse gezogen trifft es wahrscheinlich eher, dachte Chess, aber er hatte nicht den geringsten Grund, sich zu beschweren. Er stellte die Tasche, die er aus dem Gefängnis mitgebracht hatte, auf das Bett, setzte sich und war damit quasi eingezogen. 

„Willkommen im normalen Leben“, rief Robbie grinsend. „Hast du schon überlegt, was wir machen heute Abend?“
Chess schaute zweifelnd zu ihm auf. Zweieinhalb Jahre lang hatte er sich von anderen Leuten sagen lassen müssen, was er als nächstes tun oder wohin er gehen sollte, er war es einfach nicht mehr gewohnt, selbst darüber zu entscheiden.
Robbie fand das nicht tragisch. „Was hältst du davon: Ich bestell’ uns jetzt erst mal ne Pizza und dann gehen wir ins Busters und saufen so lange, bis wir nicht mehr stehen können.“
Chess seufzte. „Klingt verdammt gut. Wenn du beim Italiener anrufst, bestell mir Zigaretten mit.“
„Du kannst von mir eine haben“, bot Robbie sofort an.
„Ich weiß. Aber darum geht’s nicht. Ich will einfach wieder eine Schachtel einstecken haben, ohne mir überlegen zu müssen, wozu ich sie brauchen kann.“

***

An diesem Abend nach Ellies Beerdigung, etwa eineinhalb Jahre nach seinem Einzug, als er und Robbie so außergewöhnlich früh nach Hause kamen, hatte Chess sich längst mit den Wohnverhältnissen arrangiert. Er wusste, den Boiler im Bad durfte man nur anschalten, wenn nicht gleichzeitig die Kaffeemaschine oder der Staubsauer liefen, weil sonst unweigerlich die Sicherung rausflog. Das warme Wasser reichte sowieso nur für höchstens zehn Minuten Duschen. Er wusste, dass die Heizkörper die meiste Zeit über nur lauwarm blubberten, egal, wie hoch man sie aufdrehte oder wie oft man sie entlüftete. Er wusste, der Typ in der Wohnung neben ihnen rastete mindestens einmal im Monat aus und zertrümmerte dem Krach nach das halbe Mobiliar und das Pärchen über ihnen ging jedes Wochenende offenbar recht ausgefallenen Sexpraktiken nach.
Aber es war seine Bude. Na ja, genaugenommen war es immer noch Robbies Bude, doch so fühlte es sich nicht an, es machte eben doch einen Unterschied, ob man mit seinem besten Kumpel zusammenwohnte oder sich bei dem Mädel einquartierte, mit dem man gerade zusammen war.
Obwohl Chess mittlerweile recht gut verdiente, wesentlich besser zumindest als in der Zeit direkt nach dem Knast, hatte er keinerlei Ambitionen, sich eine andere Bleibe zu suchen. Das Bett und den Schrank hatte er inzwischen ausgetauscht und sich für seine Bücher und andere Kleinigkeiten, das Schachbrett zum Beispiel, ein Regal zugelegt. Den Sessel besaß er immer noch, weil er wirklich bequem war, er hatte sich auch noch einen kleinen Tisch dazu besorgt. Das Poster hing nach wie vor an der nackten Wand.

Robbie lud Bier, Chips und DVDs auf dem Wohnzimmertisch ab und holte auch die noch fast halb volle Flasche Whisky hervor, die sie aus dem Busters mitgebracht hatten.
„Und? Worauf hast du Bock?“
Chess warf einen kurzen Blick auf die Filme. „Lass mal“, sagte er dann, während er sich ein Bier aus dem Karton holte. „Ich geh’ rüber.“
„Na toll“, maulte Robbie. „Warum bin ich dann überhaupt mit hergekommen?“
„Vielleicht, um dir endlich mal in Ruhe den neuen Tarantino anzuschauen?“, schlug Chess spöttisch vor.
„Ja, klar. Übrigens, kann ich morgen deinen Wagen haben? Alex braucht meinen, weil sie zu ihren Eltern fahren will.“
„Meinetwegen. Schlüssel liegt in der Küche. Aber ...“
„Ich weiß schon“, unterbrach Robbie ihn. „Ich werde ganz bestimmt keinen Kratzer in dein Heiligtum machen.“
„Ich hoff’s für dich“, erklärte Chess, schnappte sich trotz Robbies Protests noch eine Tüte Chips und verzog sich in sein Zimmer.
Er ließ sich in seinen Sessel fallen, öffnete die Chips und das Bier, zündete sich eine Zigarette an, stellte fest, dass er keinen Aschenbecher im Zimmer hatte und benutzte stattdessen eine leere Flasche, die noch vom Vorabend herumstand. Er warf einen Blick auf das Schachspiel, das auf dem Tisch aufgebaut war, mitten in einer Partie. Für einen Moment vergaß er alles andere um sich herum, schaute konzentriert und nachdenklich auf die Figuren und machte mit dem schwarzen Läufer einen Zug. Kurz betrachtete er sich das neue Gesamtbild, dann ließ er sich wieder zurück in den Sessel sinken und nahm einen kräftigen Schluck Bier.
Seine Gedanken begannen von ganz allein zu treiben. Er fragte sich kurz, ob Ellies Verwandte immer noch im Wald waren, dachte an die Begegnung mit Harald und dann unweigerlich wieder an den ersten Abend mit Ellie, kurz nach seiner Entlassung.

Sie hatten getanzt, er hatte ihr noch einen Limes spendiert, sie hatten sich über alle möglichen belanglosen Themen unterhalten, ohne dass es jemals langweilig geworden wäre, und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, war sie verschwunden. Er machte sich auf die Suche nach Alex. „Hast du eine Ahnung, wo Ellie steckt?“
Sie schaute sich automatisch um. „Nein, wieso?“
„Na ja, ich hab sie schon eine Weile nicht mehr gesehen, aber sie hat nichts gesagt, deswegen dachte ich ...“
„Oh. Na ja, das ... nimm’s nicht persönlich, das ist bei ihr manchmal so.“
„Was?“
„Dass sie plötzlich verschwindet. Manchmal sagt sie noch ‚Tschüss’, aber auch das kommt oft völlig unvermittelt. Meistens sagt sie gar nichts. Ist ein bisschen blöd, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran.“
„Okay. Du hast bestimmt ihre Telefonnummer, oder?“
„Ja, aber meinst du nicht, es ist besser, wenn sie dir ihre Nummer persönlich gibt?“
Ihr anzügliches Lächeln ärgerte ihn ein bisschen, aber er ging nicht darauf ein. „Wahrscheinlich schon. Denkst du, es besteht irgendeine Chance, dass sie heute noch mal auftaucht?“
„Eher nicht. Aber ich glaube, es hat ihr gut gefallen. Ich kann sie bestimmt überzeugen, nächsten Samstag wieder mitzukommen.“
Chess suchte trotzdem noch einmal den ganzen Laden nach Ellie ab, ging sogar nach draußen, um zu sehen, ob sie irgendwo auf der Straße stand.
Die Woche über malochte er im Lagerhaus und kassierte einen fetten Anschiss, weil er eine Lieferung falsch zusammengestellt hatte. Er ging zu dem Termin mit seinem Bewährungshelfer und erinnerte sich schon nach fünf Minuten an kein einziges Wort mehr, das der Sozialarbeiter zu ihm gesagt hatte. Er saß abends mit Robbie vor dem Fernseher und kapierte nicht, worum es ging.
Am nächsten Samstag drängte er früh ins Busters, Robbie und Alex kamen gemeinsam, sie erklärte, Ellie würde wohl noch auftauchen, sie wisse es aber nicht genau. Und dann, plötzlich, war sie da, so selbstverständlich, als wäre zwischen diesem und dem vergangenen Wochenende überhaupt keine Zeit vergangen. Lächelnd kam sie auf ihn zu. „Hi. Schön, dich zu sehen.“
„Ja, das ... das Gleiche wollte ich auch gerade sagen. Wie läuft’s so?“
Sie seufzte. „Ganz gut. Ziemlich viel Stress an der Uni zurzeit. Mein Prof hat ein neues Forschungsprojekt, ist wirklich spannend, fordert aber auch ganz schön.“
„Okay“, nickte Chess und fragte, mehr um das Gespräch aufrecht zu erhalten denn aus echtem Interesse: „Worum geht es?“
„Um die tatsächliche Rolle der Frauen und weiblichen Göttinnen in der Alten Mythologie, bei den Germanen und Kelten und so.“
Sie bemerkte seinen skeptischen Blick und lachte. „Wenn du willst, erzähle ich dir was darüber. Aber wenn es dich nicht interessiert, können wir auch gerne das Thema wechseln.“
„Nein, passt schon. Ein kleines bisschen kenne ich mich aus, zumindest habe ich die Edda mal gelesen.“
„Im Ernst?“, fragte sie beeindruckt.
Ich hatte zweieinhalb Jahre Zeit, dachte er und sagte: „Ja, ich hatte mal ne Weile nicht allzu viel zu tun, da bin ich auf solche verrückten Ideen gekommen.“

„Glaub mir, es gibt weit Schlimmeres, als die Edda zu lesen“, erklärte sie schmunzelnd und fuhr dann ernster fort. „Aber genau darum geht es zum Beispiel. Snorris Bericht ist erst um 1200 entstanden und er kam aus einer christlichen Gesellschaft, in der die Frauen nicht mehr allzu viel zu sagen hatte, also kann man schon mal anzweifeln, ob seine Geschichten wirklich authentisch sind.“
„Na ja, die letzten Wikinger wurden doch sowieso erst um 1000 bekehrt, dann ist die Zeitspanne doch gar nicht so lang.“
Sie stutzte und machte dann ein amüsiertes Gesicht. „Alex hat dir erzählt, dass ich mich mit diesen Sachen beschäftige, oder?“
„Nein“, protestierte Chess. „Ich kenne Alex doch kaum.“
Jetzt blickte Ellie skeptisch. „Sie hat gesagt, du wärst Robbies bester Freund.“
„Ja, schon.“ Als die beiden sich kennengelernt haben, war ich allerdings noch damit beschäftigt, Zahnstocher in kleine Pappschachteln zu zählen.

„Aber das heißt ja noch lange nicht, dass ich ihren Lebenslauf auswendig lernen muss, oder? Außerdem finde ich es viel spannender, wenn du mir erzählst, womit du dich beschäftigst.“
Sie lächelte schon wieder. „Also schön, du hast es ja nicht anders gewollt. Suchen wir uns einen Tisch?“
Es wurde alles andere als ein langweiliges Gespräch, Ellie kannte sich wirklich gut aus und sie erzählte so lebendig von Asen und Wanen, den beiden germanischen Göttergeschlechtern, als würde sie diese Leute persönlich kennen. Chess konnte das ein oder andere beitragen oder zumindest interessierte Fragen stellen. Irgendwann begann er sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, ob er Robbie bitten sollte, ihm den Wagen zu leihen, damit er Ellie nach Hause oder vielleicht auch ganz woanders hin fahren konnte. Er sagte: „Sorry, ich muss mal ganz kurz was erledigen, soll ich dir noch was zu trinken mitbringen?“
„Nicht nötig. Ich geh’ jetzt sowieso.“
„Schon?“, fragte er und ärgerte sich, dass seine Stimme so offensichtlich enttäuscht klang.
Sie lächelte. „Ja.“
Sie nahm ihre Jacke und stand auf. „Bis nächste Woche. Ich komme wahrscheinlich am Freitag zur Siebzigerparty.“
Chess schaute ihr hinterher. Er verspürte das Bedürfnis, sich kurz zu schütteln. Irgendwas ging ihm gerade entschieden zu schnell.

Anderswo

Es war dunkel.
Die Dunkelheit war so tief, dass sie sie nicht sah , sondern eher wahrnahm, mit mehr als den gewöhnlichen Sinnen, die ihr normalerweise zur Verfügung standen. Es war nicht unangenehm, nein, es fühlte sich warm und behaglich an, friedlich sogar, ganz anders, als sie es gewohnt war. Ganz kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es nicht gut war, hier allzu lange zu verweilen, dass es nicht richtig war und vielleicht sogar gefährlich. Dies war kein Ort für die Lebenden. War sie denn überhaupt noch lebendig? 

Die Gedanken verschwanden so schnell, wie sie entstanden waren. Warum nicht eine Weile ausruhen? Warum sich nicht treiben lassen, in dieser wohligen Dunkelheit, ohne Ziel, ohne Wollen, aber auch ohne Kampf?

Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie einen Gesang hörte, sehr leise und aus weiter Ferne. Erinnere dich.

Aber woran sollte sie sich erinnern? Erinnere dich, wer du bist, Feuerreiterin.

Was spielte es für eine Rolle, wer sie war oder was ihre Aufgabe war? Es war doch sowieso alles vergangen, oder vielleicht war es auch niemals geschehen, oder noch nicht, es machte keinen Unterschied.
Doch dann entstand vor ihr in der Dunkelheit ein Bild. Es war das Bild eines Mannes, der sich mit konzentriertem Blick über ein Schachspiel beugte. Sie kannte dieses Gesicht. Sie spürte die Trauer, die Wut und auch die Stärke, die sich darin spiegelte. Sie wurde von einem Gefühl der Zärtlichkeit ergriffen, das so tief war, dass sie kurz erschauderte. Sie wusste, dieses Gesicht war es Wert, sich daran zu erinnern.
Der Gesang wurde lauter. Sie erkannte die Stimmen. Sie riefen sie zurück.
Seufzend, mit einem Gefühl des Verlustes, weil sie diesen friedlichen Ort verlassen musste, machte sie sich auf den Weg.

 

 

Ende der Leseprobe. Die Fortsetzung dieser spannenden Geschichte findet Ihr hier: 

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Impressum

Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Coverbild von Heike Helfen
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2013

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