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Vorwort

 

 

Dies ist eine Leseprobe der Kapitel I bis IV. Die Fortsetzung dieser Geschichte findet Ihr hier: 

als E-book:

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als Printbook:

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Brecht ist tot!

 

 


Eine Jugend in den Achtzigern

Junge – Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose.
Und ständig dieser Lärm! (Was soll ’n die Nachbarn sagen?)
Und dann noch deine Haare, da fehlen mir die Worte –
Musst du die denn färben? (Was soll ’n die Nachbarn sagen?)
Nie kommst du nach Hause, wir wissen nicht mehr weiter!
Junge – Die Ärzte

 

 

 

 

I

„Brecht ist tot! Na das ist ja nun wirklich mal eine bahnbrechende Erkenntnis!“

Ich schielte hinüber zu meinem Kollegen, genauer zu meinem Lieblingskollegen, der vor allem deswegen mein Lieblingskollege war, weil wir ein paar Mal miteinander geschlafen hatten und uns immer noch völlig unverkrampft begegnen konnten. Wir saßen zusammen in der Redaktion, das Thermometer zeigte schon jetzt dreißig Grad, obwohl es erst halb zwölf war. Das Telefon hatte zweimal geklingelt, ansonsten war noch nichts Ereignisreiches passiert. Wir hörten Siebziger-Jahre-Hits im Radio – einer der Vorteile der Großstadt, man konnte sich die Sender aussuchen – und in der Stimme meines Kollegen spiegelte sich die ganze Trägheit des Vormittags.Ich zündete mir eine Zigarette an und verkniff mir ansonsten jede Reaktion. Sollte sich das Memo, das er gerade las, noch in anderer Hinsicht als interessant herausstellen, würde er mich sicher umgehend informieren. Es dauerte nur eine halbe Minute. 

„Sag mal, Sasha, Hellstadt, ist das nicht das Kaff, in dem du aufgewachsen bist?“
Diesmal blickte ich halbwegs interessiert von meinem Rechner auf. Ich mühte mich gerade damit ab, meine Spesenrechnung der letzten drei Monate zusammenzustellen, was den Berg von Tankquittungen und Restaurantabrechnungen auf meinem Schreibtisch erklärte. Nicht gerade der Teil meines Jobs, den ich am meisten liebte. „Ja, schon. Warum?“
„Wie es aussieht, geht da gerade ganz schön die Post ab, wegen einer Avantgarde-Ausstellung, die so ein verrückter Typ aus Berlin inszeniert hat.“
„Ein Typ aus Berlin? In Hellstadt? Kann gar nicht sein. Und wenn dort die Post abgeht, ist es ganz bestimmt nicht das Hellstadt, aus dem ich komme. In dem Kaff geht nämlich nie die Post ab.“
„Doch klar, es kann gar keine andere Stadt sein. Hier steht sogar ein Name, Matthias Herdmann, hast du mir von dem nicht schon mal erzählt?“
Er schaute immer noch auf die Notiz, die er in der Hand hielt, deswegen bekam er nicht mit, wie mir für einen kurzen Moment die Gesichtszüge entgleisten. Ich war gerade dreißig geworden und dieser Name brachte mich immer noch aus der Fassung. Ja, ich hatte meinem Kollegen schon einmal von Matze Herdmann erzählt. Und ich hatte ganz bestimmt dazugesagt, wie sehr ich bemüht war, ihn und alles, was mit ihm zusammenhing, gänzlich zu vergessen.
Mein Kollege redete indes munter weiter. „Er scheint dieses Projekt organisiert zu haben.“
„Und ‚Brecht ist tot!’ ist der Titel der Ausstellung?“, riet ich.
Als mein Kollege bestätigend nickte, hatte ich keine Zweifel mehr, dass es sich um mein Hellstadt und in diesem Sinne wohl auch um meinen Matze Herdmann handelte.
Mein Kollege fuhr fort: „Offenbar läuft die halbe Stadt Amok, weil die Bilder und Exponate so provokativ sind. Die Ausstellung sollte geschlossen werden, inzwischen haben sich ein paar Jugendliche in den Räumen verschanzt, um sie zu verteidigen. Das klingt doch nach einer richtig spannenden Story. Ich glaube, Werner hätte gerne, dass einer von uns mal hinfährt und sich das anschaut.“
Werner war unser Boss und der Chefredakteur der kleinen, in gewissen Kreisen durchaus bekannten Kölner Kulturzeitung, für die ich seit einem halben Jahr arbeitete. Ich hatte hart um diesen Job gekämpft und mochte ihn wirklich gerne. Ich mochte auch Werner gerne und wunderte mich überhaupt nicht, dass solch eine Geschichte sein Interesse weckte, auch wenn sie sich in der hinterletzten Provinz ereignete. Was nichts daran änderte, dass ich den Vorschlag vollkommen bescheuert fand.
„Ich habe Karten für die Vernissage von der Monet-Ausstellung heute Abend“, wandte ich auf der Suche nach einer haltbaren Ausrede ein. „Über die müssen wir auf jeden Fall einen Artikel bringen.“
„Oh, das nehme ich dir gerne ab“, sagte mein Kollege und grinste anzüglich. „Da kommt bestimmt auch diese Diana Keller von ars vivendi . Vielleicht kann ich ja diesmal bei ihr landen.“

Ich ignorierte seinen Kommentar. „Und am Wochenende wollte ich endlich meine letzten Umzugskisten auspacken.“ Meine Argumente wurden nicht unbedingt stichhaltiger.

Da wir gerade allein in der Redaktion waren, kam er an meinen Schreibtisch, beugte sich zu mir hinunter, grub seine Nase in meine Haare und säuselte mir ins Ohr: „Klingt verlockend. Aber sieh’s doch mal so: Du kennst die Leute da unten, das gibt dem Artikel eine ganz andere Brisanz und du wirst wahrscheinlich viel eher etwas aus ihnen herausbekommen. Auf Spesenrechnung die alte Heimat zu besuchen, hat doch auch was. Jetzt komm schon, Alexandra, das kann richtig groß werden!“
„Hör’ auf, mich so zu nennen!“, schimpfte ich und befreite mich aus seiner Umarmung. Seit ich ihm erzählt hatte, dass Sasha vom Ursprung her eine Koseform von Alexandra ist, zog er mich ständig damit auf.
Wäre es nach dem Willen meiner Mutter gegangen, hätte sie mich sicherlich auch Alexandra genannt – nach der Sängerin, die Ende der Sechziger so populär war. Ich kam knapp drei Wochen nach ihrem tragischen Unfalltod auf die Welt, am 18. August 1969, um genau zu sein. Mein Vater setzte damals dagegen, aufgrund dieser dramatischen Geschichte würden wahrscheinlich bald alle Mädchen so heißen, womit er nicht ganz unrecht gehabt hatte. Er wollte für seine Tochter etwas Ausgefalleneres und ließ trotz des schrägen Blicks des Standesbeamten „Sasha Franziska“ in die Geburtsurkunde eintragen.
„Alexandra“ wäre wahrscheinlich einfacher gewesen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich in meinem Leben mit Erklärungen und Rechtfertigungen verbracht habe, besonders in meiner Jugend, als man meinen Vornamen in erster Linie mit Sascha Hehn in Verbindung gebracht hat. Und zwar mit seiner Rolle in Schulmädchenreport, die Schwarzwaldklinik kam erst später, was die Qualität der Kommentare allerdings nicht unbedingt verbesserte. 

Mein zwei Jahre jüngerer Bruder heißt übrigens Dennis – nach Dennis Hopper in seiner Rolle in Easy Rider.. Ich glaube, mehr muss man gar nicht sagen, um das Spannungsverhältnis zu beschreiben, in dem ich aufwuchs. 

„Und was ist, wenn ich da nicht hin will?“, fragte ich meinen Kollegen mit einer Stimme, die erschreckend nach einer trotzigen Zwölfjährigen klang.
„Hm“, machte er bedauernd. „Das solltest du vielleicht besser mit Werner klären. Der kommt sicherlich bald, bis zwölf hat er seinen Schönheitsschlaf normalerweise beendet.“

Werner kam erst um zwei und ich redete gleich mit ihm, doch ich hatte leider nicht allzu viel Spielraum. Vom journalistischen Standpunkt aus war es natürlich das Sinnvollste, wenn jemand zu dieser Ausstellung fuhr, der sich auskannte und der wahrscheinlich schnell mit den Leuten in Kontakt kommen würde. Werner meinte sogar, ich könnte doch bei meinen Eltern übernachten, was dem Etat unserer kleinen Zeitung ausgesprochen gut tun würde.
Mir blieb wirklich keine Alternative. Ich hätte höchstens noch eine ernsthafte und hochansteckende Krankheit vortäuschen oder riskieren können, dass sich mein Chef auf die Suche nach einer willigeren Redakteurin machte. Um meinem Ego genüge zu tun, diskutierte ich noch eine Weile mit ihm, doch letztendlich gab ich mich geschlagen, suchte meine Unterlagen zusammen und fuhr in meine gerade frisch bezogene Altbauwohnung in der Kölner Südstadt.
Es war mein erstes eigenes Reich nach Jahren in Studenten-WGs und nach vierundzwanzig Monaten trauter Zweisamkeit mit Thorsten, meinem Ex, die ich irgendwie überstanden hatte, obwohl die Beziehung zu ihm eigentlich schon nach dem ersten Jahr gelaufen war. Ich hätte wirklich gerne das Wochenende hier verbracht, nur ich, meine Umzugskisten, ein abgeschaltetes Telefon und vielleicht eine oder zwei Flaschen Wein. Stattdessen wurde ich von meinem Chef dazu verdonnert, mich freitagnachmittags bei unerträglicher Hitze ins Auto zu setzen und dreihundertfünfzig Kilometer Autobahn hinter mich zu bringen!
„Na warte, Werner“, sagte ich laut zu meinem Spiegelbild im Schlafzimmer. „Auf diese Spesenabrechnung kannst du dich wirklich gefasst machen!“

Weil ich mit der Stille in der Wohnung noch nicht so gut zurechtkam und keine Ruhe hatte, um eine passende CD herauszusuchen, schaltete ich das Radio an und wählte den Siebziger-Jahre-Sender. Ich holte meine Reisetasche aus dem Schrank und begann, ein paar Sachen zusammenzusuchen. Länger als über das Wochenende wollte ich auf keinen Fall bleiben. Im Radio lief School’s out for Summer. Ich durfte nicht vergessen, gleich noch meine Eltern anzurufen und Bescheid zu sagen, dass ich vorbeikomme. Ich hatte einmal den Fehler begangen, unangemeldet vor der Tür zu stehen und meine Mutter damit zwei Tage aus dem Konzept gebracht. 

Während ich das Nötigste einpackte, kamen die Bilder und Erinnerungen von ganz allein, was ja auch wirklich kein Wunder war. In den letzten zehn Jahren hatte ich meine Eltern wenn überhaupt nur zu Weihnachten besucht, wobei ich meist an Heilig Abend hin- und am nächsten Tag wieder zurückgefahren war. Ansonsten hatte ich einen weiten Bogen um die Stadt gemacht, in der ich den größten Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht hatte. Und einen noch weiteren um den Mann, der während der meisten wichtigen Ereignisse meiner Jugendzeit irgendwie immer in der Nähe gewesen war. Und das, obwohl Matze Herdmann und ich uns eigentlich gar nicht so richtig leiden konnten.

II


Anfang der Achtziger Jahre in einer süddeutschen Kleinstadt wie Hellstadt aufzuwachsen, hieß, ein Leben unter einer Käseglocke zu führen. Das Leben draußen – Politik, Naturkatastrophen, Steuererhöhungen, eben alles, was in der Bildzeitung stand – wurde fleißig auf den Stammtischen, vor den Fernsehern oder in der Schule diskutiert. Beim Bäcker und beim Friseur beschäftigte man sich eher mit den Machenschaften im britischen und niederländischen Königshaus oder mit den neusten Pariser Modetrends, denen man sich sowieso nie anschließen würde.
All das schien jedoch unglaublich weit weg zu sein im Gegensatz zu den Dingen, die sich direkt vor unserer Nase abspielten. Wir hatten unsere eigenen Intrigen und Machenschaften, wir brauchten nicht ins Theater zu gehen, um Komödien und Dramen zu sehen, wir brauchten nicht in die Karibik zu fliegen, um Ungewöhnliches und Exotisches zu erleben. Mit der richtigen Perspektive fand man das alles direkt vor seiner Haustür.
Hellstadt war nicht nur ein verschlafenes Kaff, es war ein verschlafenes Touristenkaff, das jeden Sommer von Horden wild herumfotografierender Menschen vorwiegend älteren Semesters heimgesucht wurde. Sie drängten sich durch die pittoreske Altstadt – die man nur dann als pittoresk empfand, wenn man sie nicht jeden Tag vor Augen hatte – und studierten den Lebensweg irgendeines mehr oder weniger bekannten Dichters, der im neunzehnten Jahrhundert eine Zeit lang hier gewirkt hatte. Ein paar Scherzkekse aus der Schule liefen einen Sommer lang mit T-Shirts durch die Gegend, auf denen stand: I’M NOT A TOURIST – I LIVE HERE!  Irgendjemand konterte später mit dem Spruch: I’M A TOURIST – I DON’T LIVE HERE. THANK GODNESS!
Ein beliebter Zeitvertreib im Sommer war, sich vor das Irish Pub oder das Bistro auf den Marktplatz zu setzen und die Touristen anzupöbeln oder anzugaffen. Wir machten uns einen Spaß daraus, zu raten, wo der bierbäuchige Mann mit dem Strohhut und der Polaroidkamera wohl herkam und was er arbeitete. Natürlich hielten wir ihn für einen Idioten – allein die Tatsache, dass er hier war, war dafür Beweis genug. Heiko war Weltmeister darin, die Leute in die Irre zu schicken, jedes Mal, wenn er jemandem sah, der einen Stadtplan studierte, ging er hin, fragte, wo die Person hinwollte und lotste sie zielsicher in die entgegengesetzte Richtung.

Mit den umliegenden Gemeinden kam Hellstadt damals auf knapp 20.000 Einwohner, was es zur größten Stadt im Umkreis von vierzig Kilometern machte – und das sprach nicht gerade für den Umkreis. Auf den Dörfern wurde noch viel Vollerwerbslandwirtschaft betrieben, in der Stadt gab es etliche klein- und mittelständische Betriebe – in erster Linie Handwerk und Dienstleistung. Außerdem gab es eine Firma für Trikots und Sportbekleidung und einen Zulieferer für Autoteile, die zusammengenommen den größten Teil der Arbeitsplätze in der Region stellten. Die Arbeitslosigkeit war nicht höher als irgendwo anders, aber doch spürbar, fast jeder kannte jemanden, der schon mal eine Zeit lang keinen Job gehabt hatte.
Wer das Pech hatte, hier aufzuwachen, dessen Perspektiven waren wirklich überschaubar. Nach der Schule stieg man entweder in den Betrieb der Eltern ein oder man lernte zumindest das, was sie gelernt hatten. Man hatte ein paar Jahre Zeit, um sich zu amüsieren und die Hörner abzustoßen, den Jungs kam dann noch der Bund oder der Zivi dazwischen, und anschließend suchte man sich einen Partner, heiratete und zog irgendwo in die Nähe. Das war die eine Variante. Die andere war, man machte Abitur und ging in die große weite Welt hinaus, um zu studieren. Die meisten, die weggingen, kamen so schnell nicht wieder. Die, die wiederkamen, erklärten wir schlicht und ergreifend für verrückt.
Es gab ein kleines Gymnasium in Sailberg, nicht ganz zwanzig Kilometer entfernt, doch das Humboldt-Gymnasium in Hellstadt war mit knapp neunhundert Schülern das Bildungsbollwerk unseres Kreises. Hier tummelte sich vor allem die werdende Elite der Stadt, die Ärztesöhne und Anwaltstöchter, aber nicht nur. Schließlich hatte die Bildungsreform inzwischen auch diese verschlafene Provinz erreicht, was schlicht bedeutete, dass auch die Söhne und Töchter von einfachen Arbeitern und Landwirten ohne allzu große Schwierigkeiten in den Genuss einer höheren Bildung kommen konnten. Das Gymnasium war eine Art Schmelztiegel, der Jugendliche aus ganz verschiedenen Schichten zusammenführte und im Grunde bot diese Konstellation eine riesige Chance, alte und unterschwellig immer noch existierende Standesgrenzen aufzulösen. Ich glaube, meine Generation war eine der ersten, der das tatsächlich umfassend gelang. Eigentlich ist es erschreckend, auf wie viel Widerstand wir immer noch stießen.
Abgesehen vom Gymnasium gab es noch eine Haupt- und zwei Realschulen, ein Provinzkrankenhaus, ein Provinzkino und eine Provinzdiskothek. Auf halbem Weg zwischen Hellstadt und Sailberg lag damals auch noch die Kaserne, sie wurde erst Mitte der Neunziger aufgelöst. Und dann hatten wir natürlich ein paar Kneipen, Clubs und sogar ein autonomes Kulturzentrum, das Anfang der Siebziger entstanden war und von einigen engagierten und hartnäckigen Leuten hauptsächlich in Eigenregie am Leben erhalten wurde. Dies war die Welt, in der wir uns bewegten.

Meine Familie kam nach Hellstadt, als ich knapp sechs Jahre alt war und mein kleiner Bruder Dennis gerade vier. Ich war so jung, dass ich mich an unser vorheriges Leben in Köln nur schemenhaft erinnerte und Hellstadt immer als mein Zuhause angesehen habe. Doch ich war alt genug, um sogar noch nach zehn Jahren mit dem Attribut „die kommt nicht von hier“ betitelt zu werden. Mein Vater war Studienreferendar für die Fächer Englisch und Politik und für seine Referendariatszeit an das Hellstädter Gymnasium versetzt worden. Er hätte sich wohl auch für eine Kölner Berufsschule entscheiden können, doch für die Chance, gleich in einem neusprachlichen Gymnasium unterrichten zu können, nahm er den Umzug gerne in Kauf – ich habe ihm diesen Ehrgeiz später gelegentlich ziemlich übel genommen.
Ich durchlief die Grundschule ohne größere Schwierigkeiten und als Tochter eines Studienrates, zu dem mein Vater inzwischen ernannt worden war, blieb mir fast nichts anderes übrig, als ebenfalls eine höhere Bildungslaufbahn einzuschlagen. Im September 1979 wurde ich in die fünfte Klasse des Humboldt-Gymnasiums versetzt. Ich war eine der Jüngsten, schließlich war ich erst einen Monat zuvor zehn geworden. Einige meiner neuen Klassenkameraden kannte ich bereits, weil sie mit mir auf der Grundschule gewesen waren, doch es gab auch viele neue Gesichter. Eines davon gehörte Matthias Herdmann.

In den ersten beiden Schuljahren hatte ich tatsächlich ein bisschen Angst vor ihm, obwohl wir nie direkt Ärger miteinander hatten. Er war nun einmal nicht gerade der Typ, den meine Eltern als idealen Umgang bezeichnet hätten. Er war eineinhalb Jahre älter als ich und hatte die Fünfte gleich mal wiederholen müssen. Er trug schon damals ziemlich düstere Klamotten, Jeans, ausgelatschte Schuhe, dunkle T-Shirts und Jacken, und blickte in der Regel ebenso düster drein. Er hatte immer mal wieder einen Termin bei unserem Vertrauenslehrer und er hatte gelegentlich Verletzungen, als ob er sich mit Mitschülern prügeln würde. Er hatte zu ein, zwei Leuten in der Klasse einen halbwegs guten Draht, die anderen ignorierte er weitgehend, wenn er sie nicht mit irgendwelchen Sprüchen provozierte.
Ich fand ihn arrogant und einfach blöd. Mit manchen Lehrern kam er gut klar, mit manchen überhaupt nicht und dementsprechend waren seine Leistungen. In Mathe war er zum Beispiel richtig gut und wenn wir in Deutsch bei unserem Klassenlehrer Textanalysen machten, brachte er manchmal Kommentare, die alle erstaunten. Dafür war er in Französisch eine Niete und kam wirklich nie über einen Fünfer hinaus, und in Chemie war es ganz ähnlich.

Mir ging es in den ersten Jahren auf dem Gymnasium noch hauptsächlich darum, meine Eltern zufriedenzustellen und mich möglichst mit allen Leuten gut zu verstehen. Ich hatte ein recht ausgeprägtes Helfersyndrom zu dieser Zeit, ich war so der Typ, der mutterlose Kätzchen von der Straße auflas und nach Hause brachte und sein Schulbrot mit allen teilte, die irgendwie hungrig aussahen. Ich freundete mich schon in der fünften Klasse mit Ina Landwehr, Ulrike Stein und Karsten Heffner an. Karsten wohnte bei mir in der Nachbarschaft und war immer sehr um mein Wohlergehen besorgt, Inas Vater arbeitete bei der Sparkasse und Ullis Eltern gehörte die Bäckerei neben der Schule. Alle drei Freundschaften hielten erstaunlich lange, obwohl das mit Ina und Karsten dann doch recht abrupt zu Ende ging.

Dass mein Vater bei uns am Gymnasium angestellt war, machte meine Schulzeit nicht unbedingt leichter. Natürlich wurden Lehrerkinder nicht regulär von ihren eigenen Eltern unterrichtet, doch es gab immer mal wieder Vertretungsstunden, Prüfungsaufsichten oder andere Gelegenheiten, zu denen mein Vater in unsere Klasse kam. Ich wusste nie, ob ich ihn mit „Papa“ oder mit „Herr Ziegler“ anreden soll. Weitaus nerviger waren die Klassenkameraden, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit munkelten, man würde mich als Lehrertochter bevorzugen. Und richtig unangenehm waren die gelegentlichen Kommentare der anderen Lehrer, Dinge wie: „Da hat das Fräulein Ziegler ihrem Vater mal wieder alle Ehre gemacht“ oder auch „Also als Tochter eines Politiklehrers sollte man so etwas eigentlich wissen!“
Meine Leistungen in der Schule waren alles in allem recht gut, ich musste allerdings auch eine Menge dafür tun, ganz im Gegensatz zu Ina übrigens, der das alles immer irgendwie so zugeflogen ist. Mit Mathe hatte ich ständig Schwierigkeiten und Chemie, klar, das war ein ganz spezielles Kapitel. Die ganze Unterstufe hindurch hatten wir Herrn Schrebach als Lehrer und ich habe in meiner gesamten Schullaufbahn wirklich nur wenige Pädagogen kennengelernt, die so unfähig waren. Michi hat mal gesagt, der Schrebach hätte bei seinen praktischen Versuchen einfach zu viel Schwefeldampf abgekriegt. Sein Unterricht war völlig konfus, so etwas wie Didaktik war in seiner Ausbildung anscheinend nicht vorgekommen und seine ausgeleierten Cordjacketts waren so schmierig wie seine Stimme. Er gehörte zu den Lehrern, bei denen wir immer noch aufstehen mussten, wenn er hereinkam, in seinem Chemiesaal fühlte er sich sowieso wie ein Herrscher. Ausgerechnet er war dann auch der Grund, aus dem Matze Herdmann und ich zum ersten Mal direkt etwas miteinander zu tun bekamen.

Es war am Ende der siebten Klasse, irgendwann im Mai 1982. Wir hatten eine Woche vorher eine Klassenarbeit in Chemie geschrieben, die letzte in diesem Schuljahr, die, wie Herr Schrebach nicht müde wurde zu betonen, noch voll in die Zeugnisnote einfließen würde. Die meisten hatten bei den Fragen ganz schön gestöhnt, ich hatte allerdings ein relativ gutes Gefühl, zumindest hatte ich alles halbwegs beantworten können.
Herr Schrebach gab uns die Arbeiten freitags zurück und wie immer zelebrierte er die Ausgabe, als ob es nichts Schöneres für ihn gäbe. Er ließ uns einzeln nach vorne kommen, in willkürlicher Reihenfolge, sodass man überhaupt keine Anhaltspunkte hatte. Er überreichte einem die Arbeit und gab bescheuerte Kommentare dazu ab, Sachen wie „Sebastian Uhland, wenn das nicht langsam besser wird, kann ich dir auch nicht mehr helfen“, „Ulrike Stein, na geht doch, wenn man sich ein bisschen anstrengt!“ oder auch „Dirk Hoffmann, das war diesmal ja wohl gar nichts.“
Die besonderen Fälle hob er sich meist bis zum Schluss auf, deswegen wurde ich zunehmend nervöser, als der Stapel immer dünner wurde. Irgendwann waren nur noch drei Arbeiten übrig. „Ina Landwehr“, begann Herr Schrebach mit einem Lächeln, „wie nicht anders zu erwarten eine Eins minus, die beste Arbeit, herzlichen Glückwunsch!“
Er machte eine Pause, bis Ina wieder an ihrem Platz saß, dann verkündete er: „So. Alle, die ihre Arbeiten schon haben, können zusammenpacken und gehen. Aber seid gefälligst ruhig in den Gängen, es sind noch fünf Minuten Unterricht. Franziska Ziegler und Matthias Herdmann kommen zu mir nach vorne.“
Eines der Dinge, die ich am Schrebach hasste, war, dass er mich grundsätzlich bei meinem Zweitnamen „Franziska“ nannte, weil ihm „Sasha“ offenbar zu anrüchig war. Jetzt lächelte er, als ob der Höhepunkt der Veranstaltung direkt bevorstehen würde. Mein guter Freund Karsten ging an mir vorbei und warf mir einen besorgten Blick zu, ich konnte nur mit den Schultern zucken, ich hatte wirklich keine Ahnung, worum es hier gerade ging. Ich schritt langsam nach vorne zum Pult und schaute fragend zu Matze, doch der hob auch nur die Achseln. Das Ganze schien ihn kaum zu interessieren. Irgendwie war er in der letzten Zeit, genauer, seit die Pfingstferien vorbei waren, sowieso noch verschlossener und unzugänglicher als früher.
„So“, konstatierte Schrebach. „Ihr beide wisst sicherlich schon, was los ist.“
Ich schüttelte nervös den Kopf, Matze sagte betont gelangweilt: „Nicht den blassesten Schimmer.“
Selbst das Grinsen unseres Lehrers wirkte schmierig. „Dann nehmt euch mal eure Arbeiten.“
Ich folge der Aufforderung und öffnete das Heft sofort. „Eine Sechs?“, rief ich entgeistert. „Das kann doch nicht sein!“
„Oh doch, das kann sein. Ihr habt beide eine Sechs wegen offenkundigen Betrugs.“
„Wegen was?“ Mein Ton wurde immer schriller.
„Wegen Betrugs. Ihr habt ganz eindeutig voneinander abgeschrieben, viel dämlicher kann man sich nun wirklich nicht anstellen. Na ja, ich gehe einmal davon aus, Franziska, du hast Matthias bei dir abschreiben lassen, doch das kommt leider auf das Gleiche heraus. Von dir hätte ich das wirklich nicht gedacht, so was fällt doch auch auf deinen Vater zurück. Und für dich wird’s jetzt natürlich richtig eng, Matthias. Das gibt einen satten Fünfer im Zeugnis, zusammen mit dem in Französisch war es das dann wohl mit der Versetzung.“
„Ich weiß echt nicht, wovon Sie reden. Ich habe nicht von Sasha abgeschrieben!“ Matzes Stimme klang überhaupt nicht aufgeregt. Eher ein bisschen abfällig.
Herr Schrebach hatte seinen Spaß an der Sache noch nicht verloren. „Na schön, wenn ihr euch dumm stellen wollt, schaut euch mal die dritte Frage an. ‚Was sind Laugen, wie werden sie auch noch genannt und welche Eigenschaften haben sie?’ Ihr habt hier beide die gleiche Definition verwendet. Sogar wortwörtlich die gleiche. Komischerweise hat niemand sonst in der Klasse diese Definition so formuliert. Die steht nämlich auch gar nicht im Buch.“
„Natürlich steht sie nicht im Buch“, sagten Matze und ich gleichzeitig und im Brustton der Überzeugung, was zumindest ausreichte, um Schrebach stutzig zu machen. Sicherer geworden fuhr ich fort: „Die Definition ist aus dem Schülerduden Chemie. Ich bin damit einfach besser klargekommen. Ich habe den zu Hause.“
„Und ich habe ihn mir aus der Schulbibliothek ausgeliehen“, schloss sich Matze sofort an. „Sie können ja meine Leihkarte kontrollieren, wenn Sie mir nicht glauben.“
In diesem Augenblick fand ich seine Art richtig cool und versuchte, seinem Beispiel zu folgen. „Und wenn Sie mir nicht glauben, können Sie meinen Vater fragen, der hat mir den Duden nämlich geschenkt.“

„Und ganz abgesehen davon sind Sasha und ich noch nicht einmal nebeneinandergesessen, als wir die Arbeit geschrieben haben, daran müssten Sie sich ja schon erinnern.“

Es muss ziemlich überzeugend gewirkt haben, wie wir uns so die Bälle zuwarfen, jedenfalls zog Schrebach die Stirn in Falten und wurde merklich kleinlauter. „Nun, das mit dem Schülerduden lässt sich ja leicht nachprüfen. Und die Sitzordnung … Ich weiß auch nicht mehr so genau. Ich werde das alles noch einmal kontrollieren. Es wäre wohl am besten, wenn ihr am Montag in der großen Pause zu mir ans Lehrerzimmer kommt.“
„Das heißt, wir haben keine Sechs?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
Herr Schrebach räusperte sich. „Offenbar scheint es eine logische Erklärung für diese seltsame Übereinstimmung zu geben. Mir wäre es auch angenehmer, wenn … Alles Weitere am Montag. Ihr könnt jetzt gehen.“
Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen. Da es die letzte Stunde war, machten wir uns zusammen auf den Weg zum Ausgang. Ich spürte nichts als Erleichterung, Matze neben mir war wütend und äffte Schrebach nach. „Offenbar gibt es eine logische Erklärung … ja, klar! Aber erstmal die Leute verdächtigen und ihnen eine Sechs reinwürgen!“
Ich grinste. „Reg’ dich nicht auf, wir konnten ihn doch überzeugen.“
„Zum Glück“, sagte er und fuhr kurz darauf fort: „Kompliment übrigens. Ich hab’ immer geglaubt, du wärst auch so eine arrogante Zicke, weil du ständig mit dieser Ina Landwehr rumhängst. Ich hätte nicht gedacht, dass du dem Schrebach so ein sattes Kontra gibst. “
Irgendwie hatte er zwar gerade meine Freundin beleidigt, doch ich fühlte mich trotzdem geschmeichelt. „Na ja, schließlich waren wir im Recht, wir haben ja nicht abgeschrieben.“
Wir waren am Ausgang angekommen und er hielt mir die Tür auf, was meine gute Stimmung noch steigerte. Im nächsten Moment änderte sich das.
„Du zumindest nicht.“
Ich blieb abrupt stehen. „Was soll das denn heißen?“
Er ging mit einem Grinsen weiter, ich beeilte mich, ihn einzuholen. „Hey, warte mal. Was meinst du damit? Hast du etwa doch von mir abgeschrieben?“
„Wie denn, wenn wir gar nicht zusammengesessen sind?“
„Weiß ich auch nicht. Was hast du dann gemeint?“
Wir waren bei den Fahrradständern angekommen. Bevor er das Schloss von seinem nicht mehr ganz neuen Rennrad öffnete, erklärte er seufzend: „In der Mathestunde vor der Chemiearbeit ist dir ein Zettel aus dem Ranzen gefallen, als du deine Bücher rausgeholt hast.“
„Und weiter?“, drängte ich ungehalten.
„Es war eine Zusammenfassung von Chemie, die du dir anscheinend geschrieben hast.“
„Stimmt, ich habe mich schon gefragt, wo der Aufschrieb geblieben ist.“
„Ich habe ihn als Spickzettel benutzt“, gestand er mit trockener Stimme. „Ich fand auch, dass die Definition viel logischer klang.“
„Du hast meine Zusammenfassung als Spickzettel benutzt?“, ereiferte ich mich.
Matze nickte nur, als könne er die Tatsachen leider auch nicht ändern.
„Dann war das mit der Bibliothek gelogen? Und was ist, wenn Schrebach wirklich deine Leihkarte kontrolliert?“
„Macht er nicht“, erklärte Matze selbstzufrieden. „Der ist doch froh, weil er eine Erklärung gefunden hat und dem werten Kollegen Ziegler nicht stecken muss, dass seine Tochter eine Betrügerin ist.“
Ich starrte ihn an und machte meiner Verachtung Luft. „Boa, du bist echt ein Idiot! Wegen dir hätte ich fast ne Sechs bekommen!“

Bevor er etwas erwidern konnte, näherte sich uns ein Junge in Matzes Alter, den ich nicht kannte. Er schien ebenfalls keine besonders gute Laune zu haben. „Hey, Alter, wo steckst du denn? Ich stehe mir hier die Beine in den Bauch!“
„Tschuldigung“, sagte Matze und wickelte das Fahrradschloss um die Sattelstange. „Ging nicht schneller. Wir hatten noch eine kleine Diskussion mit unserem Chemielehrer.“
„Ja, ne echt tolle Diskussion“, maulte ich.
Der andere Junge sah mich neugierig an, Matze stellte vor: „Das ist Sasha aus meiner Klasse. Das ist Heiko Kilian, Freund von mir. Geht zu den Analphabeten.“
„Die Analphabeten“ war der unter den Gymnasiasten gängige Name für die Schüler der Städtischen Realschule, die im letzten Jahr neu gebaut worden war – und zwar direkt gegenüber unseres Gymnasiums. Wie man hörte, hatte es etliche Lehrer und auch Eltern gegeben, die gar nicht damit einverstanden gewesen waren, dass die beiden Schulen zukünftig so nahe beieinanderliegen sollten. Die Stadt hatte sich trotzdem durchgesetzt und damit argumentiert, wie praktisch und kostengünstig ein großes Schulzentrum wäre, schließlich konnten sowohl die Sportanlagen als auch die Bushaltestellen von beiden Schulen gemeinsam genutzt werden.
Gab es auf den Lehrerparkplätzen noch eine strikte Trennung zwischen „Lehrkräfte Humboldt-Gymnasium“ und „Lehrkräfte Städtische Realschule“, war der Rest der Parkfläche sozusagen eine gemischte Zone. Die beiden Schulgelände endeten zwar offiziell an den jeweiligen Fahrradständern, doch das nahmen die wenigstens ernst. Zumindest in der großen Pause vermischten sich die Gruppen gerne, und das nicht nur, um freundschaftliche Grüße auszutauschen. Es gab bei uns tatsächlich Lehrer, die uns vor dem Umgang mit „den Anderen“ oder, noch besser, mit „denen von drüben“ warnten.
Dieser Freund von Matze ging also auf die Realschule, was erklärte, warum ich ihn noch nie gesehen hatte. Das Attribut „Analphabet“ schien ihm nichts auszumachen, er grinste nur und sagte zu mir: „Sasha? Das ist ja ein witziger Name.“
Ich war von Matzes Aussagen immer noch ziemlich geladen und äffte: „Ja, ich weiß. Schade, dass meine Haare nicht so blond sind wie die von Sascha Hehn oder was kommt jetzt für ein Spruch?“
Heiko sah mich irritiert an. „Eigentlich finde ich den Namen wirklich cool für ein Mädchen. Egal“, er wandte sich wieder an Matze, „wie sieht es aus, soll ich dich nachher zum Training abholen oder kommst du bei mir vorbei?“
„Ich komm bei dir vorbei“, entschied Matze. „Ich wollte dir sowieso noch die Cassetten bringen.“
„Hast du neue? Cool. Ich habe auch noch dein Trikot bei mir. Meine Mutter hat’s gleich mitgewaschen.“
Es war das erste Mal, dass ich über Matze etwas erfuhr, das nicht direkt mit der Schule zusammenhing. Er nervte mich zwar gewaltig, trotzdem fragte ich neugierig: „Was habt ihr denn für ein Training?“
„Fußball“, antwortete Matze knapp.
„Wir spielen in der Jugendmannschaft vom FC“, ergänzte Heiko. „Ich bin Torwart und er ist der weltbeste Außenverteidiger.“
Matze verdrehte nur die Augen, ich kniff meine zusammen. „Echt? Fußball?“, sagte ich und sah nicht den geringsten Anlass, meine Enttäuschung zu verbergen. „Das finde ich ja total langweilig.“
Die beiden Jungs schauten sich an, dann drehte sich Matze zu mir und konterte: „Das mit der arroganten Zicke war wohl doch nicht so falsch.“ Er stieg auf sein Rad, meinte zu Heiko: „Also bis nachher!“ und fuhr davon.
Ich sagte es ja schon – eigentlich konnten Matze und ich uns noch nie besonders gut leiden.

III


Nachdem ich meine Sachen gepackt und mir einen kleinen Martini Zitrone gegönnt hatte, um meinen Kopf wieder freizukriegen, rief ich meine Mutter an und teilte ihr mit, dass ich das Wochenende zu Hause verbringen würde.
„Das ist aber schön“, war ihr knapper Kommentar. Ich hatte fünf Jahre Kommunikationswissenschaften studiert, doch die brauchte es gar nicht, dreißig Jahre Erfahrung als Tochter reichten völlig aus, um die beiden unterschwelligen Botschaften herauszuhören. „Ich bin enttäuscht, weil du dich in letzter Zeit so selten meldest“ war die eine, die andere ging in Richtung: „Hättest du nicht etwas früher anrufen können? Dann hätte in deinem Zimmer noch ordentlich lüften und staubsaugen und das Bett frisch beziehen können.“
Ich hatte keine Lust, mich schon am Telefon mit ihr zu streiten, dazu hatten wir schließlich noch zwei ganze Tage Zeit, deswegen ging ich gar nicht erst darauf ein und beendete zügig den Anruf.
Ich setzte mich in meinen frisch geleasten Fiat Brava, auf den ich mindestens so stolz war wie auf meine Wohnung, und machte noch einen kurzen Abstecher zur Tankstelle, nicht nur um Sprit nachzufüllen, sondern vor allem um mich mit Zigaretten einzudecken. Mein Exfreund Thorsten hatte mich zu Gitanes légères

mit Filter gebracht und die würde ich in Hellstadt sicherlich nirgendwo bekommen. Das letzte, was ich an einem Wochenende wie diesem brauchen konnte, war, dass mir die Zigaretten ausgingen.
Ich deponierte ein Päckchen griffbereit auf der Ablage, zündete mir gleich eine an und warf beim Losfahren einen Blick auf die Cassetten, die auf dem Beifahrersitz verstreut lagen. Modernen Schnickschnack wie CD-Player suchte man in italienischen Autos selbst 1999 noch vergebens, ich hatte, was meine Cassetten anging, sowieso einen nostalgischen Tick. Aus zwei Gründen zuckte ich plötzlich zusammen. Zum einen wäre ich fast auf meinen Vordermann aufgefahren – natürlich staute es sich schon auf dem Ring, das würde wirklich eine endlos nervige Fahrt werden – zum anderen hatte ich mir zielsicher eine meiner ganz alten Cassetten herausgegriffen. Ich seufzte. Andere Journalisten bereiteten sich auf ihre Artikel vor, in dem sie sich in die entsprechende Materie einlasen. Ich tat es, indem ich Animals von Pink Floyd in mein Cassettenradio schob. 

Nach der Geschichte mit der Chemiearbeit sah ich verständlicherweise nicht den geringsten Anlass, mich weiter mit Matze Herdmann zu befassen. Wir gingen am folgenden Montag zusammen zum Lehrerzimmer, Schrebach händigte uns unsere Arbeiten aus – ich hatte eine Zwei minus und Matzes Note war wohl auch besser geworden, zumindest wurde er am Ende des Schuljahres ohne größere Diskussionen versetzt. Ich würdigte ihn währenddessen allerdings keines Blickes und in der Klasse ignorierten wir uns, so wie wir es die ganze Zeit getan hatten.
Ich meine, immerhin war ich damals noch keine dreizehn und alles in allem wirklich noch recht kindlich. Ich hatte noch mein Puppenhaus im Zimmer stehen, auf meinem Bett tummelten sich allerhand Stofftiere und ich war Weltmeisterin im Verfassen von blumigen Einträgen in Poesiealben und in mein Tagebuch. Mit meinen Freundinnen Ina und Ulli hatte ich mich früher oft zum Spielen getroffen, inzwischen beschäftigten wir uns eher damit, Comics oder Tierzeitschriften zu lesen.
Und natürlich hörten wir Musik, zu der Zeit vor allem Nicole, Abba und die Spider Murphy Gang, die mir fast schon zu anrüchig war. Um auf dem Laufenden zu bleiben, kaufte ich mir seit Neustem regelmäßig die Bravo. Ina kam immer zu mir, um sie zu lesen – ihre Eltern hatten ihr rundheraus verboten, sich mit dieser Lektüre zu beschäftigen. Ich weiß nicht, ob unsere Freundschaft ohne Dr. Sommer und die Bravo-Foto-Lovestory überhaupt so lange gehalten hätte. 

Damals wohnten mein Bruder Dennis und ich noch mit unseren Eltern zusammen in der oberen Wohnung unseres Hauses, was ich vielleicht kurz erklären muss.
Wenn man es genau nimmt, war die Versetzung meines Vaters nach Hellstadt für das Familienbudget gut fünf Jahre zu früh gekommen. Meine Eltern hatten sich beide eher halbherzig an den 68ern beteiligt, sie hatten sich vielleicht ein bisschen an der freien Liebe versucht, ab und zu an einem Joint gezogen und an der einen oder anderen Studentendemo teilgenommen. Meine Mutter war immerhin emanzipiert genug, um eine Ausbildung als Erzieherin zu machen, sie fing auch wieder an, halbtags zu arbeiten, nachdem Dennis in den Kindergarten gekommen war. Letztendlich hatten beide jedoch gänzlich konventionelle und bürgerliche Träume: eine gute Arbeit zu finden, Kinder zu haben und sich früher oder später ein eigenes Häuschen leisten zu können.
Als wir nach Hellstadt zogen, war an das Häuschen natürlich noch nicht zu denken, während der Referendariatszeit meines Vaters lebten wir in einer Mietwohnung in der Nähe der städtischen Grundschule, auf die ich gegangen bin. Als nach zwei Jahren die volle Verbeamtung und damit auch der entsprechende Sold fällig wurde, machten sich meine Eltern auf die Suche nach einer angemesseneren Behausung für uns. Sie fanden sie in Form eines Einfamilienhauses am Krämerberg, einem zehn Jahre zuvor entstandenen Neubaugebiet, das auf jeden Fall zu den besseren Wohngegenden der Stadt zählte. Das Haus besaß eine Etage im Erdgeschoss, einen ausbaufähigen Dachboden und eine Einliegerwohnung, die damals noch vermietet war. Unter dem finanziellen Aspekt war es ideal, weil durch die Mieteinnahmen ein großer Teil der Hypothek gedeckt werden konnte. Doch es bedeutete auch, dass wir vier in die vier Zimmer der oberen Wohnung ziehen mussten, weil an einen Ausbau vorläufig nicht zu denken war.
Als unsere Mieterin zum Jahreswechsel 1982/83 kündigte, atmete mein Vater erleichtert auf – nicht etwa, weil er sie endlich los wurde, sondern weil wir finanziell inzwischen soweit abgesichert waren, dass er Dennis und mich loswerden konnte! Wir zogen in die zwei Zimmer im Souterrain und hatten unser eigenes Bad, bald unsere eigene Küchenzeile und – am wichtigsten – unseren eigenen Eingang. Meine Eltern teilten die beiden frei gewordenen Zimmer gerecht unter sich auf und nannten sie fortan ihre „Arbeitszimmer“. Dennis und ich nannten sie „Musikzimmer“ – meine Mutter spielte Bratsche – und „Märklinzimmer“ – nach der Leidenschaft meines Vaters für Modelleisenbahnen.

Das alles klingt nach rosaroter Kindheit und viele meiner Klassenkameraden haben mich beneidet, vor allem um den Freiraum, der mir schon sehr früh gewährt wurde. Ganz so einfach war es dann allerdings doch nicht. Mal abgesehen davon, dass man es als Kind zweier Pädagogen sowieso nicht ganz leicht hat, haben meine Eltern ziemlich oft gestritten. Irgendwie war ihnen bei dem Versuch, so schnell wie möglich ihre bürgerlichen Träume zu erfüllen und ein abgesichertes und erschütterungsfreies Leben zu leben, unterwegs die Liebe verloren gegangen, und als sie den Schaden bemerkten, war es offenbar schon zu spät.
Davon ahnte ich damals natürlich noch nichts. Ich hörte sie nur streiten – ums Geld, um den Urlaub, um die Arbeitszeiten meiner Mutter, um die Kindererziehung, die Freizeitgestaltung, im Grunde war es völlig egal, um was.
Das wirklich Schwierige an der Sache war, dass unsere Eltern lange versuchten, diese Streitereien vor uns geheim zu halten. Richtig laut wurde es nur nachts, wenn Dennis und ich schon im Bett lagen, oder am Wochenende, wenn sie dachten, wir würden im Garten spielen und es nicht mitbekommen. In unserer Gegenwart gab es höchstens kleine Meinungsverschiedenheiten oder Sticheleien, die meist schnell mit dem Hinweis: „Lass uns das bitte heute Abend klären“ oder „Nicht vor den Kindern!“ unterbrochen wurden.
Sie versuchten, Dennis und mir eine intakte Ehe und dem Rest der Welt eine intakte Familie vorzuspielen. Die Probleme, die sie miteinander hatten, wurden niemals offen angesprochen und wir Kinder trauten uns natürlich nicht zu fragen. Zumindest dauerte es lange, bis ich mich traute. Doch wir spürten die latente Spannung, unter der unsere Eltern standen. Ich wusste damals schon, es gab etwas, das man „Scheidung“ nannte und dies war das Schlimmste, was einer Familie widerfahren konnte. Ich machte mir wirklich Sorgen, doch genauso wenig wie meine Eltern über ihre Probleme sprachen, redete ich über meine Ängste, weder mit Dennis, dem diese ganze Situation viel mehr zusetzte, als ich anfangs ahnte, noch mit meinen Freundinnen und schon gar nicht mit unseren Verwandten.

In den Sommerferien wurde die Stimmung in unserem Haus üblicherweise etwas besser, weil wir meist jede Menge Besuch bekamen. Unsere Verwandtschaft war und ist recht groß, es gibt mehrere Onkel und Tanten und unsere Großeltern waren damals auch noch alle vier am Leben. Allerdings lebten die meisten recht weit weg – eben in der Kölner Ecke und im Westfälischen – und sie kamen ausgesprochen gerne in unser beschauliches und pittoreskes Touristenstädtchen.
Meine Eltern liebten es, wenn das Haus voll war, ich denke, aus mehreren Gründen: Sie konnten der Verwandtschaft zeigen, wie gut es uns inzwischen ging und was wir bereits erreicht hatten, waren abgelenkt von ihren eigenen Problemen und hatten schlichtweg weniger Zeit zum Streiten. Mamas jüngerer Bruder Martin war mit Frau und Kindern praktisch jeden Sommer bei uns. Zu den Zeiten, als wir noch in der Mietwohnung beziehungsweise alle in den oberen Zimmern des Hauses gewohnt haben, war das nur mit Matratzenlagern und einem ziemlich großen Durcheinander zu bewerkstelligen.
Da wir uns längere Urlaubsreisen aufgrund der Hypothek für das Haus nur selten leisten konnten, sei es doch eine tolle Sache, so erklärte es uns unser Vater, wenn wir zusammen mit unseren Verwandten die Abenteuer quasi direkt vor der Haustüre erleben konnten. Und so gingen wir in jeden Sommer mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen auf Entdeckungsreise durch unsere verschlafene Gegend.
Hellstadt verwöhnte seine Touristen nicht nur mit einer hübschen Altstadt, sondern auch mit einigen anderen Attraktionen. Es gab ein ganz nettes Erlebnisbad, dessen Eintritt man sich wirklich nur als Tourist leisten konnte, einen großen Reiterhof mit Campingplatz und einige Kilometer außerhalb der Stadt einen Tierpark mit vorwiegend einheimischen und ein paar wenigen exotischen Tieren. Ich habe nie so recht begriffen, warum meine Verwandten jedes Jahr aufs Neue ganz scharf darauf waren, diesen Tierpark zu besuchen, schließlich hatten sie den Kölner Zoo und Phantasialand direkt vor der Haustür. Doch sie wollten hin und wir begleiteten sie natürlich.

Als sich Onkel Martin, Tante Isolde und meine beiden Cousins im August 1982 für zwei Wochen bei uns einquartierten, stand der Park als Erstes auf dem Programm. Es war kurz nach meinem Geburtstag und wir waren früh aufgebrochen, weil es ein ausgesprochen heißer Tag werden sollte. Den Nachmittag hatten wir bereits im Freibad verplant. Es war noch recht wenig los, man konnte den Tierpflegern bei der Arbeit und den Tieren beim Fressen und ihren sonstigen Beschäftigungen zusehen. Da ich als anständiges Mädchen Tiere natürlich liebte, fand ich das alles ausgesprochen interessant und seilte mich immer wieder von meiner Familie ab, um mir alles in Ruhe zu betrachten. Außerdem ging mir mein Bruder auf den Geist, weil er sich in Gegenwart unserer jüngeren Cousins immer wie ein Kleinkind benahm und die drei sowieso nur Blödsinn im Kopf hatten.
Ich schlenderte voraus den Weg entlang und am Waschbärgehege stutzte ich plötzlich. Ein Junge ungefähr in meinem Alter kam aus dem Gebäude, er trug ein grünes Tierpfleger-T-Shirt, hatte einen Besen in der Hand und begann, den Platz vor dem Gehege zu kehren. Es war Matze Herdmann.
Ich ging zu ihm hinüber. „Hey, Matze, was machst du denn hier?“
Er wirkte ein bisschen erschrocken und brummte unfreundlich: „Ich kehre, das siehst du doch.“
„Ja schon, aber …“, mir kam plötzlich eine Idee, „hast du hier etwa einen Ferienjob?“
„So ungefähr.“
„Echt? Das ist ja stark. Ich wusste gar nicht, dass du Tiere magst.“
Er war kurz davor, seinen ersten echten Pluspunkt zu kassieren, nur leider versaute er es sich sofort wieder. „Tu ich eigentlich auch nicht.“
„Und wieso arbeitest du dann in einem Tierpark?“, fragte ich spöttisch.
„Immer noch besser, als alten Leuten den Hintern abzuwischen.“
Bevor ich nachfragen konnte, wie er das meinte, kam ein richtiger Tierpfleger auf uns zu. „Hey du, hast du vorhin bei den Ponys ausgemistet?“
Matze nickte nur.
„Ist ja toll. Davon sieht man nämlich überhaupt nichts. Du kannst direkt zurückgehen und noch mal anfangen! Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wieso immer ich mich mit euch Sozialstundlern rumärgern muss! Wenn du keinen Bock auf diese Arbeit hast, dann denk’ das nächste Mal gefälligst nach, bevor du Mist baust! Und denk’ vor allem dran, ich muss nach fünf Wochen einen Bericht über dich abgeben. Du brauchst nicht glauben, dass ich da nur die Sachen reinschreibe, die gut gelaufen sind. Also beeile dich jetzt gefälligst mal ein bisschen!“
Der Tierpfleger ging seiner Wege, Matze brummelte ihm etwas hinterher, das verdächtig nach „Penner“ klang und ich versuchte zu begreifen, was ich da gerade gehört hatte. „Sozialstunden? Das ist doch, wenn man etwas angestellt hat, oder nicht?“
„Na du bist ja schlau“, erwiderte er.
Ich konnte meine Neugierde mal wieder nicht bremsen. „Und was hast du gemacht?“
Er verdrehte die Augen und dachte wohl, ich würde ihm sowieso keine Ruhe lassen. „Ich habe das Auto von meinem Alten zu Schrott gefahren, wenn du es genau wissen willst. Und dummerweise auch ne Friedhofsmauer, deswegen gab’s noch ‚Störung der Totenruhe’ obendrauf. Und wenn du das irgendeinem in der Schule erzählst, dann …“
Ich hatte nach wie vor genug Muffe vor ihm, um mir ausmalen zu können, was „dann“ passieren würde, deswegen schüttelte ich nur eingeschüchtert den Kopf.
Matze nickte einmal, schulterte seinen Besen und ging ohne ein weiteres Wort zurück ins Waschbärenhaus, während ich langsam zu meiner Familie zurückschlenderte. Dennis und meine beiden Cousins vergnügten sich damit, den Ziegen im Streichelgehege Maiskörner hinzuhalten und ihre Hand im letzten Moment wegzuziehen. Tante Isolde ermahnte sie, mein Vater und Onkel Martin unterhielten sich, alles war genau wie zuvor – abgesehen von mir. Diese kurze Begegnung hatte mich ganz schön durcheinander gebracht. Das merkte auch meine Mutter. „Sasha? Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Hm“, murmelte ich, sie blickte in die Richtung, aus der ich gekommen war.
„Mit wem hast du dich gerade unterhalten?“
„Das war … ein Klassenkamerad von mir. Er macht hier einen Ferienjob.“
„Oh, das ist bestimmt interessant. Ich wusste gar nicht, dass der Tierpark Ferienjobber nimmt. Vielleicht wäre das ja auch etwas für deinen Bruder.“

Einer meiner Cousins fing an zu schreien, weil ihn eine Ziege in die Hand gebissen hatte. Tante Isolde zählte besorgt seine Finger und meine Mutter lief hinüber und scheuchte Dennis und unseren anderen Cousin aus dem Gehege.
Ich hatte sie nicht deswegen angelogen, weil Matze mir gedroht hatte – na ja, nicht nur. Ich hatte damals noch eine recht offene Beziehung zu ihr, obwohl sie ganz eindeutig den strengeren Part in unserer Familie innehatte und eher für das Organisatorische und das „Aufrechterhalten der Ordnung“ zuständig war. Mein Vater war immer der weichere, eher kumpelhafte Typ gewesen, und wenn ich Probleme hatte oder mich etwas beschäftigte, ging ich praktisch immer zu ihm. Ich versuchte in den kommenden Tagen, mit ihm zu reden, doch das war in einer Etage mit vier Zimmern, die gegenwärtig von acht Personen bevölkert wurde, gar nicht so einfach. Als wir zwei Tage später nach einem Großeinkauf das Auto ausgeladen hatten und er noch einmal nach draußen ging, um abzuschließen, folgte ich ihm.
„Papa, kann ich dich mal was fragen?“
„Sicher, Schatz. Was gibt es denn?“
„Wenn jemand Sozialstunden machen muss, ist er dann so etwas wie ein Verbrecher?“
Er musste kurz lachen, wegen der Schwere in meiner Stimme oder wegen des Themas, ich weiß es nicht. „Sozialstunden? Wie kommst du denn auf so etwas?“
„Na ja, ich … Meine Freundin Ina hat erzählt, ihr Bruder würde jemanden kennen, der so etwas machen muss.“
„Ah ja“, sagte mein Vater und ließ sich freundlicherweise nicht allzu deutlich anmerken, dass er mir nicht glaubte. Wenigstens verstand er die Brisanz meiner Frage und schlug vor: „Komm, wir setzen uns einen Moment auf die Bank. Die werden schon ein paar Minuten ohne uns zurechtkommen.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir setzten uns zusammen, er zündete sich eine Zigarette an und erklärte: „Also. Bei dem, was du so salopp ‚Sozialstunden’ nennst, kann es sich um verschiedene Maßnahmen im Jugendstrafrecht handeln. Es wird unterschieden zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln. Bei Ersttätern oder harmlosen Delikten erteilt der Richter nur eine Art Ermahnung und verhängt als Auflage die Ableistung einiger Sozialstunden, das ist dann eine Erziehungsmaßregel. In schwereren Fällen oder bei Wiederholungstätern kommt es zu einer richtigen Verhandlung und Verurteilung, es wird jedoch noch auf die Verhängung einer Jugendstrafe verzichtet und stattdessen ein Zuchtmittel eingesetzt, wie zum Beispiel Erbringung von Arbeitsleistungen. Der Unterschied ist …“

Ich erwähnte ja bereits, mein Vater ist Politiklehrer. Wenn man ihm eine Frage zu seinem Fachgebiet stellte, begann er beinahe unweigerlich zu dozieren. Ich kannte das und wusste, wie ich damit umgehen musste – ich unterbrach ihn einfach. „Wenn man fünf Wochen machen muss, ist das viel?“
„Fünf Wochen? Normalerweise wird das Strafmaß in Stunden bemessen, in den Ferien dürfen Jugendliche maximal dreißig Stunden pro Woche ableisten, das heißt … hundertfünfzig Stunden? Ja, das ist schon ganz ordentlich. Wie alt ist denn dieser Bekannte deiner Freundin? Und was hat er gemacht?“
„Er ist vierzehn … hat Ina gesagt. Und er hat wohl irgendetwas mit dem Auto seines Vaters angestellt.“
„Mit vierzehn? Oh ja, das ist natürlich … Wenn er mit dem Auto auf einer Straße erwischt wurde oder sogar einen Unfall provoziert hat, dann wird man ihm wahrscheinlich Gefährdung des öffentlichen Straßenverkehrs vorgeworfen haben. Ich schätze, der Junge wird so bald keinen Mofaführerschein machen.“
„Warum nicht?“
„Weil ihm das bestimmt zur Auflage gemacht wurde. Er wird, bis er achtzehn ist, sicherlich nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen dürfen. Da stehen ihm harte Zeiten bevor. Wenn all die anderen Jungen mit ihren Mofas oder Rollern fahren, Mädchen hintendrauf haben und er mit dem Fahrrad hinterher muss … In der zehnten Klasse besuchen wir im Politikunterricht übrigens eine Gerichtsverhandlung, da kannst du dir das alles noch einmal genau anschauen. Möchtest du sonst noch etwas wissen?“
Eines der Dinge, die ich an meinem Vater zu dieser Zeit so schätzte, war, dass er wirklich sein Bestes tat, um meine Fragen zu beantworten und danach sofort wieder zum Alltag übergehen konnte, egal wie heikel das Thema gewesen war. Hätte ich meine Mutter zu dieser Sache befragt, hätte sie mich ausgequetscht, um welchen Jungen es sich handeln würde, sie hätte wissen wollen, was ich mit ihm zu tun hätte und sich wahrscheinlich ziemliche Sorgen gemacht. Mein Vater machte sich nur selten Sorgen um mich – er war der festen Überzeugung, ich wäre intelligent und clever genug, um auf mich selbst aufzupassen.

Der Beginn des neuen Schuljahrs 82/83 brachte zwei bedeutsame Veränderungen mit sich. Zum einen wurde mein Bruder Dennis in die fünfte Klasse des Gymnasiums versetzt. Ebenso wie ich hatte er bei der Wahl der Schule kaum eine Alternative gehabt. Im Unterschied zu mir sah er jedoch wenig Sinn darin, das Gymnasium zu besuchen. Während meine Berufswünsche praktisch immer mit einem Studium verbunden gewesen waren – ganz früher wollte ich Lehrerin werden wie mein Vater, dann Tierärztin und zu dieser Zeit war Zoologin mein großes Ziel – hatte sich Dennis vom Baggerfahrer über Müllmann zum Feuerwehrmann entwickelt. Seine Träume hingen vorwiegend mit dem Bewegen von großen, schweren und bunt bemalten Fahrzeugen zusammen, von daher war sein wichtigstes Ziel der Führerschein und nicht das Abitur. Damals stellte er die Entscheidung unserer Eltern natürlich noch nicht infrage, mal abgesehen davon, dass er vom ersten Tag an ziemlich unmotiviert und lernfaul war.

Ich mochte meinen kleinen Bruder alles in allem ganz gerne, doch ich fand es damals eher peinlich, als wir plötzlich auf dieselbe Schule gingen. Meinem Gefühl nach war der Altersunterschied zwischen uns niemals größer als zu dieser Zeit. Er fand es witzig, mit seinen zehn Jahren in der großen Pause zu mir zu kommen und mich mit: „Hallo Schwesterherz, stellst du mir deine Freundinnen vor?“ zu begrüßen. Und dabei lächelte er eben jene Freundinnen an wie ein Geisteskranker.
Allerdings gab es in diesem Herbst ein viel wichtigeres Thema, das mich beschäftigte. Es gab kaum ein Mädchen in meiner Klasse, was sage ich, in der ganzen Stufe, das dieses Thema nicht beschäftigte. Es war unser neuer Mitschüler Michi Lehner.
Am ersten Schultag nach den Ferien kam Herr Roloff, unser Klassenlehrer, in Begleitung eines Jungen in die Deutschstunde. Dies sei Michael Lehner, erklärte er, er käme aus Berlin und wäre mit seinen Eltern gerade erst nach Hellstadt gezogen. Allein diese Geschichte hätte schon ausgereicht, um ihn interessant zu machen – warum zum Teufel zog jemand freiwillig von Berlin nach Hellstadt? Doch das war noch längst nicht alles. Michi trug Jeans, die an den Knien aufgerissen waren. Er trug ein verwaschenes T-Shirt mit irgendeinem coolen Aufdruck, an den ich mich nicht mehr erinnere. Er hatte Buttons an seiner Jacke und auffällige schwarze Schnürstiefel an, die man, wie ich später lernte, Doc Martens nannte. Er hatte blaue Augen, seine Schläfen waren rasiert und seine Haare strohblond gefärbt. Er sah wirklich harmlos aus im Vergleich zu den Punks, die fünf, sechs Jahre später in Hellstadt und Umgebung auftauchten, doch zu jener Zeit war das, was Michi mitbrachte, mehr als ausreichend, um ihn zum wichtigsten Gesprächsthema der Schule werden zu lassen. 

„Möchtest du uns vielleicht etwas über dich erzählen, Michael?“, fragte unser Klassenlehrer freundlich.
Michi zuckte mit den Schultern, lächelte und sagte: „Fragt mich, wenn ihr was wissen wollt.“
Niemand reagierte. Wir glotzten ihn nur an. Alle, bis auf einen.
Auch Herr Roloff lächelte. „Nun, ich bin mir sicher, die eine oder andere Frage wird sich noch ergeben. Willst du dir zunächst einen Platz suchen?“
Es gab mehrere freie Stühle in unserer Klasse. Der neben Ina zum Beispiel, und ihr Lächeln signalisierte auch deutliche Bereitschaft, doch Michi ging an ihrem Tisch vorbei. Er ging auch an Dirk vorbei, unserem Klassensprecher, und an meinem Freund Karsten. Er ging bis ganz nach hinten. „Ist hier noch frei?“, fragte er Matze Herdmann.
„Klar, setz dich“, antwortete der so selbstverständlich, als würden sich die beiden seit Ewigkeiten kennen. Während unser Klassenlehrer vorne mit dem Unterricht anfing, entspann sich hinten eine leise Unterhaltung. „Hi. Ich bin Michi Lehner.“
„Hab ich gerade gehört. Ich bin Matze Herdmann. Ich hab gesehen, du hast einen Button von The Cure an deiner Jacke. Die sind ziemlich cool.“ „Du kennst The Cure?“, fragte Michi erstaunt. 

„Klar. Na ja, ich hab nur ne Cassette von denen, aber der Bruder von meinem besten Kumpel hat die beiden Platten.“
„Puh. Das beruhigt mich. Ich hab gedacht, ihr würdet hier vor allem Andy Borg und so Zeug hören.“
Matze lächelte. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich ihn lächeln sah. „Oh, Markus und Nicole sind im Augenblick auch ziemlich angesagt.“

So richtig verstanden hat es damals niemand. Michi Lehner war, trotz oder wegen seines exotischen Aussehens, einer der nettesten und höflichsten Jungs, die ich je kennengelernt habe. Wenn Michi lächelte, ging es einem besser, egal, wie mies der Tag vorher gelaufen war. Und ausgerechnet er setzte sich zu Matze Herdmann und die beiden wurden innerhalb kürzester Zeit auch noch zu den besten Freunden.
Natürlich gab es einige Leute, die allein wegen seiner zerrissenen Jeans nichts mit Michi zutun haben wollten, doch die anderen bemühten sich wirklich redlich darum, ihn kennenzulernen. Die Mädchen vor allem. Und vorne weg meine Freundin Ina Landwehr. Am Ende der ersten Woche schlenderte sie vor der Mathestunde betont gelassen nach hinten an Matzes Tisch, während ich, Ulli und noch ein paar andere Mädchen am Fenster standen und das Schauspiel betont uninteressiert beobachteten. Sie würdigte Matze keines Blickes, klimperte mit den Wimpern und fragte Michi: „Hast du Lust, morgen Abend zu meiner Party zu kommen?“
Die meisten Jungs hätten sofort begriffen, was für eine Ehre es war, von Ina Landwehr persönlich und unter Zeugen zu ihrer Party eingeladen zu werden. Michi fragte nur: „Warum?“
„Wie, warum?“, konterte Ina irritiert.
„Warum soll ich zu deiner Party kommen?“
„Weil … Ach so, du hast das wahrscheinlich noch nicht mitgekriegt. Meine Partys sind ziemlich beliebt, weißt du? Ich kann bestimmt Baccardi besorgen und es wird sicher total cool.“
„Verstehe“, entgegnete Michi freundlich. „Dir fehlt nur noch der Ehrengast, so wie bei Was bin ich ?“

Matze machte ein spöttisches Geräusch, Ina fragte verwirrt: „Wie meinst du das?“
„Na ja, wenn ich auf der Party bin und alle ein paar Baccardi getrunken haben, dann trauen sie sich vielleicht endlich, mich mit den Fragen zu löchern, die sie mir schon die ganze Zeit stellen wollen. Ich glaube, das ist mir zu blöd. Also vielen Dank für die Einladung, aber: nein. Ich habe keine Lust, morgen zu deiner Party zu kommen.“
Ina brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie gerade ausgesprochen höflich abserviert worden war. Dann machte sie „Tse, dann halt nicht“, drehte sich um und kam zu uns ans Fenster. Während alle Mädchen aufgeregt zu tuscheln anfingen, blickte ich sinnierend zu Matze und Michi. Ich war von seinem Verhalten genauso überrascht wie die anderen, doch ich war alles andere als empört. Er hatte einfach und ehrlich seine Meinung gesagt, ohne viel Brimborium zu machen, und das imponierte mir sehr.
In diesem Moment traf mich Matzes Blick. Er sah ebenfalls nachdenklich aus und er bemerkte sehr wohl, dass ich mich an dem Gezeter der anderen Mädchen nicht beteiligte. Ich denke, es war kein Zufall, dass er mich noch am selben Tag nach der Schule an den Fahrradständern abpasste. Mein Schulweg war nicht allzu lang – kein Weg in Hellstadt war allzu lang – und wenn ich rechtzeitig aus dem Bett kam, ging ich gerne zu Fuß und nutzte die Zeit, um über Gott und die Welt nachzudenken. An diesem Tag war ich knapp dran gewesen und hatte das Fahrrad genommen. Ich hatte gerade das Schloss geöffnet, als Matze plötzlich neben mir stand. Michi und Heiko warteten ein Stück weiter vorne auf ihn.
„Was gibt’s?“, fragte ich selbstsicherer, als ich war.
Er grinste spöttisch. Dann sagte er ernst: „Wie es aussieht, hast du wirklich nichts erzählt über die Sache im Tierpark neulich.“
„Nein, habe ich nicht“, sagte ich trotzig.
„Das ist echt fair von dir. Danke.“
Ich war zugegeben etwas überrumpelt. Konnte Michis höfliche Art bereits nach einer Woche auf ihn abgefärbt haben?
„Petzen ist sowieso nicht mein Ding“, stellte ich klar. „Ich hab dich im Mai schließlich auch nicht beim Schrebach verpetzt!“
„Stimmt.“
Irgendwie hatte ich das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen und fragte freundlicher: „Waren die Stunden … Hast du’s gut herumgebracht?“
„Ja, ging schon. Die Ferien waren halt ziemlich kurz. Aber es war allemal besser als die ganze Zeit zu Hause zu hocken.“
„Wo wohnst du denn?“, fragte ich nicht aus Höflichkeit, sondern wie üblich aus Neugier.
„Brentanoweg“, antwortete er und beobachtete mich dabei genau.
„Oh. In den Dichterwiesen.“
„Dichterwiesen“ war die umgangssprachliche Bezeichnung des Wohnviertels, das zwischen der Innenstadt und dem Autozulieferer Beckmann lag. Hier lebten vorwiegend Arbeiterfamilien in schlichten Mehrfamilienhäusern und alle Straßen trugen den Namen von Dichtern oder Komponisten. Es war nicht gerade die angesehenste Wohngegend, aber Hellstadt hatte noch eine verrufenere Ecke. Trotzdem hatte ich den Gedanken, es könnte ihm peinlich sein dort zu wohnen, deswegen versuchte ich mich an einem witzigen Kommentar. „Bist du deswegen so gut in Deutsch?“
Er tat mir den Gefallen und lachte kurz. „Kann sein. Und wo wohnst du?“
„In der Luisenstraße, am Krämerberg.“
„Ja, so was dachte ich mir schon. Also dann bis morgen.“
Er wollte sich abwenden, doch mir schoss plötzlich eine Idee durch den Kopf. Matze war mir ja nach wie vor ziemlich egal, obwohl das gerade beinahe so etwas wie ein nettes Gespräch gewesen war, doch da vorne stand Michi und wartete auf ihn, und der war mir alles andere als egal. Vielleicht konnte ich ja über Matze …?
„Bis morgen. Ähm, sag mal, bist du eigentlich bei diesem Kunstprojekt dabei? Du weißt schon, diese AG, in der wir eine Skulptur für die Eingangshalle entwerfen und herstellen sollen.“
„Ja, ich weiß. Ich bin noch nicht sicher. Ich meine, eigentlich wäre es wirklich mal ne Chance, diese langweilige Penne ein bisschen aufzumotzen. Gehst du hin?“
„Ja, ich glaube schon. Ich will nächste Woche auf jeden Fall zu dem Vortreffen, mal sehen, wer alles kommt. Weißt du zufällig, ob Michi mitmachen will?“

IV

Mein schwarzer Fiat Brava fuhr 220 km/h Höchstgeschwindigkeit und selbst ich als Matheniete wusste, dass ich sozusagen das Potenzial hatte, die Strecke Köln – Hellstadt in weniger als zwei Stunden hinter mich zu bringen. Eineinhalb davon waren bereits verstrichen und ich hatte gerade hundert Kilometer geschafft, weil ich die Hälfte der Zeit im Stau herumgestanden war. Seit mehreren Minuten gab mir mein Magen auch noch deutlich zu verstehen, dass der Müsliriegel, den ich mir morgens auf der Fahrt zur Redaktion schnell zwischen die Zähne geschoben hatte, meine letzte nahrhafte Mahlzeit gewesen war.
Es würde nicht gerade das beste Bild abgeben, wenn ich bei meinen Eltern erst einmal den Kühlschrank plünderte und in der nächsten halben Stunde würde ich sowieso kaum vorankommen. Ganz abgesehen davon war auch mein letzter Kaffee schon über zwei Stunden her – also gab ich mich geschlagen und fuhr an der nächsten Raststätte ab. Ich holte mir einen Espresso und das Tagesessen, das nicht ganz so schlimm schmeckte, wie es aussah. Den Bon hob ich natürlich sorgfältig auf und steckte ihn zu der Tankquittung in mein Portemonnaie. In Gedanken lächelte ich meinem Chef und der kommenden Spesenabrechnung zu.
Während ich auf ein Banner über der Essensausgabe starrte, das versprach: Südfrüchte bringen Farbe in Ihr Leben!, ging mir eine Frage im Kopf herum, die mich beschäftigte, seit mein Kollege mir mittags das Memo vorgelesen hatte und auf die ich sowohl vom journalistischen wie auch vom persönlichen Standpunkt her keine Antwort fand: Was in Gottes Namen hatte Matze Herdmann dazu gebracht, nach Hellstadt zurückzukehren, um dort eine provokative Ausstellung zu inszenieren?

Ich wusste schon seit einer Weile, dass er in Berlin lebte. Bevor ich zum Studieren nach Köln gegangen war, hatte ich ein Jahr in Neuseeland verbracht und irgendwann während dieser Zeit hatte auch er den Absprung aus Hellstadt geschafft. Eine Zeit lang wusste niemand so genau, wo er steckte, bis es dann plötzlich hieß, er wäre in Berlin. Trotz meines erklärten Zieles, ihn und die Zeit damals zu vergessen, hatte ich in den letzten Jahren immer wieder etwas über ihn gehört. Er hatte es durchaus geschafft, sich in der Berliner Künstlerszene einen Namen zu machen und ein paar interessante Projekte ins Leben gerufen.
Trotzdem blieb die Frage: Was machte er in Hellstadt? Er hat dieses Kaff viel mehr gehasst als ich und er hatte auch wesentlich mehr Grund dazu. Ich meine, ich teilte mir schon als Dreizehnjährige mit meinem Bruder eine Souterrainwohnung und beklagte mich darüber, dass meine Eltern oft miteinander stritten und meine Mutter von mir für die zehn Mark Taschengeld in der Woche auch noch verlangte, die Spülmaschine auszuräumen und am Wochenende den Müll rauszubringen.
Bei Matze sah das alles noch mal ganz anders aus, was ich so nach und nach herausfand, während ich versuchte, über ihn an Michi Lehner heranzukommen. Ich erinnere mich an eine Szene, die sich irgendwann Ende Oktober 1982 zugetragen haben muss. Es war montags in der ersten Stunde, Geschichte bei Herrn Frigg, ein jüngerer Lehrer, der alles in allem ganz fair, aber auch sehr von sich überzeugt war. Matze kam gute zwanzig Minuten zu spät, er schlüpfte zur Tür herein, murmelte „Tut mir leid“ und ging zügig zu seinem Platz. Herr Frigg sah sich genötigt, einen Kommentar abzugeben. „Oh, der Herr Herdmann. Schön, dass Sie uns auch noch beehren. Ich kann das ja verstehen, es ist Montagmorgen, bis man sich von seinem Freizeitstress am Wochenende erholt hat, das dauert einfach eine Weile.“
Es gab vereinzelte Lacher, Matze setzte sich neben Michi, die beiden sahen sich kurz an und während Matze seine Sachen auspackte, fragte er laut und ohne nach vorne zu schauen: „Was machen Sie eigentlich so die Woche über?“
Herr Frigg stutzte. „Was hast du gesagt?“
Ich werde nie vergessen, wie Matzes Stimme klang. Oberflächlich höflich, darunter jedoch ernst und verletzt. „Na ja, ich meine nur, weil Sie gerade von Freizeitstress geredet haben. Ich habe mich gefragt, was Sie als Lehrer so die ganze Zeit zu tun haben. Klar, Sie halten Unterricht, an dem nehme ich ja teil. Und Sie müssen den auch vorbereiten, das ist wahrscheinlich so, wie ich meine Hausaufgaben machen muss. Ich glaube, ich habe auch mehr Stunden als Sie, also wird sich das so in etwa ausgleichen. Und sonst? Ich kann Ihnen gerne sagen, was ich sonst noch mache. Ich habe zweimal in der Woche Training, gehe zwei Nachmittage zu meinem Onkel in die Schreinerei, um ein bisschen Geld zu verdienen, helfe zu Hause, helfe ab und zu bei André in der Werkstatt, das ist der Bruder von meinem Kumpel, und am Wochenende haben wir in der Regel ein Spiel. Okay, manchmal gehen wir auch weg und wenn Sie es genau wissen wollen, bin ich gestern ziemlich versackt. War es das, was Sie mit Freizeitstress gemeint haben?“

Es herrschte tiefe Stille, nachdem er geendet hatte. Matze hatte in dieser einen Minute mehr über sich erzählt, als in all den Jahren zuvor. Michi neben ihm lächelte nur, für ihn schien das alles nichts Neues zu sein. Herr Frigg räusperte sich. „Nun, um ehrlich zu sein … Nein, das habe ich nicht damit gemeint. Mir war nicht bewusst, dass ihr in eurem Alter schon so viel … Geht das anderen auch so, dass sie nebenher arbeiten oder sich so stark in einem Verein engagieren?“
Es meldeten sich einige aus der Klasse. Ich wusste von mehreren, die bereits Zeitungen austrugen oder Hunde oder Kleinkinder der Nachbarn betreuten. Viele, wie meine Freundin Ulli, mussten zu Hause im Geschäft der Eltern mithelfen und etliche waren in Vereinen, Karsten zum Beispiel war bei der Jugendfeuerwehr und dadurch auch fast jedes Wochenende beschäftigt. Herr Frigg nickte nachdenklich, nachdem er sich einige Geschichten angehört hatte. „Okay, das habe ich wohl nicht richtig eingeschätzt. Trotzdem wäre ich dir dankbar, wenn du in Zukunft pünktlich kommen würdest, Matthias. Also, wo waren wir stehen geblieben?“

So interessant ich es zu dieser Zeit fand, etwas Neues über Matze zu erfahren, so frustriert war ich, weil ich an Michi immer noch nicht richtig herangekommen war. Ich meine, was hätte ich auch groß tun sollen? In den kurzen Pausen war kaum Zeit, sich zu unterhalten und in der großen ging er mit Matze beinahe bei jedem Wetter nach draußen auf die Parkplätze – sie trafen sich mit Heiko und rauchten heimlich Zigaretten. Ich konnte mich ja nicht so einfach dazustellen, schließlich waren wir nicht befreundet oder so etwas.
Nach der Schule bummelte ich häufig an den Fahrradständern herum, um sie abzupassen, mehr als einen kurzen Gruß traute ich mich nicht und mehr als ein Lächeln oder ein „Tschau!“ kam auch nicht zurück. Meine Freundin Ina hatte sämtliche Ambitionen bezüglich Michi längst aufgegeben und bezeichnete ihn wegen seiner Klamotten gerne als „Assi“. Sie war zu der Zeit in unseren Schulsprecher Gerhard Widmann verknallt, der ja nur läppische vier Jahre älter war als sie. Trotzdem blieb ich hartnäckig und setzte meine größten Hoffnungen auf zwei kommende Ereignisse: auf die Nikolausparty der Schule, die so angesagt war, dass ja wohl selbst ein Michi Lehner hingehen würde – und auf die Kunst-AG.

Matzes Verhältnis zu Kunst war zumindest in der Schule ähnlich gespalten wie sein Verhältnis zu allen anderen Fächern. Wenn der Lehrer und das Thema stimmten, war er richtig gut, meiner bescheidenen Ansicht nach oft sogar brillant, doch wenn eines von beiden nicht stimmte, produzierte er nur Schrott. Bei Frau Gäubinger in der Sechsten sollten wir einen Linolschnitt zum Thema „Mein Lieblingstier“ machen, er schnitt nur ein paar Längs- und Querstreifen und sagte ihr, dies wäre die Kiste, in der sein Lieblingstier lebte und wenn sie genau durch die Ritzen schaute, würde sie es bestimmt erkennen. Bei Herrn Herlet in der Zehnten sollten wir aus Streichhölzern unser Traumhaus bauen, er errichtete ein filigranes Meisterwerk, in dem es nur geschwungene Wände und keinen einzigen rechten Winkel gab. Das Ding wurde jahrelang in einem der Schaukästen in der Schule ausgestellt, es würde mich nicht wundern, wenn es heute noch dort steht. Der Knüller waren und sind jedoch seine Collagen, das kapierte ich sogar schon als Dreizehnjährige.

Zum ersten Treffen der neu gegründeten Kunst-AG kam ich zehn Minuten zu früh, weil ich so aufgeregt war, und ich hatte meinen besten Freund Karsten genötigt, mich zu begleiten. Die anderen Interessierten tröpfelten so nach und nach ein, es kamen knapp dreißig Leute zu diesem Vortreffen. Ganz zum Schluss tauchte endlich Matze auf – und hinter ihm Michi Lehner. Sie setzten sich zu uns, was mir den Tag im Prinzip schon rettete.
Herr Gutbrodt, Lehrer für Gemeinschaftskunde und Bildende Kunst, ein väterlicher Typ, Oberstudienrat und stellvertretender Konrektor, war recht erfreut, weil sich so viele Schüler eingefunden hatten. Der Aufruf war an die achten und neunten Klassen gegangen, das Ganze sollte sozusagen unser erstes gemeinsames Projekt in der Mittelstufe werden. Es ging darum, ein Kunstobjekt – eine Skulptur, eine Plastik oder eine Statue – für unser Eingangsfoyer zu entwerfen und gemeinsam herzustellen. Vor den Osterferien, schwärmte er uns vor, würde es eine feierliche Enthüllung geben, zu der die Eltern und vielleicht sogar der Bürgermeister eingeladen werden würde. Der erste Schritt bestünde nun darin, Entwürfe zu erstellen und zu sammeln.
„Ich schlage vor, meine Damen und Herren, Sie tun sich in kleine Gruppen zusammen und machen sich gemeinsam Gedanken darüber, wie das Objekt aussehen soll.“
Herr Gutbrodt gehörte zu den wenigen Lehrern, die die Schüler schon ab der Mittelstufe siezten.
„Und wir haben völlig freie Hand?“, fragte einer. „Ich meine, alles ist erlaubt?“
Die Lacher signalisierten deutlich, wohin die Fantasien meiner Mitschüler gingen, Herr Gutbrodt lächelte mild. „Nun, die Grenzen des guten Geschmacks sollten in jedem Fall gewahrt bleiben und Sie sollten auch bedenken, die überwiegende Zahl unserer Schüler ist minderjährig. Ansonsten würde ich auf Vorgaben gerne verzichten, Kunst kann sich einfach besser entfalten, wenn sie nicht zu früh in einen Rahmen gepresst wird.“
Ich sah, wie Matze die Augenbrauen hob, einen Blick mit Michi wechselte und ehrfürchtig nickte. Dass ihm so etwas gefiel, wunderte mich überhaupt nicht.
„Wie, keine Vorgaben?“, fragte eine andere Mitschülerin. „Wir sollen alles selber machen? Auch die Entwürfe zeichnen? Nach Maßstab und so?“
„Ja, so hatte ich mir das vorgestellt. Haben Sie damit ein Problem?“
Wie sich bald zeigen sollte, hatten so einige damit ein Problem, doch Herr Gutbrodt ließ sich nicht auf eine längere Diskussion ein. Er gab uns einen groben Zeitrahmen vor – bis zu den Weihnachtsferien sollten wir uns auf einen konkreten Entwurf geeinigt haben, nach den Ferien würden wir mit dem Bau des Objektes beginnen. Er schlug vor, wir sollten uns in drei Wochen wieder treffen, um die ersten Entwürfe zu diskutieren, er würde selbstverständlich jederzeit für Fragen zur Verfügung stehen.

Als wir den Kunstsaal verließen, schwankte der Gesichtsausdruck mehrerer Schüler zwischen Unverständnis und Verärgerung. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass die Sache in so viel Arbeit ausarten würde. Der Gesichtsausdruck von Matze drückte etwas ganz anderes aus. „Das ist doch mal richtig geil, oder? Wir können das Ding komplett selbst entwerfen! Okay, innerhalb der Grenzen … Was genau hat er damit gemeint?“
„Na ja“, entgegnete Michi wie üblich recht ruhig. „Ich schätze mal, keine nackten Körper, keine übertriebene Gewaltdarstellung, keine Drogen …“
„Keine Drogen?“, grinste Matze. „Schade. Dann muss ich mir was anderes einfallen lassen.“
Ich beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. „Kann ich zu euch in die Gruppe? Und Karsten auch?“
„Haben wir eine Gruppe?“, fragte Michi ironisch.
„Wie’s aussieht, haben wir jetzt eine“, erwiderte Matze. „Wegen mir können wir es zusammen machen. Habt ihr Ideen?“
„Ja, die ein oder andere“, erwiderte ich vage. Karsten hob nur die Achseln.
„Gut, dann treffen wir uns irgendwann und tauschen uns aus. Ich muss jetzt zum Training.“
„Ja, ich muss auch los“, schloss sich Michi an. „Bis morgen.“
„Du, Sasha“, sagte Karsten, nachdem die beiden längst außer Sicht waren. „Ich glaube, ich steige da aus. Kunst war ja noch nie so mein Ding und ich …“
„Du kannst jetzt nicht aussteigen!“, schimpfte ich. „Du hast versprochen, mitzumachen!“
„Ja, ich weiß, aber …“
„Du musst auch keinen Entwurf zeichnen, mir fällt da schon was ein. Hauptsache, du kommst mit, wenn wir uns treffen.“
Karsten war nicht blöd, er hat später Jura studiert, und er ahnte sicherlich, dass ich ihn nicht wegen seines Kunstverstandes als Rückendeckung brauchte. Entweder war seine soziale Ader oder sein Interesse an mir groß genug, jedenfalls konnte ich ihn überzeugen, nicht gleich die Segel zu streichen.

Das vereinbarte Treffen unserer kleinen Kunstgruppe beschäftigte mich intensiv und die Pläne, die ich über den möglichen Zeitpunkt, Ort und Verlauf entwarf, waren konkreter als die für das Kunstobjekt selbst. Matze und Michi schienen sich nur mäßig dafür zu interessieren, sie machten keinerlei Terminvorschläge und ließen im Schulalltag auch sonst nicht erkennen, dass wir seit Neustem zusammen in einer Gruppe waren.
Nach einer Woche nahm ich meinen Mut zusammen und sprach sie an. „Ich wollte mal fragen, wann wir uns treffen wegen der Entwürfe. Du hast neulich in Geschichte doch gesagt, dass du ziemlich viel zu tun hast, Matze. An welchen Tagen kannst du denn?“
„Montags und mittwochs geht es gar nicht, Freitag ist schlecht und die nächsten drei Wochenenden haben wir Spiele“, zählte er auf.
Wie gesagt, ich hatte mich vorbereitet. „Wie ist es dienstags nach der Mittagsschule?“
„Ich muss um sechs zum Training, davor geht’s. Wo willst du dich treffen?“
„Vielleicht im Bistro?“
Die Frage nach dem „Wo?“ hatte mich am längsten beschäftigt. Ich traute mich nicht so recht, die beiden mit zu mir nach Hause zu bringen, weil ich mir nicht sicher war, was meine Mutter dazu sagen würde. Dennis und ich lebten zu diesem Zeitpunkt noch oben, sozusagen auf Tuchfühlung mit unseren Eltern, doch wir waren schon über die Kündigung unserer Mieterin und die wunderbaren Zeiten, die uns bevorstanden, informiert.
Von Matze wusste ich nur, er lebte in den Dichterwiesen, aber nicht, wie seine Eltern drauf waren und wo Michi wohnte, hatte ich noch gar nicht herausgefunden. Ich dachte, ein neutraler Ort wäre angemessen und das einzige Lokal in Hellstadt, in dem ich schon mal mit meinen Freundinnen gewesen war, war eben das Bistro. Es galt als beliebter Treffpunkt bei den Jugendlichen aus unserer Schule, es gab einen Billardtisch und vor allem einen Kicker, deswegen dachte ich, müssten sich Matze und Michi dort auch wohlfühlen. Mein Vorschlag löste bei Matze alles andere als Begeisterung aus, er schien jedoch keine Lust auf eine längere Diskussion zu haben. „Meinetwegen, dann treffen wir uns eben bei den Poppern. Dienstag um vier. Bringt ein paar Entwürfe mit!“

Es war ja nun wirklich nicht so, als ob ich mich nur wegen Michi für die Kunst-AG interessiert hätte. Ich fand die Vorstellung richtig spannend, einmal etwas ganz Eigenes für unsere Schule zu kreieren und ein echtes Kunstwerk zu erschaffen, deswegen setzte ich mich am Wochenende vor unserem Treffen tatsächlich hin, machte mir Gedanken und zeichnete zwei Entwürfe. Das eine war eine Art knallbuntes Trojanisches Pferd, aus dem keine Soldaten, sondern Schulutensilien wie Hefte, Ranzen, Stifte und Geodreiecke herausfielen. Das andere war einfach eine Weltkugel, ebenfalls bunt, die von unterschiedlichen Menschen und Tieren gemeinsam getragen wurde. Nicht besonders originell, ich weiß, damals fand ich es jedoch passend.

Kommenden Dienstag drängte ich Karsten nach der Schule, sich ja zu beeilen, ich wollte unbedingt pünktlich im Bistro sein. Wie sich herausstellte, war meine Hektik völlig überflüssig, die Jungs trudelten erst gegen Viertel nach vier ein – Matze, Michi und Heiko hintendrein.
„Wer ist das denn noch?“, fragte Karsten unwirsch. Ihm schien es nicht sonderlich zu behagen, sich auch noch gegen einen dritten Konkurrenten durchsetzen zu müssen.
„Das ist Heiko, ein Freund von Matze“, stellte ich vor und lächelte dabei Michi an, um ein paar Punkte gut zu machen.
Die drei setzten sich ungerührt zu uns an den Tisch, Heiko sagte: „Tach!“ und Matze erläuterte: „Er ist nur als neutraler Beobachter hier.“
Die anderen beiden grinsten und Karsten war deutlich anzumerken, er fühlte sich alles andere als wohl. Doch er gab sich stoisch und schwieg, selbst dann, als Heiko eine Schachtel Benson & Hedges hervorholte. „Will jemand?“, bot er großzügig an, Matze und Michi bedienten sich, ich und Karsten lehnten ab. 

„Wie kommst du denn zu Bensons? Hast du die von deinem Alten geklaut?“, wollte Matze spöttisch wissen. 

Heiko zuckte mit den Schultern. „Die lagen halt so rum.“
Vielleicht sollte ich vorab erwähnen, dass Heiko eigentlich ein richtig netter Kerl und vor allem ein unglaublich guter Kumpel sein konnte, zumindest hatte ich später hinreichend Gelegenheit, dies herauszufinden. Bei unserem ersten Treffen tat er allerdings sein Bestes, um uns vom Gegenteil zu überzeugen. Er konnte das Bistro nicht leiden und ich glaube, die Collegejacke von Karsten gefiel ihm auch nicht so besonders, wahrscheinlich benahm er sich deswegen so daneben. Als die Bedienung kam, warf er einen kurzen Blick in die Getränkekarte. „Habt ihr hier echt nur Sailberger Bier? Noch nicht mal Beck’s oder so?“

„Wir haben Sailberger Pils und Export und ein bayerisches Hefeweizen. Darf ich mal fragen, wie alt ihr seid?“
„Sechzehn“, erklärte Heiko ohne rot zu werden.
„Okay“, sagte die Bedienung. „Hast du zufällig deinen Ausweis dabei? Wir hatten nämlich neulich erst Ärger wegen Jugendschutz.“
„Schon gut“, seufzte Heiko. „Ich kriege eine Cola.“
Auch wir anderen bestellten Spezi und Cola, als die Bedienung zur Theke zurückging, erkundigte sich Matze spöttisch: „Du weißt schon, dass wir gleich Training haben, oder?“
„Ich hab doch nur gefragt!“, rechtfertigte sich Heiko. „Außerdem, wer hat denn neulich die Pfläumle mit ins Vereinsheim gebracht?“
„Oh, hör doch damit auf. Also. Wie sieht’s aus mit den Entwürfen? Sasha?“
Ich war etwas überrumpelt, weil ich die ganze Zeit Michi angehimmelt hatte, jetzt zog ich meine beiden Zeichnungen aus dem Ranzen und reichte sie Matze. Der warf einen kurzen Blick auf meine Weltkugel und einen etwas längeren auf das Trojanische Pferd, dann reichte er die Blätter zu Michi.
„Das mit dem Pferd ist gar nicht schlecht“, sagte der nach einer Weile. Ich strahlte ihn an und fand, dies entwickelte sich zu einem richtig guten Nachmittag.
„Ja, ist ganz okay“, bestätigte Matze. „Wenn man bedenkt: Die Trojaner dachten, sie bekommen einen Schatz und haben das Ding in ihre Stadt gezogen, dabei waren nur Soldaten drin. Bei uns ist es doch genauso, sie versprechen uns, wir würden unheimlich wichtige Sachen lernen, stattdessen kommt nur Scheiße dabei heraus.“
Während ich über diese Allegorie noch nachdachte, fragte Heiko: „Was quatschst du denn für ein Zeug?“
Matze winkte ab und grinste. „Vergiss es. Das kapieren nur Gymnasiasten.“
„Ach so“, sagte Heiko beruhigt.
Danach sagte keiner mehr etwas und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, worauf Matze wartete. „Hast du denn auch einen Entwurf gemacht?“, erkundigte ich mich brav.
„Sicher“, sagte er und zog einen Collegeblock hervor. „Wie es aussieht, sind wir uns zumindest darin einig, dass wir dringend mehr Farbe in unserem Eingangsfoyer brauchen, oder? Ich meine, die beiden Sachen von dir sind ja auch ziemlich bunt. Ich habe mir gedacht … Kennt ihr The Wall von Pink Floyd?“

„Klar“, beteiligte sich Karsten zum ersten Mal an dem Gespräch. „Du meinst We don’t need no education? [3] Das ist ein cooles Lied!“

„Ja, das ist der bekannteste Song. Es gibt aber noch bessere, die ganze Platte ist einfach nur genial. Im Grunde geht es darum, wie beschissen das Leben ist und dass man den ganzen Müll nur übersteht, wenn man eine Mauer um sich herum errichtet, um seine Ängste und sein wahres Wesen dahinter zu verbergen.“
Ich schaute Matze irritiert an, weil ich diese Erklärung über das Leben damals einfach noch nicht zutreffend fand. Ein gutes Jahr später wusste ich schon eher, wovon er gesprochen hatte.
Außer Michi schien sowieso niemand so richtig zu kapieren, was Matze sagen wollte, doch davon ließ er sich nicht stören und schlug seinen Block auf. „Ich habe mir gedacht, wir könnten was in der Art machen. Wir bauen einen Turm aus großen Mauersteinen. Die bemalen wir mit Graffiti und so, wie die Berliner Mauer. Zwischendrin fehlt immer wieder ein Stein, sodass man in die Mauer reinschauen kann und unsere Träume und Fantasien sieht. So etwa.“
Er legte uns einen unglaublich guten Entwurf vor. Der Turm war aus verschiedenen Perspektiven dargestellt und es gab Detailzeichnungen von den Lücken und den Bildern und Gegenständen, die darin zu sehen sein sollten. Ich war wirklich begeistert, beinahe ein wenig schockiert. „Das ist total genial. Du hast letztes Jahr doch schon mal eine Collage mit einer Mauer gemacht, aber das hier ist echt noch viel cooler!“
„Du kannst dich an meine Collage erinnern?“, fragte Matze erstaunt.
„Klar“, sagte ich. „Die war toll.“
„Die Gäubinger fand sie scheiße.“
„Die Gäubinger ist scheiße“, erklärte ich, obwohl mich dieses Wort immer noch ein wenig Überwindung kostete. „Aber dem Gutbrodt gefällt das bestimmt auch. Das ist echt … Ich wusste gar nicht, dass du so gut zeichnen kannst!“
„Ich kann überhaupt nicht zeichnen“, erklärte Matze spöttisch. „Das hat Michi gemacht.“

Mein Gesicht erstarrte und im ersten Moment kapierte ich gar nichts. Ich schaute zu Michi und dachte: ‚Boa, wie toll, er ist ein Künstler’, ich schaute zu Matze und fühlte mich völlig verschaukelt. Da hatte ich einmal ein echtes Lob für ihn übrig …
„Du hast den Entwurf gemacht“, stellte Michi richtig. „Ich hab’s nur aufgezeichnet.“
„Ohne die Zeichnung wär’s aber nur halb so gut“, erklärte Matze.
„Ja, mann, ihr seid beide richtig tolle Kerle“, warf Karsten genervt ein. Einen Augenblick starrten wir ihn alle an, dann rief Heiko fröhlich: „Noch einer, dem das Ganze viel zu hoch ist! Prima. Komm, lass uns eine Runde Kicker spielen. Ihr Gymnasiasten kennt doch Kicker, oder?“
Karsten hätte nach dieser Frage schlecht Nein sagen können und ich glaube, er war auch ganz froh, eine Beschäftigung zu bekommen. Während er und Heiko sich abreagierten, sprachen wir drei weiter über den Entwurf, ich hatte noch die ein oder andere Idee, was man in die Lücken hineinstellen könnte, Matze fand meine Gedanken gar nicht schlecht und Michi versprach, weitere Zeichnungen zu machen. Ich fühlte mich unglaublich gut, als Karsten und Heiko zurückkamen. „Boa, der Kicker ist ja noch mieser als der im KUZ!“, klagte letzterer.
„Was ist’n das KUZ?“, fragte ich neugierig.
„Das Autonome Kulturzentrum in der Tressbacher Straße“, erklärte Heiko.
„Ich dachte, da kommt man erst ab sechzehn rein?“
Heiko grinste. „Es sei denn, man hat einen großen Bruder, der im Vorstand ist. Und das ist bei Weitem nicht der einzige Vorzug, den er hat.“
Matze begann aufzuzählen: „Stimmt. Im Irish Pub wären wir ohne ihn auch noch nicht gewesen. Er hat ne halbe Autowerkstatt, hört geniale Musik, liest tolle Bücher … Was will man mehr!“
„Wenn ich’s mir recht überlege, bist du ja sowieso nur mein Freund geworden, weil André mein Bruder ist.“
„Klar. Und weil deine Mutter meine Trikots wäscht. Apropos, wir müssen langsam los. Michi, kommst du noch mit?“
„Nee, ich muss nach Hause.“
„Um sechs steht nämlich das Essen auf dem Tisch“, frotzelte Heiko.
„Du bist ein Arsch“, sagte Michi ruhig und ging an die Theke, um zu bezahlen.
Ich dachte in diesem Moment das Gleiche von ihm und Matzes Blick ließ auf ähnliche Gefühle schließen. „Oh, Entschuldigung!“, erklärte Heiko in unverändertem Ton. „Ich muss mich einfach noch daran gewöhnen, dass der Herr Generalssohn manchmal ein bisschen empfindlich ist.“
„Generalssohn?“, fragte ich verblüfft. Michi war freundlich, Michi war sanft, Michi war beinahe ein Punk und hatte doch ganz bestimmt nichts mit dem Militär zutun. Oder doch?
„Jetzt halt’ endlich die Klappe“, schimpfte Matze mit Heiko. „Und geh’ bezahlen. Kannst du meine Cola übernehmen? Ich geb’s dir die Tage zurück.“
Heiko ging an die Theke, Matze verabschiedete sich von Karsten und mir, innerhalb einer knappen Minute war dieser geniale Nachmittag plötzlich zu Ende und ich war von all den Eindrücken ziemlich verwirrt. „Wollen wir auch gehen?“, fragte Karsten freundlich. „Ich kann ja mal zahlen. Ich lade dich natürlich ein!“

Als wir beim nächsten Treffen der Kunst-AG, die Zahl der Anwesenden war schon erheblich geschrumpft, unsere Ideen präsentierten sollten, erntete Matzes und Michis Entwurf richtig viel Lob. Die meisten unserer Mitschüler waren genauso begeistert wie ich und auch Herr Gutbrodt nickte anerkennend. Wir sollten alle über die drei besten Entwürfe abstimmen, Matzes war natürlich dabei, meiner leider nicht, ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet.
„Sehr schön“, erklärte Herr Gutbrodt. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass wir heute schon soweit kommen. Sie haben sich richtig Mühe gegeben. Ich werde mir jetzt diese drei Entwürfe nehmen und sie bei nächster Gelegenheit mit dem Rektor und im Kollegium besprechen. Wir treffen uns noch einmal vor Weihnachten, dann kann ich Ihnen sagen, wie das Votum ausgefallen ist.“
„Moment“, wandte Matze skeptisch ein. „Ich dachte, wir können selber entscheiden, was wir machen. Sie haben beim letzten Mal gesagt …“
„Dass ich Ihnen bei den Entwürfen freie Hand lasse“, unterbrach ihn Herr Gutbrodt. „Und das war wirklich eine gute Entscheidung, sonst wären Ihre Arbeiten sicherlich nicht so kreativ ausgefallen. Ich werde den nächsten Termin dann am Schwarzen Brett aushängen. Einen schönen Nachmittag noch!“

Wir gingen nach draußen, ich stellte mich zu den beiden Jungs. Matze war immer noch kritisch und schüttelte den Kopf. „Irgendwie gefällt mir das nicht.“
„Jetzt komm“, beschwichtigte Michi. „Die anderen fanden deinen Entwurf am besten und das hat auch der Gutbrodt gemerkt. Und selbst, wenn es nicht die Mauer wird, dieses Spinnennetz von Kerstin war auch ziemlich gut.“
Kerstin war in der Neunten, ich kannte sie nur vom Sehen, Matze und Michi hatten offenbar mehr Kontakt zu ihr.
„Darum geht’s nicht“, erklärte Matze. „Ich finde nur, er hätte uns sagen können, dass am Ende doch die Lehrer entscheiden.“
„Hast du was anderes erwartet?“
„Nee. Aber gehofft.“
„Kommt ihr eigentlich am Samstag auf die Nikolausparty?“, fragte ich in die aufkommende Stille hinein.

Die Schulpartys am Humboldt-Gymnasium waren einem recht strengen Reglement unterworfen. Es gab eine Party-AG, in der vor allem Leute aus der SMV saßen. Ihre Aufgabe bestand in erster Linie darin, freiwillige Helfer zu rekrutieren und Vorschläge zu Programmablauf, Musikauswahl und Getränken zu machen. Diese Vorschläge wurden anschließend im Lehrerkollegium auf ein sozialverträgliches Maß gestutzt – kurz gesagt, man blieb bei dem, was sich seit Jahren bewährt hatte. Tatsächlich gab es auf diesen Partys selten mehr als Unmengen bunter Dekoration, flackernde Lichtorgeln, dröhnende Musik, Nebelmaschinen auf der Tanzfläche und alkoholfreie Getränke für die unter Sechzehnjährigen. Meistens ging es am frühen Nachmittag los, die Unterstufe musste die Feier um acht verlassen, die Mittelstufe durfte bis zehn bleiben, danach konnten sich die Oberstufler frei entfalten – sprich, sie mussten ihre Bierflaschen nicht mehr verstecken und konnten den Wodka ganz offen in ihren Orangensaft schütten. Obwohl der Spaßfaktor überschaubar war, gingen wir alle hin, und zwar vom ersten Schultag an bis zur Abschlussfeier. Selbst bei den Realschülern waren unsere Partys beliebt, während wir uns nur selten bei den Analphabeten blicken ließen.

Meine Frage an die beiden Jungs war kein Versuch, eine feste Verabredung zu treffen. Auch wenn ich mich mit meinen dreizehneinhalb Jahren inzwischen im Umgang mit Jungs im Allgemeinen und im Umgang mit Matze und Michi im Speziellen etwas sicherer fühlte, gab es für mich keinen Zweifel, dass ich mit meinen Freundinnen Ulli und Ina auf die Nikolausparty gehen würde. Genauer gesagt, ich ging mit Ulli und Ina ging mit uns und noch ein paar anderen Freundinnen. So hatten wir es beim Sommerfest gemacht und würden es sicherlich auch zur nächsten Faschingsparty tun.

Es war allerdings meine erste Schulparty, der eine längere Diskussion mit meiner Mutter vorausging, und zwar nicht darum, wie lange ich bleiben durfte, sondern, ab wann ich da sein sollte.
„Was ist denn dabei, wenn du um vier hingehst und ein bisschen auf deinen Bruder achtgibst?“
„Mama! Ich kann da nicht um vier hingehen! Ulli kommt um vier, wir müssen uns doch noch zurechtmachen und alles! Außerdem habe ich keine Lust, für Dennis das Kindermädchen zu spielen. Wenn du Angst um ihn hast, verbiete es ihm doch einfach!“
„Sasha, das ist wirklich sehr albern von dir. Ich habe gedacht, du wärst verantwortungsvoller. Hans-Werner, könntest du bitte auch einmal etwas dazu sagen?“
„Na ja“, meinte mein Vater von der Couch aus. „Ich glaube, ich hätte mit dreizehn auch keine Lust gehabt, auf meinen kleinen Bruder aufzupassen.“
Manchmal war mein Vater wirklich Klasse. Wir einigten uns darauf, dass Dennis von vier bis sechs ohne mich zurechtkäme und ich nur dafür verantwortlich war, ihn um acht ins Auto unserer Mutter zu bugsieren, die ihn abholen würde. Ich verließ um halb sechs mit Ulli das Haus und von dem Streit, der danach zwischen meinen Eltern ausbrach, bekam ich zum Glück nichts mehr mit.

Dass es dann doch eine der frustrierendsten Partys meines Lebens wurde, hatte relativ wenig mit Dennis zu tun. Er hatte noch sehr wenig Erfahrung mit so großen Veranstaltungen und war von all den flackernden Lichtern und dem Nebel so beeindruckt und eingeschüchtert, dass er sich beinahe ohne jeden Protest um acht abholen ließ. Die Viertelstunde, die ich brauchte, um ihn aufzustöbern – er hatte sich mit einem Freund hinter dem Getränkestand versteckt, um unsere Schulschönheit Andrea zu beobachten – gab mir genaugenommen eine kurze Verschnaufpause von all den anderen Dramen, die sich an diesem Abend abspielten.
Meine Freundin Ina hatte weder für mich noch für eine andere Freundin Zeit, sie tänzelte die ganze Zeit vor Gerhard Widmann herum und hoffte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie bekam noch nicht einmal mit, wie sich die gleichaltrigen Mitschülerinnen von Gerhard über sie das Maul zerrissen.
Meine Freundin Ulli hatte hingegen entdeckt, dass unser Klassenkamerad Basti Uhland, in den sie heimlich verschossen war, mit Sabine Huber herumknutschte und war seitdem am Boden zerstört. Sie saß entweder auf der Mädchentoilette und heulte oder sie lief durchs Foyer und suchte die beiden. Nach jedem weiteren Kuss rannte sie sofort wieder auf die Toilette. Ich versuchte, sie zu trösten und fragte sogar, ob sie nach Hause gehen wollte. Sie motzte mich an: „Spinnst du? Ich muss doch wissen, was diese dumme Ziege mit ihm anstellt!“

Ganz im Ernst – gibt es irgendeinen vernünftig denkenden Menschen auf der Welt, der sich wünscht, noch einmal dreizehn zu sein?

Im Vergleich zu den Qualen meiner Freundinnen waren meine Probleme eher gering. Die erste Hälfte des Abends verbrachte ich damit, auf Michi und Matze zu warten. Sie kamen gegen acht, Heiko war natürlich mit von der Partie, und sie steuerten zielgerichtet den Getränkestand an. Ich war mutig genug – oder vielleicht auch einfach nur ausreichend von meinen Freundinnen genervt – um mich zu ihnen zu gesellen.
„Hey, da ist ja das Mädchen mit dem coolen Namen!“, begrüßte mich Heiko und sein Lächeln war so offen, dass es mir gleich ein bisschen besser ging. Matze nickte mir immerhin freundlich zu, Michi bekam meine Ankunft leider nicht mit, weil er mit einem Mädchen aus der Oberstufe verhandelte, das Getränke austeilte. Nach einer kurzen Diskussion und einem Lächeln von Michi, das mich wirklich eifersüchtig machte, holte sie eine Flasche Jack Daniels unter dem Tresen hervor und goss einen ordentlichen Schluck in die drei bereitstehenden Gläser mit Cola. 

„Oh, Hi“, sagte Michi zu mir, als er die Gläser verteilte. „Dich hab ich gar nicht gesehen. Willst du auch einen?“
Ich hatte bisher noch nicht oft harten Alkohol getrunken, mein Vater hatte mich mal einen Schluck Whisky probieren lassen und auf Inas letzter Geburtstagsparty hatte ich einen ziemlich schwachen Bacardi-Cola. Ich fand es noch sehr gewöhnungsbedürftig, doch in dieser Situation konnte ich schlecht ablehnen. Also organisierte Michi einen vierten Whisky-Cola und ich stieß mit den drei Jungs an. Das war definitiv der Höhepunkt des Abends, danach ging es rapide bergab.
Die Drei standen herum, rauchten Zigaretten, wenn kein Lehrer hinsah, und beobachteten die Leute. Ab und zu kam jemand vorbei und sie unterhielten sich kurz. Matze und Michi redeten kaum ein Wort, Heiko war immerhin so nett und stellte ein paar Fragen zu mir und meiner Familie. Im Gegenzug wollte ich natürlich auch etwas von ihm wissen und er gab bereitwillig Auskunft. „Wir wohnen im Unterried“ – das südlichste Wohngebiet von Hellstadt, zwischen der Textilfabrik und den Sportplätzen – „Mein Vater arbeitete bei Haller“ – die Textilfabrik – „in der Verpackung. Er macht ziemlich oft Sonderschichten. Ich habe einen großen Bruder und noch drei jüngere Geschwister, das nervt vielleicht manchmal!“
„Kenne ich. Ich habe auch einen jüngeren Bruder. Sag mal, weißt du eigentlich, wo Michi wohnt?“
Leider kam in diesem Moment schon wieder jemand vorbei. „Hey, Heiko, tolles Spiel letzte Woche! Wie du die Flanke gehalten hast, das war echt sensationell.“
Bei Fußball konnte ich definitiv nicht mithalten und es gab blöderweise kaum ein Thema, das Heiko mehr interessierte. Er unterhielt sich mit dem Jungen, ich war vergessen und stand wieder dumm herum. Matze fragte mich irgendwann, ob ich noch einen Drink wolle, ich lehnte ab und erklärte nach einer halben Stunde, ich würde mal nach meiner Freundin Ulli sehen. Danach traute ich mich einfach nicht mehr, zu den Dreien zurückzugehen. Als Ulli um halb zehn dann doch nach Hause wollte, ging ich mit. Bis auf das „Ja“, als er mich wegen des Whisky-Cola gefragt hatte, hatte ich schon wieder kein Wort mit Michi Lehner gewechselt.

Und es kam noch schlimmer. Drei Tage vor den Weihnachtsferien fand endlich das nächste Treffen der Kunst-AG statt. Wir waren schon ein bisschen genervt, weil Herr Gutbrodt uns so lange hatten warten lassen. Wir wollten endlich wissen, für welches Projekt sich die Lehrer entschieden hatten. Wir wollten wissen, womit wir im nächsten Jahr loslegen würden. Unsere Favoriten waren ganz klar Matzes Mauer und direkt danach das Spinnennetz von Kerstin.
„Also, meine Damen und Herren“, begann Herr Gutbrodt mit einer der Wichtigkeit der Situation angemessenen Stimme. „Es tut mir sehr leid, dass dieses Treffen erst jetzt stattfinden kann, ich kann mir vorstellen, Sie sind alle schon ganz neugierig. Wir haben uns lange im Kollegium beraten und leider hat es eine Menge Diskussionsbedarf gegeben, bis wir sämtliche Kollegen von unserem Projekt überzeugen konnten. Wir haben uns von Ihren wirklich gelungenen Entwürfen inspirieren lassen und einige Ideen davon aufgegriffen, zum Beispiel Ihre Mauersteine, Matthias.“
Matze sah überhaupt nicht geschmeichelt aus. Er wartete auf das Fazit.
„Unsere werte Frau Gäubinger hat schlussendlich einen Kompromiss gefunden, von dem wir alle ausgesprochen angetan sind, was sage ich, es ist kein Kompromiss, es ist eine wirklich schöne Komposition. Ich habe es Ihnen auf Folie gezogen. Könnte bitte jemand den vorderen Vorhang schließen?“
Herr Gutbrodt schaltete den Tageslichtprojektor an und legte eine Folie auf. Je wärmer und heller die Birne wurde, desto deutlicher sahen wir die Zeichnung. Wir verstanden sie bloß nicht.
„Was ist das denn?“, fragte Matze für uns alle.
„Dieses Objekt ist einem römischen Obelisken nachempfunden, wie Sie sicherlich erkennen können. Wir wollen ihn aus einzelnen Pappmaschee-Steinen errichten. Der vergoldete Stern hier oben ist sozusagen das höchste Ziel des Wissens, das wir alle erreichen wollen. Der Blickfang ist natürlich diese Strickleiter, die um den Obelisken herumgewunden ist. Ich glaube, Frau Gäubinger hat sich da ein wenig von Ihrem Netz inspirieren lassen, Kerstin. Sie symbolisiert den Weg zum Wissen, der hier an unserer Schule bereitgestellt wird. Originell, nicht wahr?“
Das sah Kerstin etwas anders. „Dieses Ding ist total langweilig und farblos!“
„Nun, ja, ich weiß, Ihre Entwürfe waren in dieser Hinsicht etwas experimenteller, doch wir waren der Ansicht, die Skulptur sollte keinen allzu großen Kontrast zu den im Schulhaus vorherrschenden Farben bilden.“
„Was denn bitte für Farben?“, ereiferte sich Matze wütend. „Außer betongrau und kotzgrün herrscht hier gar nichts vor!“
Es gab noch einige Mitschüler, die Einwände vorbrachten und unser stellvertretender Konrektor wurde zunehmend ungehalten. Er hatte wohl tatsächlich erwartet, wir würden ihm zu diesem Entwurf gratulieren. Als es kurz mal etwas ruhiger wurde, hob Michi ganz brav die Hand. „Herr Gutbrodt, ich hätte noch eine Frage.“
„Bitte, Michael.“
„Also, wenn ich das richtig verstehe, haben Sie uns die Entwürfe nur zeichnen lassen, um selbst Ideen zu bekommen oder um zu sehen, was so in unseren Köpfen vorgeht oder was auch immer. Und es spielt überhaupt keine Rolle, wie lange wir hier noch diskutieren oder unseren Protest äußern, das Ding wird genauso gebaut, wie Sie es entschieden haben. Sehe ich das richtig?“
Herr Gutbrodt räusperte sich. „Nun, ja, ich denke, darauf wird es hinauslaufen.“
„Schön“, sagte Michi immer noch freundlich, packte seine Sachen zusammen und stand auf. „Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich aus Gewissensgründen nicht länger an der Kunst-AG teilnehmen kann. Ich wünsche noch viel Spaß.“
Matze hatte gar nicht erst ausgepackt, er stand ebenfalls auf, nahm seine Tasche und ging nach vorne ans Pult. „Kann ich meinen Entwurf wiederhaben?“
Herr Gutbrodt war etwas überrumpelt und nickte nur, Matze nahm die Blätter und folgte Michi zur Tür. An meinem Tisch blieb er kurz stehen und sah mich an. Ich starrte auf die Tischplatte. Ich traute mich einfach nicht. Er schnaubte kurz und die beiden verließen zusammen den Raum.

 

 

 

Ende der Leseprobe. Die Fortseztung dieser spannenden Geschichte findet Ihr hier: 

als E-book:

http://www.amazon.de/Brecht-ist-tot-Katja-Ruebsaat-ebook/dp/B00EZ5NPAS/ref=tmm_kin_title_0?ie=UTF8&qid=1380966183&sr=8-1

als Printbook:

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Impressum

Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: Heike Helfen
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vorrede Ich bin selbst in den Achtziger Jahren in einer süddeutschen Kleinstadt aufgewachsen und habe mich bei der einen oder anderen Szene durchaus von eigenen Erlebnissen inspirieren lassen. Trotzdem sind sämtliche Personen, Orte und die Handlung dieses Buches frei erfunden. Wer mein Schicksal teilt, weiß, wie sehr sich die Geschichten gleichen … Alle Übersetzungen und Quellennachweise zu den zitierten Texten finden sich im Anhang.

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