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Angst




Er würde zu spät zum Essen kommen. Seine Mutter wollte Spaghetti machen, zumindest hatte sie ihm das heute Morgen erzählt, und es gab wirklich niemanden auf der Welt, der sich besser auf Hackfleischsoße verstand als sie. Doch er würde nicht rechtzeitig da sein.
Idiotisch, gerade jetzt daran zu denken. Das stechende Gefühl in seinem Magen rührte schließlich nicht daher, dass er Hunger hatte. Sondern daher, dass er zu lange und zu schnell gelaufen war. Und immer noch lief. Aber er durfte nicht anhalten. Noch nicht. Sie waren nach wie vor hinter ihm.

Ohne langsamer zu werden, warf er einen Blick über die Schulter. Die Straße war leer. Er spürte die Erleichterung, die sich breit machen wollte, hörte die Stimme seines Körpers, die ihm riet, anzuhalten und seine Lungen endlich wieder ordentlich mit Sauerstoff zu füllen. Als er, nur um sicher zu gehen, erneut nach hinten schaute, sah er, wie sie gerade um die Ecke bogen. Klaus Reuter und seine beiden Freunde, der eine hieß Max, den Namen des anderen kannte er nicht.
Der Abstand war etwas größer geworden, doch sie hatten offenbar noch nicht aufgegeben. Schon als er ihnen vorhin in die Augen gesehen hatte, war ihm der Verdacht gekommen, dass sie es heute auch nicht tun würden.
Das Gefühl der Erleichterung zerrann, während er versuchte, noch schneller zu laufen. Der seltsam metallische Geschmack in seinem Mund blieb.

Sie hatten ihn direkt nach der Schule abgepasst und wenn es ihm gelänge, rechtzeitig in seinem Versteck anzukommen, wenn er endlich stehen bleiben und durchatmen konnte, würde er sich wahrscheinlich ärgern, weil er nicht besser aufgepasst hatte. Sie hatten ihn schon eine ganze Weile auf dem Kieker, warum, wusste er gar nicht so genau. Vor ein paar Wochen hatte Klaus ihn gefragt, ob er ihm fünf Euro leihen würde, doch er hatte sich geweigert. Angst hatte er damals noch keine vor ihm gehabt, Klaus und seine komischen Freunde waren einfach nicht die Sorte Schulkameraden, die er gerne um sich hatte. Er gehörte nicht zu den Strebern, er gehörte eigentlich auch nicht zu den Losern, er gehörte zu denen, die in der Masse untergingen und deswegen normalerweise auch in Ruhe gelassen wurden. Zumindest bis zu diesem Tag.

Beim nächsten Sportunterricht war jemand in die Umkleideräume geschlichen und hatte ihm den Geldbeutel aus dem Rucksack geklaut. Besonders viel war nicht drin gewesen, trotzdem wollte seine Mutter Anzeige erstatten, doch er hatte sie von der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens überzeugen können. Kurz darauf hatte dieser Max ihn im Flur angerempelt, sodass er mit der Schulter recht schmerzhaft gegen die Wand geknallt war. Er hatte nichts gesagt. Auch nicht, als Klaus mit seinen blöden Sprüchen angefangen hatte. Auch nicht, als sie ihm seinen Mp3-Player abgenommen hatten. Irgendwann hätte es auch wieder aufgehört. Er hätte es schon durchgestanden.
Letzte Woche hatten die drei ihn in der großen Pause auf dem Schulhof umringt, die üblichen Sprüche, das übliche Herumschupsen. Doch ihr Vertrauenslehrer hatte die Szene beobachtet, war dazwischengegangen und hatte mit Klaus ein längeres Gespräch in seinem Büro geführt. Als sie sich am kommenden Tag im Gang begegnet waren, hatte Klaus ihm zugeraunt: „Beim nächsten Mal bist du fällig!“

Seitdem hatte er aufgepasst. Hatte versucht, nie mit Klaus oder Max allein im Klassenzimmer zu sein, hatte es wenn möglich vor ihnen verlassen, hatte sich immer in einem Pulk von Leuten bewegt und auf dem Schulhof sehr genau Ausschau gehalten, wo sich die drei befanden. Meistens war er sogar mit dem Bus nach Hause gefahren, obwohl es nur zwei Stationen waren und er eigentlich viel lieber zu Fuß ging. Er mochte es, allein zu sein und in Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen.

Bis heute Mittag hatte er Glück gehabt. Vielleicht war er deswegen so nachlässig geworden. Eigentlich wollte er möglichst schnell nach Hause, weil er sich so auf die Spaghetti freute. Er hatte schon vor dem Gong zusammengepackt und war als einer der Ersten aus dem Klassenzimmer gekommen.
Auf den unteren Treppen hatte es sich wie üblich gestaut und dann hatte er registriert, wer direkt vor ihm ging. Lisa Mehring. Noch bevor er sie erkannt hatte, war ihm der Sandelholzduft in die Nase gedrungen, den sie so häufig trug. Sie war zwei Jahre älter als er – unerreichbar also – doch er liebte sie, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie gehörte gar nicht mal zu den angesagtesten Schulschönheiten, diese eingebildeten Zicken hatten ihn noch nie sonderlich interessiert, außerdem wäre ihm die Konkurrenz auch viel zu groß gewesen. Trotzdem war Lisa seiner Meinung nach das schönste, anmutigste, wunderbarste Mädchen, das es auf diesem Planeten gab.
Er hatte in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr als acht oder zehn Sätze mit ihr gewechselt, er wusste ja, er hätte sowieso keine Chancen bei ihr, doch das machte ihm nur wenig aus. Er verehrte sie im Stillen und Geheimen und war sogar ein wenig stolz, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die ihr wahres Wesen erkannt hatten.

Vorhin also war sie direkt vor ihm gewesen und im Gedränge unten an der Treppe waren ihr die Bücher, die sie getragen hatte, aus der Hand gerutscht. Ohne Nachzudenken war er in die Hocke gegangen, um ihr beim Aufsammeln zu helfen, und als er aufgesehen hatte, war ihr Gesicht direkt vor seinem gewesen. Ihren kühlen, wie immer ein wenig abweisenden Blick kannte er schon, doch plötzlich hatte sie ihn angelächelt. „Danke“, hatte sie gesagt und für einen kurzen Moment hatten sich ihre Hände berührt, als sie ihre Bücher an sich genommen hatte. Einen Augenblick später war sie im Pulk der anderen Schüler verschwunden.
Er hatte gar nicht versucht, ihr zu folgen, war wie in Trance nach draußen gegangen, hatte kaum registriert, als ihm der Bus vor der Nase weggefahren war.
Seine Füße hatten sich automatisch auf den Heimweg gemacht, während er an nichts anderes denken konnte als an dieses Lächeln. So lange, bis ihn die hämische Stimme von Klaus aus seinen Gedanken gerissen hatte.
„Sieh’ mal einer an, da ist ja unser kleiner Hosenschisser. Weißt du, dass ich mir wegen dir eine Stunde Gelaber von Herrn Beck anhören musste? Ich finde, dafür hat er eine Strafe verdient. Was meint ihr?“
Die beiden anderen hatten überzeugt genickt.
Er war in einer solchen Hochstimmung gewesen, dass er sogar noch versucht hatte, mit ihnen zu reden. „Hey, tut mir leid, okay? Ich kann ja nichts dafür, dass der Beck euch gesehen hat.“
In diesem Moment waren die Augen von Klaus gefährlich schmal geworden. „Hast du was gesagt? Hast du es gerade gewagt, mich anzusprechen, du Penner?“ Dann hatte er gegrinst. „Ich habe dir doch gesagt, heute bist du fällig!“

Erst jetzt hatte er es verstanden. Genaugenommen hatte es zuerst sein Körper verstanden. Sein Herz hatte plötzlich angefangen, heftig zu schlagen, ihm war mit einem Mal wahnsinnig kalt und für einen winzigen Moment hatte er das Bedürfnis verspürt, sich zusammenzukauern und ganz klein zu machen. Doch das hatte er nicht getan. Stattdessen war er losgerannt.

Endlich erreichte er das Gelände der alten Gießerei. Hier wurde schon seit Jahrzehnten nichts mehr produziert und ebenso lange warnten die großen Schilder mit der Aufschrift „Privatbesitz – Betreten verboten“ die Passanten davor, sich in den leer stehenden Hallen herumzutreiben. Da die großen Löcher im Zaun nicht von ihm stammten, schien er jedoch nicht der Einzige zu sein, der diese Ermahnung nicht sonderlich ernst nahm. Er wusste, nachts herrschte hier oft reger Betrieb, er hatte schon Spritzen, Kondome und andere skurrile Dinge auf dem Gelände gefunden. Er selbst kam natürlich nur tagsüber her, nachmittags oder direkt nach der Schule, so wie heute. Normalerweise kam er, um allein zu sein, und weil er dieses spezielle Kribblen liebte, das er oft verspürte, wenn er durch die Gebäude streifte. Es war der Reiz des Verbotenen, gepaart mit einer großen Portion Entdeckerfreude und der unterschwelligen Angst, erwischt oder unvermutet Zeuge einer gefährlichen Situation zu werden. Manchmal war er Polizist auf der Suche nach Drogenschmugglern, manchmal war er Vampirjäger, manchmal war er ein Soldat im Krieg. Nicht heute. Heute war er nur ein Junge auf der Flucht.

Er bückte sich, um durch den Zaun zu klettern, musste einen Moment warten, weil er wirklich kaum noch Luft bekam, und dann blieb er auch noch mit seiner Jacke hängen. Eigentlich hatte er gehofft, sein Vorsprung wäre groß genug, damit er ungesehen hindurchschlüpfen und sich verstecken könnte, doch Max entdeckte ihn und während sie ihn über das Gelände verfolgten, schmolz der Abstand zwischen ihnen weiter dahin. Er schaffte es in eine der Lagerhallen und erst dann wurde ihm klar, dass er schon wieder einen Fehler gemacht hatte. Er kannte sich doch so gut aus hier, er hätte sich ein verwinkeltes oder mehrstöckiges Gebäude aussuchen können, hätte untertauchen können wie ein Spion, der von feindlichen Geheimdiensten verfolgt wurde. Irgendwann hätten die drei schon das Interesse verloren. Doch er hatte sich ausgerechnet diese riesige, beinahe vollkommen leere Halle ausgesucht.
Er hörte das Knirschen der Glasscherben unter seinen Füßen, die von den zerschlagenen Fensterscheiben stammten. Er hörte hinter sich das Quietschen der Tür, als die drei die Halle betraten. „Da ist er“, rief Max triumphierend.
Trotzdem lief er weiter. Er würde laufen, bis er umfiel. Doch so weit kam er nicht. Er lief bis zur gegenüberliegenden Tür und während er daran rüttelte und zog und sein Verstand langsam registrierte, dass sie verschlossen war, hatten die drei ihn eingeholt und umringt.
Er hörte auf, an der Tür zu rütteln und drehte sich um.
Er wusste nicht, ob das Rauschen in seinen Ohren daher kam, dass er sich so verausgabt hatte. Alle Geräusche wirkten auf einmal seltsam gedämpft, auch das höhnische Lachen von Klaus. Dafür war sein Blick mit einem Mal erstaunlich klar. Er sah die Gesichter seiner Peiniger, die Glasscherben auf dem Boden, die Stahlstreben der Dachkonstruktion und die offenstehende Tür auf der anderen Seite, die Lichtjahre entfernt schien. Trotzdem startete er einen letzten Versuch, schob seinen Kopf und seine Schulter nach vorne wie ein Rugbyspieler und rannte los.
Max oder der andere Typ stellte ihm ein Bein. Er schlug der Länge nach hin und als er sich mit den Händen abfing, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz. Er hatte sich an einer Glasscherbe geschnitten und für einen Moment betrachtete er seine blutende Hand, als würde sie nicht zu ihm gehören. Als ein Paar Turnschuhe in seinem Blickfeld auftauchten, veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Sie hat mich angelächelt, dachte er.

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Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: http://img.seenby.de/user/bero-beinlich/img/h596/angst.jpg
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2013

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