Das ist Kapitel I bis IV dieser Geschichte von Nick und Rebecca:
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Aus den Aufzeichnungen von Rebecca Martin, im Winter 1891:
Dies ist ein Nachruf an einen Freund. Genauer an den einen und vielleicht einzigen wirklichen Freund, den ich in meinem Leben hatte. Ich kann und will mich nicht über Einsamkeit beklagen, besonders jetzt nicht mehr, in den späten Jahren, und ich meine auch, hinreichend Erfahrungen mit Freundschaften unterschiedlicher Intensität und Dauer gemacht zu haben. Doch nichts kommt und kam jemals dem gleich, was Nick Herder und ich miteinander geteilt haben. Menschen wie wir öffnen sich nicht leichtfertig. Wie er selbst sagte: Wenn du einmal erlebt hast, wie dir jemand das Herz herausreißt, achtest du sehr sorgfältig darauf, dass es nicht noch einmal geschieht.
Manche von euch haben von Nick, dem Stallburschen, gehört, andere kennen ihn als Händler. Einigen ist vielleicht etwas von Brandstiftung, Diebstahl oder Ehebruch zu Ohren gekommen. Das sind zumindest die Dinge, von denen ich weiß, ich würde mich nicht wundern, wenn noch anderes hinzukäme. In seinem zweiten Leben, wie er es nannte, war er die meiste Zeit unterwegs und auch mir hat er nicht alles erzählt, was ihm widerfahren ist.
In den letzten Jahren seines unsteten Lebens hat er, wenn er in einer Pension übernachtet oder in einem Postfach etwas hinterlegt hat, meist meine Adresse angegeben. Lydia wird das sicherlich nicht gerne hören. Ich weiß auch erst davon, seit immer wieder Pakete und Sendungen mit seinen Habseligkeiten bei mir eintreffen. Und Rechnungen über Lager- und Verschickungsgebühren. Immerhin hat er hinreichend vorgesorgt, damit ich sie ohne Schwierigkeiten begleichen kann.
Vieles, was ich heute weiß, habe ich tatsächlich erst durch diese zusammengeschnürten Päckchen aus Erinnerungen erfahren. Das meiste aus den Stapeln von Briefen, die er geschrieben und nie abgeschickt hat. Viele an mich, einige an Pfarrer Rieberg, ein paar an den Pferdezüchter im Elsass, bei dem er lange gearbeitet hat.
Auch etliche an Lydia, und es kommt mir wie Verrat vor, sie zu öffnen. Doch ich ahne, sie würde sie nicht haben wollen, würde sie wahrscheinlich ins Feuer werfen, ohne auch nur einen Blick an sie zu verschwenden. Wenn sie die Briefe doch nur lesen würde, würde sie zwischen den Zeilen der Reiseberichte vielleicht erkennen, wie sehr Nick sie trotz allem geliebt hat. So sehr, wie jemand mit seiner Geschichte zur Liebe eben fähig war. Wenn meine Aufzeichnungen dazu dienen könnten, ihr ein anderes Bild von ihm zu vermitteln, wäre ihr Zweck mehr als erfüllt.
Natürlich kann ich die damaligen Ereignisse nur aus meiner heutigen Perspektive beschreiben. Ich weiß, ich hatte bereits als Kind, noch bevor Nick und ich uns begegneten, häufig das Gefühl, die Welt und die Dinge, die uns widerfuhren, wären nicht gerecht. Ich hatte eine vage Vorstellung von einem besseren Leben und einem besseren Umgang miteinander, doch erst später, als ich mit den Schriften von Sigmund Freud, Goethe, Humboldt und Pestalozzi in Kontakt kam, lernte ich, diese Vorstellungen in Worte zu fassen.
Um Nicks Geschichte zu erzählen, muss ich auch meine erzählen, weil sie so eng miteinander verwoben sind und weil Begebenheiten in meiner Familie so oft den Ausschlag für Veränderungen in seinem Leben und in unserer Freundschaft brachten. Doch gleichzeitig zögere ich und überlege, ob es für uns alle nicht besser wäre, die Vergangenheit einfach ruhen zu lassen.
Lydia sieht glücklich aus, auf den Bildern, die von ihr und ihrem neuen Ehemann in der Zeitung zu sehen sind. Ich habe gehört, Tom und Sophie würden bereits „Papa“ zu Lydias neuem Ehemann sagen und frage mich, was sie ihnen wohl über ihren Vater erzählt hat.
Was hat sie ihnen von der Welt berichtet, aus der er und ich kommen? Ob ihr neuer Ehemann weiß, wie dreckig, hart und unerträglich die Kindheit war, die wir erlebt haben? Hat Lydia überhaupt eine Ahnung, wie Nicks erstes Leben, wie er es nannte, wirklich ausgesehen hat? Ich weiß, er hat es ihr nicht erzählt. Ich weiß es, weil er es keinem Menschen erzählt hat, weil er es auch mir nicht erzählt hätte, wenn ich nicht dabei gewesen wäre.
Lydia scheint mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen zu haben, so lese ich es zumindest aus der Zeitung. Doch ich finde, wenigstens die Kinder sollten Gelegenheit haben, sich ein eigenes Bild zu machen. Sie sollten erfahren, wer ihr Vater war. Wer Nick Herder war, dem sie als Kind die Seele geraubt haben und der Zeit seines Lebens nichts anderes versucht hat, als sie wiederzufinden.
Teil 1:
Eine Großstadt am Rande des Ruhrgebiets,
Frühjahr 1865 – Herbst 1868
I.
Das Stadtviertel, in dem ich aufwuchs, soll von einem gebildeten Mann einmal mit dem Satz: „Das Dreckigste, Heruntergekommenste und Menschenunwürdigste, was mit je untergekommen ist“ beschrieben worden sein.
Ich persönlich glaube nicht, dass es zu dieser Zeit in den Arbeitersiedlungen anderer industrieller Produktionsstätten anders ausgesehen hat. Und selbst in und um diese dicht gedrängten, viel zu kleinen und zugigen Arbeiterhäuser, die winzige Fenster hatten, schlecht zu heizen und nur in den seltensten Fällen an die Wasserversorgung angeschlossen waren, gab es Nischen, die uns zumindest kurze Momente und Einblicke in ein halbwegs normales Leben gewährten.
Meiner Mutter gelang es während all der Jahre, die wir dort wohnten, in unseren paar Quadratmetern umzäunter Erde, für die der Begriff „Garten“ wahrlich euphemistisch war, Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren anzubauen. Außerdem mästeten wir jedes Jahr ein Schwein, das im Frühjahr als Ferkel zu uns kam und zu Weihnachten geschlachtet wurde.
Wir Kinder sammelten Lederreste und schnürten sie zusammen, bis wir so etwas Ähnliches wie einen Ball hatten, und spielten damit auf den Straßen. Wir wetteten und handelten mit Murmeln, bunten Glassplittern und Bildern aus Zeitungen, die Größeren natürlich mit Zigaretten, Schnaps und anrüchigen Heftchen. Trotz der wenigen Zeit, die uns zur freien Verfügung stand, erlebten wir Augenblicke ganz normaler Kindheit. Die nur leider immer viel zu schnell wieder endeten.
Ich war das dritte Kind meiner Eltern und das erste, das überlebte. Nach mir kamen noch vier, zwei von ihnen erreichten das Erwachsenenalter, beide ebenfalls Mädchen. Der älteste männliche Nachkomme meines Vaters wurde gerade einmal vier Jahre alt, was sicherlich einer der unzähligen Gründe war, warum er seine Familie hasste und sich so angestrengt darum bemühte, seinen Kummer in Schnaps zu ertränken.
Er arbeitete als Packer in der Zigarrenfabrik von Alois Herder, gute sechzig Stunden in der Woche. Beileibe keine leichte Tätigkeit, doch er hätte wohl ausreichend verdient, um seiner Frau und seinen Kindern ein halbwegs erträgliches Auskommen zu ermöglichen. Wenn zu seinen regelmäßigen Saufereien nicht auch noch eine gelegentlich aufflammende Spielleidenschaft gekommen wäre.
Damit unterschied er sich allerdings kaum von all den anderen Vätern in unserer Siedlung, zumindest nicht von denen, die sich das Saufen und Spielen leisten konnten. Ich muss zu seiner Verteidigung erwähnen, dass er tatsächlich ein Idealist war, er wettete und spielte vor allem, weil er auf eine bessere Zukunft für uns alle hoffte.
In guten Zeiten träumten er und meine Mutter, die auf dem Land aufgewachsen und erst mit ihren arbeitssuchenden Eltern in die Stadt gekommen waren, gemeinsam davon, sich auf einem großen Gutshof einzumieten. Er würde als Knecht arbeiten und sie den Gemüsegarten bewirtschaften. Doch vorerst reichte es eben nur für die lausige Zweizimmerwohnung – eine winzige Wohnküche, Elternschlafzimmer und das von uns Kindern. Die Toilette war auf dem Hof, direkt neben den Kartoffeln und dem Verschlag für das Schwein, und wurde von den anderen Familien im Haus mitbenutzt.
Damit wir halbwegs über die Runden kamen, arbeitete meine Mutter als Näherin, wenn sie nicht gerade Kinder gebar, stillte oder zu Grabe trug. Sie war tagsüber oft unterwegs, ich als Älteste kümmerte mich nach dem Unterricht natürlich um meine Geschwister, obwohl sie bald auch ganz gut alleine zurechtkamen. Das jeweils Jüngste hatte meine Mutter normalerweise bei der Arbeit dabei.
Zu meinen Aufgaben gehörte es, direkt nach der Schule meinem Vater sein warmes Mittagessen zu bringen. Mutter hatte meist Suppe oder Eintopf vorbereitet, die ich nur erwärmen und in den blechernen Henkelmann füllen musste. Ich mochte den Weg zur Fabrik, den Rückweg noch mehr als den Hinweg, weil ich dann mehr Zeit hatte. Was ich nicht mochte, waren die lauten, stickigen und stinkenden Fabrikhallen. Was ich noch viel weniger mochte, waren die Begegnungen mit meinem Vater.
Seit ich wusste, wer Friedrich Martin war, seit ich den abstrakten Begriff „Vater“ einem Gesicht zuordnen konnte, hatte ich Angst vor ihm. Bei unserer allerersten Begegnung war er so besoffen, dass er mich fallen ließ. Er hatte, während seine Frau in den Wehen lag, die Geburt des erhofften nächsten Stammhalters ordentlich gefeiert und doch nur wieder eine Tochter bekommen.
Von diesem Vorfall weiß ich natürlich nichts mehr, dafür von so vielen anderen, ich könnte sie nicht alle aufzählen, selbst wenn ich mich darum bemühte. In den seltenen Momenten, in denen mein Vater zu Hause und nüchtern war, konnte man sich sogar recht gut mit ihm unterhalten, am besten über ein Leben auf einem großen Gutshof, doch niemand von uns traute dem Frieden und er hielt auch nie lange an.
Meine kleine Schwester Marie legte ihm gegenüber lange Zeit ein beängstigendes Vertrauen an den Tag, kletterte ungefragt auf seinen Schoß und solche Dinge, bis sie ihn eines Sonntagnachmittags wecken wollte, weil er nach dem Kirchgang und dem anschließenden Besuch in der Wirtschaft auf dem Küchenstuhl eingeschlafen war. In seinem Suff schreckte er hoch und schlug ihr dabei einen Zahn aus. Sie hat später einen evangelischen Pfarrer geheiratet, der nicht müde wird, bei seinen Predigten gegen die „Hure Alkohol“ zu wettern.
Mein Verhältnis zu meinem Vater war immer schon distanzierter, womöglich wegen unseres ersten Zusammentreffens, oder weil er mich von Anfang an spüren ließ, wie enttäuscht er von mir war. Ausgerechnet ich musste überleben, nicht sein Erstgeborener, nicht die, wie er später immer schwärmte, elfengleiche Tochter, die als Nächstes kam. Als nach mir mein Bruder Patrick auf die Welt kam und vier Jahre später an Rachitis starb, während ich mich hervorragend entwickelte, wurde es schlimmer.
Mein Vater tat viele Jahre so, als wäre ich Luft, doch als ich mich mit acht vor meine Geschwister stellte, wenn er in seinem Suff in der Wohnung randalierte, konnte er mich nicht länger ignorieren. Er prügelte nicht mehr als andere Väter auch, er ließ seine Wut lieber an den Wänden und Möbeln aus, weshalb es in den Zimmern auch oft genug wie auf einem Schlachtfeld aussah. Er schrie uns an und putzte uns herunter, wo er nur konnte. Sein Jähzorn und sein Alkoholkonsum sorgten dafür, dass er beinahe ständig mit einem hochroten Kopf herumlief und ihm nicht allzu viel Zeit für die Erfüllung seiner Träume blieb. Doch dazu komme ich noch.
Ich wusste, es gab Familien in der Siedlung, die erheblich weniger zu essen hatten als wir. Ich wusste, es gab Väter ohne Arbeit, Mütter, die zweifelhaften Beschäftigungen im Hafenviertel nachgingen, Kinder, die schon mit acht Jahren in die Fabrik geschickt wurden und niemals eine Schule von innen sahen. Trotzdem fand ich mich und mein Leben bemitleidenswert. Bis ich eines Mittags im Frühjahr 1865, kurz vor meinem elften Geburtstag, jemanden kennenlernte, der sein Leben mit Freuden gegen meins getauscht hätte und sich dabei wahrscheinlich vorgekommen wäre wie im Paradies.
Ich war spät dran. Meine Lehrerin hatte mit mir über den, wie sie sagte, „herausragenden“ Aufsatz sprechen wollen, den ich geschrieben hatte und auf dem Nachhauseweg hatte ich den Köhler getroffen, der mir erlaubt hatte, seine Pferde zu füttern, während er Kohlen von der Kutsche schaufelte. Ich liebte Pferde. Ich kannte nichts auf der Welt, das so weich war wie ein Pferdemaul. Ich sammelte Heldensagen und mythische Geschichten, in denen Pferde vorkamen. Sich auf den Rücken eines dieser Tiere zu setzen und einfach loszureiten, immer weiter, weg von all dem Elend, weg von meinem Leben, war ein sehnsüchtiger, wenn auch heimlicher und meist unterdrückter Traum von mir.
Wie dem auch sei – ich war spät dran. Mein Vater erwartete sein Mittagessen in einer Viertelstunde, zwölf Minuten brauchte ich allein für den Weg, wenn ich mich beeilte. Ich eilte in die Küche, meine Mutter war bei einer Kundin und hatte den Eintopf bereitgestellt. Er war gerade noch lauwarm, doch ich hatte keine Zeit, ihn noch einmal heiß zu machen. Meine Schwester Marie, fünf damals, jammerte, sie hätte Durst. Ich vertröstete sie auf später, füllte den Blechbehälter und machte mich im Laufschritt auf den Weg zur Fabrik. Ich hörte die Pausensirene, als ich noch gute dreihundert Meter vom Tor entfernt war und spätestens da wusste ich, es würde Ärger geben.
Das Fabrikgelände war in den letzten Jahren beständig gewachsen und inzwischen zu einem regelrechten Labyrinth aus Produktionsstätten, Lagerhäusern, Verpackungshallen und Ställen für die Fuhrwerke geworden. Es war von einem hohen Zaun umgeben, rechter Hand thronte das Wohngebäude des Fabrikanten Alois Herder, das ähnlich wie die Fabrik selbst stetig gewachsen und mit Erkern, Balkonen und zusätzlichen Räumen ausgestattet worden war.
Ich fand meinen Vater auf einer der hölzernen Bänke im Innenhof vor der Halle, in der er arbeitete. Wenn es nicht gerade in Strömen regnete, verbrachte er hier meist seine Pause. Seine Kollegen saßen um ihn herum, ich spürte ihre Blicke, obwohl ich beileibe nicht das einzige Mädchen war, das mit Henkelmann oder Korb vorbeikam.
„Wo bleibst du denn?“, blaffte er mich an, sobald ich bei ihm angelangt war. „Glaubst du, ich hätte den ganzen Tag Zeit?“
„Tut mir leid“, murmelte ich, während ich ihm den Essensbehälter reichte. Ich roch seine Fahne bis zu mir. Während der Arbeit trank er normalerweise nicht, so viel gesunden Menschenverstand besaß selbst er, wahrscheinlich stammte es noch vom Vorabend. Er tunkte seinen Löffel in den Eintopf, zögerte und starrte mich an. „Das Zeug ist kalt.“
„Tut mir leid, es war … ich konnte nicht …“
„Was konntest du nicht? Bist du noch nicht einmal in der Lage, deinem Vater ein warmes Essen zu bringen?“ Er redete sich in Rage und schien, vor allem in Gegenwart seiner Kollegen, sichtlich Freude daran zu haben. „Was ist das überhaupt für eine Brühe?“
„Der Eintopf von gestern“, erklärte ich leise.
„Ja, und von vorgestern und wahrscheinlich noch von letzter Woche.“ Er nahm sich das mitgebrachte Stück Brot, schloss den Deckel und schleuderte mir den Henkelmann vor die Füße. „Sag deiner Mutter, sie soll heute Abend etwas Anständiges kochen. Wie soll ein Mann denn bei Kräften bleiben, wenn er von seinem Weib auf Wasser und Brot gehalten wird?“
Er lachte, genau wie seine Kollegen, sie gaben anzügliche Kommentare von sich und ich wollte nur noch weg. Ich griff mir den Behälter und rannte aus dem Innenhof, begleitet von den grölenden Stimmen der Arbeiter.
In meinem Bestreben, das Fabrikgelände so schnell wie möglich zu verlassen, bog ich zu früh ab und wusste plötzlich nicht mehr, wo ich war. Auf der Suche nach dem richtigen Weg fand ich mich vor einem Werkstattgebäude wieder, nicht weit vom Wohnhaus des Fabrikanten entfernt. Ich machte einige Schritte, um mich zu orientieren, hörte ein Wiehern, ging um die Werkstatt herum und entdeckte den Stall. In Anbetracht der Nähe zum Wohnhaus vermutete ich, hier wären wohl die Pferde einquartiert, die der Fabrikbesitzer für seine persönlichen Belange nutzte.
Das Stalltor stand offen, ich konnte nicht widerstehen und ging hinein. Das Gebäude war nicht sehr groß, fünf oder sechs Pferde standen in engen und dunklen Verschlägen, Futter- und Sattelkammer waren in einem offenen Abteil untergebracht. Im Gang wartete eine angebundene Fuchsstute, die nicht allzu glücklich aussah. Allein der Geruch der Pferde hatte mich nach der unangenehmen Begegnung mit meinem Vater bereits ruhiger werden lassen, doch jetzt regte sich schon wieder Unmut in mir.
Wenn ich soviel Geld hätte wie Alois Herder, dachte ich, würde ich bestimmt dafür sorgen, dass es meinen Pferden besser geht.
In diesem Moment hörte ich hinter mir eine verärgerte Stimme. „Was machst du denn hier?“
Ich drehte mich um. Ein Junge stand vor mir, etwas älter als ich und recht mager, in der Kleidung eines Stallburschen. Er trug einen Strohballen über der Schulter, der kaum kleiner war als er selbst. Sein Blick durchbohrte mich beinahe, doch er machte mir erstaunlicherweise keine Angst. Mit männlicher Wut kannte ich mich ganz gut aus und ich wusste sofort, dieses Funkeln in seinen Augen galt im Grunde nicht mir. Unter diesem Funkeln erkannte ich noch etwas anderes, das mich berührte, obwohl ich es damals noch nicht benennen konnte. Ein Ausdruck solch tiefer Schwermut war mir einfach noch nicht begegnet.
Die ersten Worte, die ich an Nick Herder richtete, waren: „Hallo. Ich wollte mir nur die Pferde ansehen.“
II.
Um den Charakter des Tabakfabrikanten Alois Herder zu beschreiben, braucht es nicht allzu viele Worte: Er war ein von Ehrgeiz getriebener, tiefgläubiger Protestant, der die calvinistische Ideale noch mehr verehrte als die lutherischen. Er war berechnend und hart, sich selbst genau wie allen Anderen gegenüber. Und das einzige Gefühl, das gelegentlich durch das Bollwerk seiner Vernunft nach oben schwappte, war ein brodelnder Hass auf seinen jüngeren Bruder Karl.
Dem war in den Wirren nach der Revolution 1848, als jeder ums nackte Überleben kämpfte, doch tatsächlich nichts Besseres eingefallen, als den Vater um die Auszahlung seines Erbteils zu bitten, damit er in der Neuen Welt sein Glück versuchen könne. Die Familie hatte wahrlich genug damit zutun, die kleine Manufaktur für Tabakwaren, die ihr Vater damals besaß, vor den Folgen der Revolution zu retten und hätte jede Arbeitskraft dringend gebraucht. Doch der Vater hatte nicht gezögert, Karl das Geld übergeben und den Betrieb damit an den Rand eines Ruins getrieben. Es war einzig Alois’ unablässigen Bemühungen zu verdanken gewesen, dem Knüpfen neuer Kontakte, dem Erforschen neuer Technologien, dem Erschließen neuer Märkte, dass sie sich über Wasser halten konnten.
Alois hatte seinen heimlichen Traum, aufs Priesterseminar zu gehen und Theologie zu studieren, zusammen mit allen anderen Träumen begraben, sich mit Haut und Haar der Manufaktur verschrieben und eine moderne Fabrik aus ihr gemacht. Sie hatten nicht nur überlebt, sondern stetig expandiert. Den Beginn dieses Aufschwungs hatte ihr Vater noch miterleben dürfen, doch selbst auf dem Sterbebett war ihm kein Lob für seinen Ältesten über die Lippen gekommen, sondern nur der Wunsch, den jüngeren Sohn wenigstens noch einmal zu sehen.
Alois hatte sich davon nicht entmutigen lassen. Er hatte die Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten aus dem Rheinland geheiratet, dessen Einfluss und finanzielle Unterstützung seinem Unternehmen weiteren Auftrieb gegeben hatten. 1855 hatte er die erste große Produktionshalle bauen lassen, drei Jahre später die zweite. Er wusste, er hatte ausgesorgt und sein zunehmender Erfolg hatte es ihm gestattet, die Gedanken an seinen törichten Bruder langsam ruhen lassen.
Zu seinem großen Bedauern war das Kapitel jedoch noch nicht abgeschlossen. 1859 war Karl unvermutet aus der Neuen Welt zurückgekehrt, vollkommen abgebrannt, ohne einen Groschen in der Tasche, mit einer Frau und einem Balg im Schlepptau. Schlimmer noch: Er und sein Weib hatten sich eine mysteriöse Krankheit zugezogen und waren mehr tot als lebendig, als sie an Alois’ Tür klopften.
Es war nicht Bruderliebe, sondern die Familienehre, die Alois dazu veranlasste, Bruder und Schwägerin in das städtische Krankenhaus schaffen zu lassen. Sie starb wenige Tage später, er siechte noch eine Weile vor sich hin. Das Balg, ein sechsjähriger Junge, schien hingegen vollkommen gesund und recht aufgeweckt zu sein. Alois brachte es in einem Waisenhaus unter und hoffte, es nie wieder zu sehen, doch dann kam es zu diesem folgenschweren Gespräch.
Er besuchte Karl im Krankenhaus, wie man es eben so machte, und fand ihn bei klarem Bewusstsein vor. Getrieben von der Angst, nicht lange in diesem Zustand zu verweilen, flehte der Jüngere: „Alois, ich bitte dich, bei allen Differenzen, die es zwischen uns gegeben hat, du musst dich um meinen Sohn kümmern. Niklas ist dein Neffe, Alois, und noch so jung, du könntest ihn an Kindes statt annehmen. Soweit ich weiß, hast du keine eigenen …“
Alois grunzte unwillig. Gott wusste, wie dringend er einen Erben gebraucht hätte. Sie hatten alles Mögliche versucht, ohne Erfolg, es hatte nicht das geringste Anzeichen gegeben, seine Frau hatte kein einziges Mal empfangen. Er hatte mehrmals erwogen, sich von ihr zu trennen, doch der wirtschaftliche Einfluss ihres Vaters war einfach zu wichtig. Er wusste, es hätte noch andere Möglichkeiten gegeben, sein strenger und ernsthafter Glaube verbot es ihm jedoch, auch nur daran zu denken.
Alois hatte wahrlich kein Interesse, mit seinem Bruder über diese Misere zu sprechen. Doch der fuhr eindringlich fort: „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, wie sehr du mich hassen musst. Du hast nie verstanden, warum ich nach Amerika gegangen bin. Ich weiß, ich habe Fehler gemacht, aber bitte lass nicht meinen Sohn dafür büßen. Du könntest Niklas ganz nach deinem Willen erziehen, er ist wirklich ein schlauer Bursche. Ich flehe dich an, Alois, versprich mir, gut für ihn zu sorgen.“
Er griff nach ihm und klammerte sich an seine Hand, Alois fühlte sich überrumpelt und spürte nichts als Abscheu. Er wollte diesem Gejammer ein Ende bereiten und deshalb gab er Karl das Versprechen, ohne lange nachzudenken.
Auf dem Nachhauseweg machte er sich Vorwürfe. Wieso hatte er sich dazu hinreißen lassen? Was sollte er mit dem Balg seines missratenen Bruders anfangen? Doch mit einem Mal kam ihm ein so großartiger, so triumphaler, so vernünftiger Gedanke, dass es ihn innerlich schauderte. Er würde Genugtuung erhalten für all den Verdruss, den sein Bruder ihm bereitet hatte.
In aller Eile ließ er ein Schriftstück aufsetzen, das er wenige Stunden später mit zufriedener Miene seinem Bruder vorlegte. Dessen Zustand hatte sich wieder verschlechtert, er konnte kaum die Buchstaben auf dem Papier erkennen. Er entzifferte ihre Namen sowie die Worte „Vormundschaft“, „Ausbildung“ und „bis zum vollendeten einundzwanzigsten Lebensjahr“. Mehr brauchte er nicht, er unterschrieb das Papier, dankte seinem Bruder mit Tränen in den Augen für seine Güte und verstarb in der folgenden Nacht.
Am nächsten Morgen sorgte Alois dafür, dass Karl möglichst kostengünstig unter die Erde kam, und holte den Jungen persönlich aus dem Waisenhaus ab. In der Küche seines Hauses, den Salon ließ er erst zwei Jahre später anbauen, informierte er ihn über den Tod seiner Eltern und erklärte ihm, er würde ab sofort hier leben und arbeiten. Niklas nahm die Nachricht erstaunlich gefasst entgegen. Bevor Alois ihn über sein zukünftiges Leben aufklären konnte, kam seine Frau, warf einen Blick auf den Jungen und sagte: „Ich will das Balg von diesem Taugenichts nicht an meinem Tisch sitzen haben!“
„Mein Vater war kein Taugenichts“, begehrte Niklas auf.
„Oh doch, mein Junge, das war er“, entgegnete Alois gereizt. „Er hat meine Existenz und die deines Großvaters aufs Spiel gesetzt, nur um in der Neuen Welt Abenteuer zu erleben! Er hat ein halbes Vermögen verprasst, wahrscheinlich hätte er auch noch seine Seele verhökert, wenn es nötig gewesen wäre.“
„Das ist nicht wahr“, rief der Junge mit Tränen in den Augen, vor Wut und vor allem vor Trauer, die sich allmählich ihren Weg bahnte.
Alois lächelte. „Doch, es ist wahr. Ich werde dir etwas zeigen.“ Er holte das Schriftstück aus der Brusttasche seines Gehrocks. „Kannst du das lesen?“
Niklas senkte und schüttelte den Kopf. Seine Mutter hatte ihm schon einige Buchstaben des Alphabets gezeigt, er konnte halbwegs seinen Namen schreiben, weiter waren sie jedoch nicht gekommen.
„Macht nichts“, sagte Alois mit beinahe fröhlichem Unterton. „Aber du erkennst die Unterschrift deines Vaters, nicht wahr? Ich habe hier unterschrieben, also ist dies ein gültiger Vertrag. Dein Vater hat bestimmt, du sollst an seiner Stelle die Schulden abarbeiten, die er gemacht hat. Ich übernehme deine Vormundschaft und du wirst bis zu deinem einundzwanzigsten Lebensjahr für mich arbeiten, bis das Erbteil samt Zinsen wieder erwirtschaftet ist. Du hältst deinen Vater für einen ehrenwerten Mann? Er hat dich verkauft, mein Junge. Ich werde es dir Satz für Satz vorlesen.“
III.
An dem Mittag, als ich Nick zum ersten Mal traf, ahnte ich von alldem natürlich noch nichts. Ich hielt ihn für einen Stallburschen oder Pferdeknecht und beneidete ihn sofort um seine wunderbare Arbeit. Er war von meiner Anwesenheit jedoch alles andere als begeistert. „Du musst hier verschwinden. Was machst du überhaupt auf dem Fabrikgelände?“
„Ich habe meinem Vater sein Essen gebracht“, erklärte ich und meine junge Stimme wurde ein wenig dunkler. „Er hat mich … ich bin weggelaufen und dann habe ich die Pferde gehört.“
„Weggelaufen? Fabelhaft. Wenn sie nach dir suchen und dich hier finden, kriege ich auch noch Ärger.“
„Nein. Mich sucht keiner. Mein Vater hat bis heute Abend Schicht und meine Mutter kommt erst in zwei Stunden nach Hause. Solange habe ich Zeit. Darf ich dir helfen, die Pferde zu striegeln?“
„Nein“, beharrte er, recht gereizt inzwischen. „Du sollst mir überhaupt nicht helfen. Du sollst einfach nur gehen.“
Ich suchte angestrengt nach einem Argument, um ihn von meiner Nützlichkeit zu überzeugen. Normalerweise war ich nicht so aufdringlich, doch meine einzige Alternative war, nach Hause zu gehen und danach stand mir wirklich nicht der Sinn. Eine herrische Stimme unterbrach mich in meinen Überlegungen. „Nick! Wo steckst du?“
Obwohl ich überhaupt keine Vorstellung hatte, wem diese Stimme gehörte oder was derjenige wollte, war sie mir vom ersten Moment an unsympathisch. Ich sah, wie der Junge vor mir zusammenzuckte. Es war keine bewusste Bewegung, mehr ein Reflex, und es war ihm überhaupt nicht recht, dass ich Zeugin dieses kurzen Ausdrucks von Schwäche geworden war. Doch im Augenblick hatte er ein viel dringlicheres Problem. „Versteck’ dich!“, zischte er mir zu.
Ohne nachzudenken duckte ich mich hinter den Strohballen, den er vorher hereingebracht hatte. Ich hörte, wie jemand in den Stall kam. Die unangenehme Stimme erklang erneut. „Hast du mit dem Ausmisten noch nicht angefangen?“
In der Stimme des Jungen schwang Unsicherheit. „Nein, ich … Ich habe drüben etwas länger gebraucht, weil …“
„Hast du so wenig Arbeit, dass du es dir leisten kannst, herumzutrödeln?“
„Nein, Onkel, ich …“
„Du wirst eine zusätzliche Kiste zum Etikettieren bekommen.“
„Aber ich …“, die junge Stimme begehrte kurz auf und wurde wieder leiser. „Ist gut.“
Ich hörte Schritte, die sich entfernten. Der Junge atmete kurz durch und sagte: „Du kannst wieder herauskommen.“
Ich wollte ihn fragen, was für ein Mann das gewesen sei und warum er so kalt und wütend geklungen hatte, doch er war bereits in Geschäftigkeit verfallen, hatte sich eine Mistgabel genommen und warf mir nur einen kurzen Blick zu: „Du hast es ja gehört. Keine Zeit zum Pferdestriegeln. Geh’ jetzt einfach, ja?“
Ich rechnete mir keine Chancen aus, ihn noch umzustimmen, deswegen nickte ich und machte einige Schritte in Richtung Tor, bevor ich merkte, dass ich etwas vergessen hatte. „Oh“, sagte ich, lief zurück und holte den Henkelmann hinter dem Strohballen hervor. Der Junge beobachtete mich und starrte auf den Behälter. Ich dachte, er wüsste nicht, was das sei und erklärte: „Da ist das Essen für meinen Vater drin.“
Er nickte nur und wandte den Blick ab. Ich kann nicht genau sagen, warum ich die nächste Frage stellte. Vielleicht weil er wirklich furchtbar mager war. „Er hat fast alles übrig gelassen. Willst du es haben?“
Seine Augen weiteten sich kurz, doch er wiegelte ab: „Das wird doch bestimmt jemandem auffallen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Meine Mutter ist froh, wenn sie glaubt, er hätte aufgegessen. Die Reste bekommt sowieso … kommen immer weg.“ Ich fand es unpassend, ihm zu sagen, dass ich die Reste meistens unserem Schwein verfütterte, und öffnete einfach den Deckel. „Nimm schon.“
Er fischte das Gemüse und die wenigen faserigen Fleischstückchen mit der Hand aus dem Behälter und schlürfte anschließend die Flüssigkeit heraus. Als er mir den leeren Henkelmann zurückgab, schien es ihm peinlich zu sein. „Danke“, sagte er ohne mich anzuschauen.
Ich nickte erneut, schloss den Deckel und machte mich auf dem Weg. Als ich schon zum Tor hinaus war, hörte ich ihn rufen: „He, wie heißt du eigentlich?“
Ich drehte mich um. „Rebecca. Und du?“
„Niklas. Die meisten nennen mich Nick.“
IV.
Wäre man über das Fabrikgelände gegangen und hätte die Leute nach Niklas Herder gefragt, hätte man vorwiegend in ratlose Gesichter geschaut. Die meisten Arbeiter kannten sowieso nur ihre Halle und vielleicht noch das Büro des Verwalters, sie betraten und verließen die Fabrik mit gesenktem Kopf und kümmerten sich nicht um das, was um sie herum geschah.
Einige hatten von Nick, dem Stallburschen, gehört oder schon mit ihm zutun gehabt, der sich um die Pferde, die Fuhrwerke und auch noch um recht viele andere Dinge kümmerte. Er galt als zurückhaltender und höflicher Junge, der selten sprach, fleißig war und manchmal erstaunlich aufgeweckte Ideen hatte. Man hielt ihn für einen Waisenjungen, dem Herr Herder freundlicherweise Arbeit und Obdach gewährt hatte. Einer der Kutscher hatte vor nicht allzu langer Zeit versucht, ihm etwas näher zu kommen. Er hatte ihm Geschichten von sich und den anderen Arbeitern erzählt und ihn gefragt, ob er nach Feierabend nicht einmal mit in die Wirtschaft kommen wollte. Mit zwölf könne man schließlich schon den einen oder anderen Schnaps vertragen.
„Ich habe keinen Feierabend“, hatte Nick nur geantwortet, war weggegangen und hatte sich in den folgenden Wochen von den Kutschern ferngehalten so gut es ging.
Ich habe es nie wirklich verstanden. Jeder, der Nick kannte und sah, wie er lebte, musste doch merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich war noch nicht ganz elf Jahre alt und ahnte es vom ersten Moment an. Doch niemand stellte Fragen. Man mischte sich nicht in fremde Angelegenheiten, zumal nicht, wenn es sich um die Angelegenheiten von Alois Herder handelte.
Damals wussten über die näheren Umstände außer Nick, Alois und seiner Frau höchstens eine Handvoll Leute Bescheid. Der Verwalter natürlich, der gelegentlich damit beschäftigt gewesen war, den Jungen bei seinen erfolglosen Fluchtversuchen wieder einzufangen. Die Wachleute am Tor hatten die Order, ihn nicht nach draußen zu lassen, das Personal im Haus wusste, wann er sich etwas zu essen holen oder seine Wäsche wechseln konnte.
Sie taten, was ihnen aufgetragen worden war und vielleicht hätten sie es selbst dann ohne Widerspruch getan, wenn ihnen jemand gesagt hätte, dass dieser stille und unzugängliche Bursche der Neffe und nächstlebende Verwandte ihres Arbeitgebers, des großen Herrn Fabrikdirektors war.
Die Zeiten und Umstände, in denen wir lebten, vor allem die beständige Angst, seine Arbeit zu verlieren, boten keinen besonders guten Nährboten für Mitgefühl oder andere Herzensregungen. „Siehst du, wie bleich sie sind?“, fragte Nick mich einmal, als wir uns für eine Weile auf den Heuboden des Stalls zurückgezogen hatten und einige Arbeiter auf ihrem Weg über das Gelände beobachteten. „Das kommt, weil sie kein Blut mehr in den Adern haben. Das ist ihnen längst ausgesaugt worden. Ihre Herzen sind leer und pumpen nichts als Luft.“
„Oder Schnaps“, ergänzte ich und dachte an meinen Vater.
Schon als ich nach meiner ersten Begegnung mit Nick nach Hause ging, wusste ich, etwas war mit mir geschehen. Ich war nicht mehr die Person, die eine halbe Stunde zuvor das Fabrikgelände betreten hatte. Alles um mich herum, meine so vertraute Umgebung, die einzige Welt, die ich kannte, hatte sich verwandelt.
Allerdings nicht zum Guten. Ich empfand alles lauter, die Kontraste wirkten schärfer, ich sah Verfall und Schmutz und Dreck, den ich schon seit Langem nicht mehr wahrgenommen hatte. Ich verstand es nicht, verbuchte ich die Begegnung im Stall in meiner Erinnerung doch eindeutig als schönes Erlebnis. Vor allem hatte ich mich natürlich über die Pferde gefreut, und noch bevor ich richtig zum Fabriktor hinaus war, begann ich zu überlegen, ob und wie sich diese Begegnung wiederholen ließe.
An den nächsten beiden Tagen war meine Mutter mittags zu Hause und drängte mich, Vater schnell das Essen zu bringen, weil sie beim Nähen meine Hilfe brauchte. Ich wagte keinen Widerspruch und beeilte mich. Obwohl ich mich beständig umschaute, sobald ich das Fabrikgelände betreten hatte, bekam ich Nick nicht zu Gesicht – natürlich nicht, ich machte diesen Weg schließlich seit vier Jahren und wir waren uns zuvor kein einziges Mal begegnet.
„Morgen muss ich zur Frau des Bürgermeisters“, erwähnte meine Mutter am Abend des zweiten Tages und ich versuchte, meine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen. Ich wusste genau, wie weit das Haus des Bürgermeisters von unserer Siedlung entfernt war. Sie würde lange brauchen und erst am späten Nachmittag zurückkommen. Ich wollte diese Gelegenheit in jedem Fall nutzen.
Ich beeilte mich auf dem Schulweg, bat eine Nachbarin, ab und zu nach meinen Geschwistern zu sehen, sorgte dafür, dass der Eintopf für meinen Vater anständig heiß war, und brachte ihn in die Fabrik.
„Was starrst du mich so an?“, fragte er mich beim Essen unwillig. Ausgerechnet heute ließ er sich besonders viel Zeit, zumindest kam es mir so vor und ich verfolgte jeden Löffel, den er sich in den Mund schob, mit meinem Blick. Wie üblich ließ er auch heute etwas übrig. Die Menge an fester Nahrung, die er zu sich nahm, wurde mit den Jahren kontinuierlich weniger, er ersetzte sie zunehmend durch flüssige.
Immerhin hatte er außer an meinem Blick sonst nicht viel auszusetzen, er fragte sogar, wie es in der Schule gewesen sei.
„Gut“, antwortete ich ungeduldig, was ihn zu einem Blick in die Runde seiner Kollegen veranlasste. „Gut? Ist das alles? Da sagen die Weiber immer, man solle sich mit ihnen unterhalten und dann so was!“
Das zustimmende Murmeln berührte mich an diesem Tag kaum, ich wartet, bis er mir endlich den Henkelmann zurückgab, und sagte nur „Ja, ja“, als er mir nachrief, ich solle anständig sein und dafür sorgen, dass das Abendessen pünktlich auf den Tisch käme.
Ich machte mich auf den Weg zum Stall und traf Nick, der gerade eine Schubkarre voll Mist nach draußen schaffte. Als er mich sah, hielt er an, musterte mich und fragte: „Was willst du denn schon wieder hier?“, klang dabei jedoch nicht halb so unwillig wie bei unserer ersten Begegnung.
Ich hielt mich exakt an das Protokoll, das ich am Morgen in der Schule ausgearbeitet hatte. „Du hast doch recht viel Arbeit, nicht wahr?“
Er zuckte nur mit den Achseln und wartete ab.
„Und ich habe ein wenig Zeit. Und will nicht nach Hause. Also kann ich dir doch helfen. Ich mache, was du sagst und halte dich ganz bestimmt nicht auf. Ich verrate es auch niemandem und … nun, vielleicht kann ich ja eines von den Pferden striegeln.“
Er betrachtete mich eine ganze Weile. „Warum willst du nicht nach Hause?“
„Weil ich unsere Wohnung hasse! Es ist so öde dort und immer das Gleiche. Ich habe da keinen Platz für mich, ich muss immer nur meine Aufgaben erfüllen.“
„Tatsächlich?“ Ich sah, wie er überlegte. Und dann nickte er einmal kurz mit dem Kopf. „Also gut. Heute kommt er sowieso nicht mehr vorbei.“
Er drückte mir die Mistgabel in die Hand, die er auf die Schubkarre gelegt hatte, und sah mich eindringlich an. „Eine Stunde. Du mistest die restlichen beiden Verschläge aus und danach kannst du meinetwegen Rosalie fertigmachen, er braucht heute Abend die Kutsche. Du versteckst dich, wenn ich es dir sage, und stellst keine dummen Fragen.“
Ich nickte ernst, bemühte mich zumindest, konnte meine Freude und Erleichterung allerdings kaum verbergen. Er schickte mich mit einer Kopfbewegung in den Stall. Mit viel Fantasie – wovon ich ausreichend besaß – konnte man den Anflug eines Lächelns erkennen, das über sein Gesicht streifte.
V.
Nick nannte seinen Onkel nie beim Namen, zumindest nicht in meiner Gegenwart, er sprach immer nur von „ihm“ und erklärte mir natürlich nicht, wen er damit meinte. Zu Anfang kümmerte mich das auch nicht, ich war einfach nur glücklich, bei den Pferden sein zu dürfen, Ruhe vor meiner Familie und eine Arbeit zu haben, die mir wirklich Spaß machte.
Nick beobachtete mich immer wieder an diesem ersten Nachmittag. Ich hielt mich an seine Anweisungen, mistete aus, striegelte die liebe, alte Rosalie, zu der ich schon bald eine innige Beziehung haben sollte, und beendete meine Arbeit pünktlich nach einer Stunde. Er inspizierte die Verschläge und die Stute, nickte einmal kurz, wie es so typisch für ihn war, und schien zufrieden.
„Darf ich morgen wiederkommen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„Wenn es sein muss“, antwortete er.
Ich habe ihn nie gefragt, was ihm während dieser ersten Begegnungen zwischen uns durch den Kopf gegangen ist. Ich denke, er war vor allem bestrebt, sich schnell ein Bild von mir zu machen. Anfangs war ich für ihn einfach nur das kleine, naive Mädchen mit einer seltsamen Leidenschaft für Pferde, ein wenig anstrengend manchmal, vor allem jedoch vollkommen ungefährlich. Er hatte die Situation unter Kontrolle, wusste, ich würde mich an seine Anweisungen halten, selbst wenn er mich leid werden und wegschicken würde. Er hatte keine Erwartungen an mich und erwartete nichts von mir, noch nicht einmal etwas Böses, und das war für seine Verhältnisse ein ausgesprochen großer Vertrauensvorschuss.
Ich begann, meine Tage und Wochen neu zu strukturieren. In erster Linie musste ich mich danach richten, wann und wie lange meine Mutter arbeiten ging. Wenn sie nachmittags zu Hause war, erwartete sie meine Anwesenheit, ich hatte keine Möglichkeit, meinen Verpflichtungen zu entgehen.
Zu unserer aller Freude – die einen freuten sich über die zusätzlichen Einnahmen, ich mich über etwas anderes – hatte sie in den kommenden Monaten sehr viele Aufträge, war beinahe ständig unterwegs und konnte sich sogar stundenweise in der Werkstatt eines professionellen Schneiders einmieten. Als Folge hatte ich zu Hause wesentlich mehr zu erledigen, konnte meine Zeit jedoch auch freier einteilen, was ich bedenkenlos ausnutzte.
Ich übertrug einige Arbeiten meiner jüngeren Schwester Agnes, die natürlich protestierte und bei jedem unserer zukünftigen Streits damit drohte, unseren Eltern zu erzählen, wie oft ich nachmittags nicht zu Hause war. Es kostete mich einige meiner Schätze – mehrere Murmeln, meine liebsten Haarbänder und den Ring, den ich auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte – um sie als Mitverschwörerin zu gewinnen.
Ich versuchte, wenigstens drei Nachmittage in der Woche im Stall und bei Nick zu verbringen. Kam meine Mutter zufällig einmal früher nach Hause als ich, konnte ich meist eine glaubhafte Geschichte erfinden. Am Wochenende hatte ich leider keine Alternative und musste in der Wohnung bleiben. Mein Vater arbeitete samstags bis vier, es gab keine längere Mittagspause und somit auch kein Essen. Er und seine Kollegen bekamen nach der Schicht ihren Wochenlohn ausbezahlt und natürlich musste dieses Ereignis gemeinsam mit den anderen in der Wirtschaft gebührend gefeiert werden. Er kam in der Regel erst spätabends nach Hause, seine Lohntüte in der Hand, die schon ein Stück schmaler war als bei der Auszahlung. Meine Mutter hingehen verbrachte den Sonnabend grundsätzlich zu Hause, die Wohnung musste geputzt, die Wäsche gewaschen und die Kinder gebadet werden, meine Hilfe dabei wurde als selbstverständlich vorausgesetzt.
Sonntags gab es natürlich auch keine Möglichkeit. Wir gingen zum Gottesdienst, mein Vater anschließend in die Wirtschaft, zumindest bis zum Mittagessen, das für meine Mutter die wichtigste Mahlzeit der ganzen Woche war. Sie bestand auf Vollzähligkeit der Familie und hätte uns, wenn nötig, tagelang Kohlsuppe vorgesetzt, nur um sonntags etwas Anständiges auf den Tisch zu bringen. Wenn mein Vater es in der Wirtschaft nicht übertrieben hatte, konnte man ihn danach zu einem gemeinsamen Spaziergang oder zumindest zu einem Gesellschaftsspiel überreden. Wenn er bereits zu viel getrunken hatte, verschlief er den Rest des Tages, was mir in der Regel am liebsten war.
Vor allem die Spaziergänge waren mir ein Graus. Wir mussten unsere Sonntagskleider tragen, die wir schon zum Gottesdienst angehabt hatten – zum Essen mussten wir uns immer bettlakengroße Tücher vorlegen – und stolzierten damit durch unsere verdreckten und engen Straßen. Wenn man die Nachbarn traf, wurde ein kurzes Schwätzchen gehalten, über die politische Lage oder das Leben der Reichen, niemals über das eigene. Man grüßte sich und warf sich wohlwollende Blicke zu, auch denen, die man insgeheim hasste.
Ich hätte meinen Nachmittag viel lieber lesend oder Ball spielend verbracht, doch ähnlich wie beim Mittagessen herrschte zum Spaziergang, wenn er denn stattfand, Anwesenheitspflicht. Gelegentlich führte uns unser Weg an der Fabrik vorbei, deren Tore sonntags natürlich geschlossen waren. Ich dachte an Nick und freute mich auf die kommenden Tage, an denen wir uns sicherlich sehen würden. Ich ging naiverweise und völlig selbstverständlich davon aus, er würde ebenfalls im Viertel wohnen. Ich fragte mich noch nicht einmal, warum wir uns noch nie auf der Straße begegnet waren. Es dauerte mehr als ein halbes Jahr, bis ich den wahren Grund erfuhr.
Nach vier Wochen hatten wir längst eine gewisse Routine entwickelt. Ich mistete meistens aus und fütterte und striegelte die Pferde, er brachte den Mist weg, holte Stroh und Futter oder spannte die Pferde in die Kutsche ein. Ich wusste nicht, was Nick am Vormittag tat und genauso wenig, womit er am späten Nachmittag beschäftigt war, ich wusste nur, nach dem Mittagessen kümmerte er sich um den kleinen Stall und mehr interessierte mich auch nicht.
Ich achtete darauf, möglichst im Gebäude zu bleiben, um nicht entdeckt zu werden, bloß weckten auch die Kutschen mein Interesse und ich stellte mich immer wieder zumindest ans Tor, um Nick zu beobachten. Da er wenig redete, schwieg ich anfangs auch, doch das wurde mir bald zu langweilig und ich fing an, ihm Fragen zu stellen. Solange sie sich um Pferde oder die Arbeit im Stall drehten, war er in der Regel bereit, mit Auskunft zu geben und sein Wissen mit mir zu teilen.
Nur einmal, montags zu Beginn der dritten Woche, wirkte er verändert. Er begrüßte mich nicht, hatte einen steifen Gang und verzog öfter das Gesicht, während er mit der Mistkarre hantierte. Ich fragte ihn etwas Belangloses, ob ich Rosalie die Mähne einflechten dürfe oder so. Er drehte sich zu mir um, sowohl das Funkeln in seinen Augen als auch die darunterliegende Schwermut waren deutlicher als sonst, und sagte: „Hör’ zu. Wenn du hierbleiben willst, erledige einfach deine Arbeit, mach’ was du willst, aber lass mich in Ruhe, in Ordnung?“
Er wandte sich ab und kümmerte sich bis zu seinem Abschiedsgruß, einem kurzen Nicken, nicht mehr um mich. Als ich drei Tage später wiederkam, benahm er sich so, wie ich es von ihm gewohnt war und ich traute mich nicht zu fragen, was er gehabt hatte.
Eine Woche später erwischte uns der Verwalter. Nick war vor dem Stall und schraubte an der Federung des Einspänners, ich kam mit einem Futtereimer ans Tor. „Sag mal … bekommt der Braune wirklich nur so wenig Hafer? War das letzte Woche nicht mehr?“
Nick schaute kurz zu mir. „Hast du gesehen, wie er dasteht? Er wird im Moment kaum bewegt, Kraftfutter macht ihn nur fett und unleidlich.“
„Warum reitest du ihn nicht?“, fragte ich naiv und bekam als Antwort nichts als diesen langen, unergründlichen Blick, den ich bereits kannte und der mich wissen ließ, er würde dazu nichts sagen.
Im nächsten Moment bog der Verwalter um die Ecke. „Nick, bist du mit der Kutsche fertig? Der Direktor will …“
Er erstarrte, genau wie wir. Er sah erst mich, dann Nick, dann wieder mich an und fragte wachsam, aber nicht allzu unfreundlich: „Wer ist das denn?“
Nick fühlte sich ertappt, er blickte überall hin, nur nicht zu dem Verwalter, das Funkeln verschwand beinahe gänzlich aus seinen Augen. Also antwortete ich so unbekümmert, wie es mir möglich war: „Ich bin Rebecca. Ich habe meinem Vater das Essen gebracht und wollte nur schnell die Pferde streicheln.“
„Tatsächlich?“ Der Verwalter zog seine Uhr aus der Tasche. „Mittagspause war vor einer Stunde. Recht viel Zeit vergangen beim Streicheln, was? Weiß dein Vater, dass du hier bist?“
„Natürlich“, erklärte ich so inbrünstig, er durchschaute die Lüge sofort. Er wandte sich an Nick. „Wie lange geht das schon so?“
Nick hatte sich halbwegs gefangen, rang kurz mit sich und blickte den Verwalter direkt an. „Es ist doch nichts dabei, Herr Cornelius. Sie kommt ab und zu und hilft mit, weil sie die Tiere so mag. Sie stört mich nicht und ich mache meine Arbeit, also …“
Der Verwalter war noch nicht überzeugt. „Ich glaube, Herr Herder wäre nicht sonderlich begeistert, wenn er davon wüsste.“
„Muss er es erfahren?“, fragte Nick mit unüberhörbarem Trotz in der Stimme.
Herr Cornelius schien einen Moment zu überlegen. Er blickte uns noch einmal an, seufzte und erklärte: „Der Direktor braucht den Einspänner in einer halben Stunde. Schaffst du das?“
Nicks Erleichterung spiegelte sich in seinem Nicken, der Verwalter sagte noch: „Ich verlasse mich auf dich“ und verschwand nach einem letzten kritischen Blick.
Ich ließ den Eimer auf den Boden gleiten, weil ich keine Kraft mehr in den Fingern hatte. Nick lehnte sich mit der Stirn gegen den Kutschbock und verharrte so für geraume Zeit.
Zehn Jahre später schrieb er mir in einem Brief, es wäre nicht so sehr die Angst vor einer möglichen Bestrafung gewesen, die ihn so durcheinandergebracht hatte. Er war Kummer gewohnt und hätte die Konsequenzen ertragen, wie er alles andere ertrug.
Ihm wäre in diesem Moment klar geworden, schrieb er, wie sehr er sich inzwischen an meine Besuche gewöhnt hatte und wie sehr sie ihm fehlen würden, wenn mir auf einmal jemand verboten hätte zu kommen. Und diese Feststellung brachte an dem Bild, das er sich anfangs von mir gemacht hatte, einiges durcheinander. Er hatte eben doch Erwartungen an mich. Zumindest die eine, dass ich wiederkomme. Und das machte ihn angreifbar. In diesem Moment, mit der Stirn an den Kutschbock gelehnt, musste er sich entscheiden, ob er bereit war, ein winzig kleines Risiko einzugehen.
Als er sich zu mir umdrehte, hatten sich seine Augen abermals verändert. Das Funkeln war wieder da, nicht so stechend, sondern verwaschener, weicher als sonst.
Ich atmete tief und fragte: „Soll ich gehen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Herr Cornelius wird nichts sagen. Er ist eigentlich ein guter Mann. Und falls doch … egal. Hol’ mir mal den großen Hammer vom Regal über der Haferkiste. Ich bekomme diesen verdammten Bolzen nicht auf.“
VI.
Die Erforschung von Nick Herders Leben glich dem Zusammensetzen eines Puzzles. Ich brauchte über zwei Jahre, bis ich zumindest den Rahmen vervollständigt hatte, manche Abschnitte des Bildes konnte ich erst Jahrzehnte später entschlüsseln und ich weiß genau, es gibt viele Puzzleteile, die unwiederbringlich verloren sind und etliche Fragen, auf die ich nie eine Antwort bekommen werde.
Am Anfang waren mir Antworten gar nicht so wichtig, was wohl ein wesentlicher Grund dafür war, dass sich die Freundschaft zwischen Nick und mir so unbehelligt entwickeln konnte. Mich interessierten die seltenen Augenblicke, die wir miteinander teilten, nicht seine Vergangenheit und genauso wenig seine oder unsere Zukunft. Ich wusste, er redete nicht gerne über sich, was mich nicht davon abhielt zu fragen, wenn ich unbedingt etwas wissen wollte. Ich akzeptierte, was er zu mir sagte, genauso wie ich es akzeptierte, wenn ich nur seinen Blick als Antwort erhielt.
Das Meiste reimte ich mir sowieso aus seinen wenigen Bemerkungen, seinen Gesten und unseren gemeinsamen Erlebnissen zusammen. Einer der ersten Schlüsse, die ich zog, war, dass er wohl keine Familie hatte, ein zweiter, dass er sehr schlecht verdienen musste, weil er sich so wenig zu Essen leisten konnte.
Es wurde mir bald zu lästig, darauf zu hoffen, mein Vater würde etwas von seinen Mahlzeiten übrig lassen, auch wenn das oft genug der Fall war. Da ich die Reste bisher immer unserem Schwein verfüttert hatte, sobald ich aus der Fabrik zurückgekommen war, fiel niemandem auf, dass inzwischen ein anderer von meines Vaters Mittagessen profitierte. Für die Sau tat es mir zwar leid, doch sie verkraftete es ganz gut.
Trotzdem war mir die Unsicherheit zu groß und ich begann, zusätzliche Lebensmittel einzustecken: ein Stück Brot, einen Apfel, was immer gerade da war. Wir waren zu dieser Zeit vier Kinder, die von meinen Eltern durchgebracht werden mussten, da fiel es nicht sonderlich auf, fand ich, wenn gelegentlich ein fünftes dazukam.
Nick und ich redeten im Grunde nur einmal über dieses Thema. In den allerersten Tagen, als ich noch davon ausging, er würde ein normales Leben führen, fragte ich ihn angesichts seiner mageren Statur, ob er denn niemanden hätte, der ihm mittags Essen brachte. Ich hielt das für eine selbstverständliche Sache, schließlich bekamen die meisten anderen Arbeiter in der Fabrik ihre Mahlzeit auf diese Weise. Er lachte bitter auf. „Jemand, der mir das Essen bringt? Du hast wirklich seltsame Ideen. Ich kann mir zweimal am Tag von den Resten holen, die er übrig lässt.“
Ich verstand den Hintergrund seiner Worte noch nicht, lächelte ihn stattdessen an und schlug vor: „Vielleicht kann ich dir ja öfter etwas mitbringen.“
Er starrte mich mit seinen unergründlichen Augen an, sagte: „Wenn du meinst“ und wandte sich wieder dem Strohballen zu, den er gerade aufgeschnitten hatte.
In meinen Augen hatten wir damit eine Vereinbarung getroffen und ich versuchte sie einzuhalten, sooft ich konnte. Wir verloren kein Wort mehr darüber – ich stellte ihm den Henkelmann und was ich sonst dabei hatte auf die Haferkiste und er bediente sich, wenn es ihm passte. Einmal, an einem Montag Ende Mai, wirkte er unruhig und konnte es kaum erwarten, bis ich den Blechbehälter abgestellt hatte. Er schlürfte die Suppe und aß den Apfel gleich hinterher, als er fertig war, wischte er sich den Mund ab und warf mir einen kurzen Blick zu. „Danke. Das war nötig.“
„Warum?“, wollte ich wissen.
„Weil ich Hunger hatte“, sagte er nur.
Die Montage erwiesen sich sowieso als schwierig. Er war häufig gereizter als sonst, ignorierte mich, reduzierte seine Worte und Bewegungen auf das gerade notwendige Maß. Woran das lag? Sein Onkel Alois Herder war ein ausgesprochen gläubiger Mann. Harte und rechtschaffene Arbeit waren seiner Meinung nach unabdingbar, damit ein Mensch einen guten Charakter ausbilden konnte. Außerdem befand er es als seine oberste Pflicht, die Seelen der ihm Anvertrauten rein zu halten und von der Sünde zu befreien, worum er sich jeden Sonntag bei einer privaten Andacht bemühte, die er für seine Familie und seine auf dem Gelände lebenden Angestellten abhielt. Unter anderem hielt er Fasten für einen gottgefälligen Weg, um zur Läuterung zu gelangen. Und noch einige andere Dinge mehr.
Nicks Charakter zu erforschen war nicht nur ein Puzzlespiel, es war eine Entdeckungsreise, in die Reinheit und die Abgründe der menschlichen Seele. Es gab Momente, in denen mir schwindelig wurde, weil bei ihm beides oft so erschreckend nah beieinanderlag.
Es gab wirklich eine Menge, das ich an Nick schätzte und über die Jahre immer weiter schätzen lernen sollte. Es gab manches an ihm, das ich mehr als einmal verfluchte.
Der Charakterzug, den ich anfangs am wenigsten verstand und der mir immer am meisten Probleme bereitete, war dieser unglaubliche und unerträgliche Stolz. Ich verstand durchaus, dass er ohne ihn niemals überlebt hätte. Andererseits machte mich diese stille, schweigsame und verbohrte Art, mit der er seine Lebensumstände erduldete, manchmal fast wahnsinnig.
Eines wusste ich ganz genau: Auch wenn all die Leute in der Fabrik ständig die Köpfe einzogen, wegschauten und ignorierten, was sie sahen, es hätte mit Sicherheit einige gegeben, die ihm unter die Arme gegriffen hätten, wenn er nur gefragt hätte. Doch Nick Herder fragte nicht. Er wollte keine Hilfe. Es dauerte ganze sechs Jahre, bis er zum ersten Mal eine Bitte an mich richtete, die schwerwiegender war als: „Holst du mir mal den Hammer?“ oder „Kannst du das kurz halten?“
Es gab so viele Feinheiten des zwischenmenschlichen Umgangs, die er nicht verstand und die ihm schlicht entgingen, weil er sie nie gelernt hatte. Gleichzeitig verblüffte er mich immer wieder, weil er Dinge mitbekam oder sich an Begebenheiten erinnern konnte, die mir überhaupt nicht aufgefallen waren.
Im April feierte ich meinen elften Geburtstag, er fiel auf einen Sonntag und meine Mutter hatte sich wirklich Mühe gegeben, von ihrem Zusatzverdienst etwas abgezwackt und mir einen Kuchen mit guter Butter gemacht. Wenn mein Vater nicht den ganzen Nachmittag schnarchend am Küchentisch gesessen hätte – er hatte meinen Geburtstag morgens in der Wirtschaft gefeiert – wäre es bestimmt ein schöner Tag geworden.
Montags brachte ich Nick die Reste vom Kuchen mit. Obwohl er wie üblich schweigsamer war als sonst, wollte er wissen, ob es einen besonderen Anlass gäbe, und nahm die Information über meinen vortägigen Geburtstag ohne Regung und ohne mir zu gratulieren zur Kenntnis.
Wir sprachen nie mehr darüber, doch genau ein Jahr später, an meinem zwölften Geburtstag, lag ein kleiner Veilchenstrauß auf der Haferkiste und darunter eine wirklich schöne Muschelscherbe. Sie zeigte auf der Außenseite ein Spiralmuster, innen schimmerte sie perlmuttern, Nick hatte die scharfen Kanten abgeschliffen, ein Loch gebohrt und eine Lederschnur durchgezogen.
Ich habe den Anhänger seither ständig getragen, nur die Lederschnur musste ich gelegentlich erneuern. Als ich ihm erfreut und überrascht danken wollte, wandte er sich ab. Obwohl ich mehrmals nachfragte, verriet er mir seinen Geburtstag erst viele Jahre später. Aber ich greife schon wieder vor.
Als mir klar geworden war, woher Nick sein Essen bekam – oder eben auch nicht – beschäftige mich bald die nächste Frage.
„Nick, wo wohnst du eigentlich?“
Wir saßen beide im Schneidersitz auf dem Boden des Stalls, einen Berg Zaumzeug und eine große Dose Lederfett zwischen uns, und polierten Halfter und Zügel.
„Was meinst du?“, fragte er ohne aufzuschauen zurück, als wüsste er mit dem Begriff nichts anzufangen.
„Na ja, wo lebst du, wo bist du zu Hause?“
„Hier“, erwiderte er und breitete dabei die Arme aus, als wäre das gesamte Fabrikgelände sein persönliches Eigentum.
Ich dachte kurz darüber nach und wollte es genauer wissen. „Und wo schläfst du?“
Sein Blick wurde skeptischer, doch er machte eine Kopfbewegung. „Drüben in der Werkstatt. Meistens zumindest.“
„Hm. Zeigst du mir das einmal?“
„Vielleicht. Hörst du jetzt endlich mit der Fragerei auf?“
Es dauerte dann gar nicht mehr so lange, bis ich seinen Schlafplatz zu Gesicht bekam. Eine Woche später, ich war zeitig dran, weil mein Vater wieder einmal gänzlich auf seinen Eintopf verzichtet und sich nur eine Scheibe Brot genommen hatte, war Nick nicht im Stall. Ich war unsicher, wusste nicht, ob ich mit der Arbeit anfangen sollte, und hatte ohne ihn auch viel mehr Angst, entdeckt zu werden. Dann fiel mir ein, was er über die Werkstatt gesagt hatte und ich beschloss, nachzusehen, ob er vielleicht dort wäre.
Die Werkstatt war ein länglicher, nicht besonders großer Fachwerkbau, mit breiten Fenstern und dünnen Wänden. Im vorderen Teil befand sich alles, was man in einer normalen Holzwerkstatt erwartete, außerdem lag ein Sattel dort und Teile, die bestimmt von einer Kutsche stammten. Im hinteren Teil war eine Kammer abgetrennt, die Tür stand offen, ich lugte zögernd um die Ecke. An der Wand stand ein Tisch, rechts davon eine Truhe, links lag eine einfache Matratze auf dem Boden. Es gab einen kleinen Ofen und an der Seite standen zwei Holzkisten, eine dritte Kiste stand auf dem Tisch. Ich machte einen Schritt in die Kammer und sah genauer hin.
Die Tabaksorten, die Alois Herder zur Produktion verwendete, zählten nicht unbedingt zu den hochwertigsten, weshalb er für seine Zigarren auch nicht die besten Preise verlangen konnte. Um dieses Manko wettzumachen, ließ er sie mit aufwendig bedruckten Banderolen versehen und legte allerhöchsten Wert darauf, dass diese akkurat angebracht wurden.
Weil er die menschliche Natur für so fehlbar hielt – nicht von ungefähr war er einer der Ersten in der Stadt gewesen, die auf industrielle Fertigung umgestellt hatten – hatte er sich dafür im letzten Jahr eigens eine Maschine konstruieren lassen. Sie brachte die Banderolen genau am unteren Drittel der Zigarre an und klebte die Enden exakt aufeinander. Mein Vater hatte uns davon erzählt, voller Begeisterung, was die moderne Technik alles fertigbrachte.
Deswegen verstand ich zunächst auch nicht, was ich hier sah, denn offenbar wurden an diesem Tisch ebenfalls Banderolen geklebt. Und ganz eindeutig nicht mit einer Maschine. Derjenige, der diese Arbeit verrichtete, hatte sich allerdings eine Art Schablone aus Holz gebaut, die ihm, wenn er eine Zigarre hineinlegte, genau anzeigte, auf welcher Höhe er die Banderole anbringen musste. Noch während ich die Apparatur betrachtete, hörte ich schnelle Schritte, die durch die Werkstatt kamen. Nick tauchte hinter der Abtrennung auf, zuckte zusammen, als er mich sah und rief in einer Mischung aus Schreck und Wut: „Herrgott, was machst du denn hier?“
Ich fühlte mich ertappt und war gleichzeitig neugierig. „Du warst nicht im Stall, ich wollte nur … Schläfst du hier?“
Er verdrehte die Augen. „Ja. Raus jetzt.“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung.
Ich drehte mich um, doch die Sache war mir zu mysteriös, deswegen deutete ich auf den Tisch. „Ich dachte, für die Banderolen hätte Herr Herder eine große Maschine.“
Nick schnaubte. „Ja, die hat er auch. Für die normalen Zigarren. Auf die hier schreibt er ‚in Handarbeit gefertigt’ und verlangt das Doppelte dafür. Jetzt komm endlich, ich habe wirklich haufenweise zu tun heute.“
Es war eine dieser Antworten, die ich hinnahm, ohne die ganze Tragweite zu begreifen. Erst als ich ihm später gelegentlich mit den Banderolen half, wurde mir die Geschichte klarer.
Nicks Tätigkeiten in der Herderschen Fabrik wurden unter zwei getrennten Posten verbucht, über die genaustens Buch geführt wurde: Ein Teil der Arbeit, die er leistete, wurde für Unterbringung, Verpflegung und, wie Alois Herder es nannte, seelsorgerische Betreuung verrechnet. Mit dem Rest arbeitete Nick das ab, was er für die Schulden und Schuldzinsen seines Vaters hielt.
Das Etikettieren der Zigarren fiel in die zweite Kategorie und war eine der ersten Arbeiten gewesen, in die sein Onkel ihn als Sechsjähriger eingewiesen hatte. Einmal im Jahr, vor der sonntäglichen Andacht, rechnete Alois Herder ihm vor, was er geleistet hatte und welche Summe noch offen war. Da der letzte Betrag sowieso niemals kleiner zu werden schien, hörte Nick schon lange nicht mehr zu.
Ich versuchte oft, es mir vorzustellen: Sich jeden Abend, nach einem körperlich anstrengenden Arbeitstag von zehn oder mehr Stunden hinzusetzen, mit geschwollenen und zitternden Fingern, im Flackern der Petroleumlampe, diese Banderolen zu kleben, am unteren Drittel der Zigarre, die Enden exakt aufeinander. Nick schaffte um die hundert Stück am Abend, bevor er einschlief oder seine Finger einfach nicht mehr mitmachten. Sein Soll lag bei drei Kisten pro Woche, á zweihundert Stück. Wenn es Alois Herder einfiel, gab er gern noch einmal eine dazu, wie er es an dem Tag getan hatte, als ich zum ersten Mal bei Nick im Stall gewesen war. Dann saß Nick sonntags bis tief in die Nacht an seiner Apparatur, was ein weiterer Grund dafür war, warum er montags oft so schlechte Laune hatte.
VII.
Der Sommer war längst dem Herbst gewichen, Nick und ich trafen uns seit einem guten halben Jahr und wurden nach wie vor nicht behelligt. Was nicht heißt, dass wir niemals zusammen gesehen oder beobachtet wurden. Die Leute in der Fabrik hatten sich bisher keine Gedanken um Nicks Lebensumstände gemacht und ich denke, auf dieselbe Weise übersahen sie jetzt, dass sich ein junges Mädchen regelmäßig auf den Weg zu den Ställen machte. Einige, der Verwalter Herr Cornelius gehörte wohl dazu, freuten sich vielleicht sogar über diese Entwicklung.
Nick kannte die Strukturen und Tagesabläufe in der Fabrik, er wusste, wann es gefährlich werden konnte und musste mir nur ein kurzes Zeichen geben, damit ich untertauchte. Der Mann mit der unangenehmen Stimme, vor dem Nick solche Angst hatte und von dem ich immer noch nicht wusste, wer es war, kam ganz selten vorbei, in all den Jahren musste ich mich höchstens vier oder fünf Mal vor ihm verstecken.
Trotzdem hatte auch ich Angst, vor allem natürlich vor meinem Vater. Ein großer Vorteil war, wie abseits dieser ganze Bereich – die beiden Ställe, die Werkstatt und die Halle für die Kutschen und Fuhrwerke – von den eigentlichen Produktionsstätten lag. Die Halle, in der mein Vater arbeitete, befand sich am anderen Ende des Geländes, kein normaler Arbeitsweg führte ihn in unsere Richtung.
Der kritischste Bereich war das Tor. Wenn ich mit dem Henkelmann in der Hand das Fabrikgelände betrat, ging ich in einer Traube von Jungen und vor allem Mädchen unterschiedlichen Alters, alle in derselben Mission unterwegs: ihren Vätern das Essen zu bringen. Wenn ich um zwei, drei oder manchmal auch noch später zurückging, war ich hingegen allein. Tagsüber saß nur ein Wachmann am Tor und ich versuchte immer, einen Moment abzupassen, in dem er beschäftigt war, doch natürlich sah er mich gelegentlich. Ich hatte jedes Mal Herzklopfen, wartete darauf, von ihm angesprochen zu werden oder, noch schlimmer, dass er eines Tages einen unbedachten Kommentar abgeben würde, etwas wie: „Hey, Friedrich, deine Tochter ist in der letzten Zeit aber ganz schön oft und lange auf dem Gelände.“
Ich überschätzte wohl, wie gut die Wachleute die einzelnen Arbeiter kannten. In guten Zeiten kamen jeden Morgen bis zu dreihundert Leute in die Fabrik, betraten und verließen sie in ähnlichen Trauben wie wir Kinder, da war ein einzelnes Gesicht nur schwer auszumachen. Mein Vater war einer von vielen, ein unbedeutender Packer, außer seinen direkten Kollegen und den Nachbarn, die ebenfalls hier arbeiteten, kannte kaum einer seinen Namen.
Wer mich in diesem Herbst überraschte, war meine Mutter. Sie arbeitete inzwischen regelmäßig in der Schneiderwerkstatt und verdiente durchaus ernst zu nehmendes Geld, was nicht nur uns, sondern vor allem ihr selbst ausgesprochen gut tat, weil sie sich weniger abhängig fühlte.
Neues Geschirr und einige Gardinen wurden angeschafft, die den nächsten Wutausbruch meines Vaters leider auch nicht überstanden. Zu der Sau kamen ein paar Hasen, unsere Kleider wurden in Eigenarbeit aufgebessert und die Stimmung in unserer Wohnung war längst nicht mehr so gedrückt wie früher. Meine Mutter war bestrebt und wünschte sich nichts sehnlicher, als uns eine Zukunft zu ermöglichen, die besser war als die Kindheit, die wir erlebt hatten. Das sollte sich später noch viel deutlicher zeigen.
Mein Vater hatte mit diesen Veränderungen schwer zu kämpfen. Er hätte es wohl niemals zugegeben, doch die zunehmende Eigenständigkeit seiner Ehefrau, nicht nur in finanzieller Hinsicht, machte ihm zunehmend Angst. Er versuchte das Dilemma auf die einzige Art zu lösen, die er kannte: Er brüllte in unserer Wohnung herum und verlangte von meiner Mutter, ihm das verdiente Geld auszubezahlen, schließlich sei er das Familienoberhaupt und wenn sie nicht täte, was er wolle, würde er ihr das Arbeiten ganz verbieten.
Selbst ich, elfeinhalb Jahre alt, erkannte, wie leer diese Drohung war, weil wir es uns gar nicht leisten konnten, auf den Lohn meiner Mutter zu verzichten. Sie fügte sich und gab ihm einen Teil ihres Geldes, zwackte jedoch immer genug ab, um für unsere täglichen Bedürfnisse sorgen zu können. Alles andere trug mein Vater in die Wirtschaft und die Wettbüros.
Weil sie so oft in die Schneiderwerkstatt ging, waren wir Kinder häufig allein und ich konnte noch freier über meine Zeit verfügen. Ich befand meine neunjährige Schwester Agnes für alt genug, um auf die beiden Jüngeren aufzupassen und konnte sorgenfreier in den Stall gehen. Wenn ich zurückkam, erledigte ich die Hausarbeiten und bereitete das Essen vor. Natürlich überraschte meine Mutter mich gelegentlich, weil sie früher als erwartet nach Hause gekommen war. Als mir einmal auf Anhieb keine passende Geschichte einfiel, wagte ich es, ihr zumindest einen Teil der Wahrheit zu erzählen. „Ich war … du weißt doch, wie gerne ich Pferde mag. Und im Stall von Herrn Herder darf ich manchmal mithelfen. Nick hat … also, der Stallbursche, hat nichts dagegen.“
Sie sah mich an, teils skeptisch, teils amüsiert. „Im Stall von Herrn Herder? Erlaubt er das denn? Und weiß dein Vater davon?“
Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte nur den Kopf.
„Hm“, machte sie. „Ich glaube, es macht dir viel Spaß, nicht wahr? Wie lange bist du schon dort?“
Als ich es ihr sagte, nickte sie wissend. „Ja. Im Frühjahr. Du warst auf einmal ganz verändert. Viel lebhafter, fröhlicher und zugleich entschlossener.“
Ich blickte sie erstaunt an, weil ihr das aufgefallen war. Sie lachte hell. „Ich finde das sehr schön, Rebecca. Ihr hattet so schwere Jahre. Weißt du, ich habe mir oft gewünscht, meine Eltern wären nie vom Land weggegangen. Wir hatten auch nicht viel, doch es war anderes als dieses lausige … Ich habe nichts dagegen, wenn du in den Stall gehst. Da dein Vater sich mehr für die aktuellen Wettquoten als für seine Familie interessiert, müssen wir es ihm, denke ich, auch nicht unbedingt erzählen.“
VIII.
Im ersten Jahr änderte sich im Umgang zwischen Nick und mir überhaupt nichts. Unsere Freundschaft, wenn man es denn schon so nennen wollte, war noch recht unbekümmert, wir schätzten die Anwesenheit des anderen, akzeptierten unsere Grenzen und vermieden es, in allzu persönliche Bereiche vorzudringen. Ich hielt mich an Nicks Anweisungen und lernte eine Menge über Pferde, Kutschen und Zigarren, er kam hervorragend mit dieser Rolle zurecht, weil wir uns ausschließlich auf Terrain bewegten, auf dem er sich sicher fühlte. Im zweiten Jahr änderte sich das, und wenn ich mich richtig erinnere, fing es mit Pegasus an.
Natürlich mochte ich jedes Pferd in „meinem“ Stall, mit den Kaltblütern im großen Stall, die die schweren Fuhrwerke zogen, hatte ich kaum etwas zu tun. Die Liebste von allen war mir jedoch die alte Rosalie, der ich bei meinem ersten Besuch schon begegnet war. Sie war eine kräftige Fuchsstute, früher, erzählte Nick, sei sie ein richtiges Biest gewesen, was ich allerdings kaum glauben konnte.
Sie hatte die sanftesten Augen, die ich je bei einem Pferd gesehen habe. Ich verwöhnte sie nach Strich und Faden, gab ihr heimlich extra Rationen und striegelte sie hingebungsvoll und stundenlang. Nick ließ mich gewähren, warf mir nur manchmal nachdenkliche Blicke zu. Er holte sie selbst oft aus ihrem Verschlag, wenn er im Stall zugange war und wie sehr er sie in Wahrheit mochte, sollte sich einige Jahre später zeigen. Er wusste jedoch auch um ihr Alter und ihren Gesundheitszustand und machte sich schon in diesem Frühjahr häufig Sorgen um sie.
Wie berechtigt das war, merkte ich, als ich an einem Montagmittag kurz nach meinem zwölften Geburtstag in den Stall kam. Rosalie stand mit tief hängendem Kopf in der Stallgasse, atmete rasselnd, ihre Beine waren angeschwollen, sie sah einfach schrecklich aus. „Was ist mit ihr?“, fragte ich entsetzt.
Nicks Stimme klang wütend. „Er war am Wochenende bei seinem Schwiegervater, sie sind erst gestern Abend zurückgekommen. Ausgerechnet Rosalie hat er einspannen lassen, ich habe ihm gesagt, er soll den Braunen nehmen, aber nein … Ich bin die halbe Nacht hier gewesen und habe nach ihr geschaut.“
Wen Nick mit „er“ meinte, wusste ich inzwischen, von den Hintergründen seiner speziellen Beziehung zu „ihm“ hatte ich allerdings noch keine Vorstellung. Für seine Verhältnisse, vor allem für einen Montag, war er heute erstaunlich mitteilsam, selbst ich spürte seine Sorge. „Kümmere dich ein bisschen um sie“, sagte er zu mir. „Ich übernehme das Ausmisten und den Rest.“
Und so verbrachte ich beinahe zwei Stunden ausschließlich mit Rosalie, bürstete ihr das Fell, kühlte ihr mit feuchten Lappen die Beine, massierte ihre Ohren und die ganze Zeit erzählte ich ihr Geschichten oder summte ihr Melodien vor.
Als Nick mit der leeren Mistkarre zurückkam, machte er große Augen, denn Rosalie hatte ihren Kopf gehoben, schaute recht munter und scharrte mit dem Huf, als wollte sie fragen, wo ihr Futter blieb.
„Wie hast du das denn geschafft?“, fragte er anerkennend.
Ich freute mich über das Lob und lächelte. „Ich habe ihr von Pegasus erzählt.“
Seine Augen wurden eine Spur dunkler, sein Blick fragend und ich erklärte mit mädchenhafter Stimme – auch als Zwölfjährige konnte ich noch recht albern sein: „Weißt du, wenn es meiner kleinen Schwester nicht gut geht, will sie immer Geschichten über heldenhafte und gut aussehende Märchenprinzen hören, deswegen dachte ich, wenn ich Rosalie von Pegasus erzähle, wird sie das vielleicht aufmuntern.“
„Wer oder was zum Teufel ist Pegasus?“, wollte er gereizt wissen.
„Das geflügelte Pferd aus der griechischen Sagenwelt“, erklärte ich unbekümmert, als ob das doch jeder wüsste. „Auf dessen Rücken Bellerophon gegen die Chimäre gekämpft hat.“
Ich war einfach zu jung um zu begreifen, was in Nick in diesem Moment vorging. Er verstand kein Wort von dem, was ich sagte und hatte das Gefühl, ich würde mich über ihn lustig machen. Die einzigen beiden Bücher, mit denen er in den vergangenen sechs Jahren in Kontakt gekommen war, waren Alois Herders Bibel und die Kladde, in der sein Onkel seine Arbeitszeiten abrechnete. Und selbst wenn er Zugang zur Bibliothek im Wohnhaus gehabt hätte, hätte er nicht das Geringste damit anfangen können.
Er wandte sich ab und diesmal verstand ich nicht, warum. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Oder kennst du die Geschichte nicht? Ich kann dir ein Buch mit griechischen Sagen leihen, wenn du möchtest. Ich glaube, die Odyssee würde dir auch gefallen …“
„Hör’ einfach auf, ja?“, fuhr er mich an und zum allerersten Mal wich ich vor seinen funkelnden Augen zurück. Ich war verletzt, ich hatte doch wirklich nichts Schlimmes im Sinn gehabt. Er starrte mich noch einen Moment an und stapfte wütend davon.
Voller Verwirrung begann ich den Stall aufzuräumen und ließ mir viel Zeit, er tauchte jedoch nicht wieder auf. Ich brachte Rosalie in ihren Verschlag und kehrte noch den Stallgang, so langsam musste ich mich allerdings sputen, wenn ich vor meiner Mutter zu Hause sein wollte. Also ging ich heim und grübelte den ganzen Abend darüber nach, was da so plötzlich zwischen uns geschehen war.
Am nächsten Morgen bat mich meine Lehrerin, nach dem Unterricht kurz zu warten. Ich konnte sie wirklich gut leiden – die Schule überhaupt fand ich großartig. Weg von zu Hause zu sein und etwas über die Welt zu lernen war für mich schon immer eine hervorragende Verbindung gewesen.
Meine Lehrerin war eine der wenigen, mit der ich bereits über meinen heimlichen Berufswunsch gesprochen hatte, und genau um den ging es ihr heute. „Unser Pfarrer Rieberg hat von der Diözese endlich die Mittel bewilligt bekommen, um eine weitere Klasse in der Sonntagsschule einzurichten. Die soll vor allem für die Arbeiterkinder aus eurem Viertel sein. Sie suchen ehrenamtliche Helfer, Rebecca, wäre das nichts für dich? Du bist so gut in Deutsch und Rechnen. Und wenn du später einmal eine Stelle suchst, macht es bestimmt einen guten Eindruck, wenn du schon Erfahrung im Unterrichten hast.“
„Sonntagsschule“ klang nach einer Möglichkeit, den tristen Sonntagnachmittagen bei uns zu Hause zu entfliehen. Ich versprach, mich so schnell wie möglich mit unserem Pfarrer in Verbindung zu setzen.
„Hast du denn schon mit deinem Vater gesprochen? Du weißt, du brauchst mindestens den mittleren Abschluss, wenn du …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich sie. „Es ist nur schwierig.“
„Das verstehe ich. Doch denke daran, es ist bald Sommer und wenn sich dein Vater entschließt, dich von der Schule zu nehmen, hast du kaum noch Möglichkeiten.“
Nachdenklich ging ich nach Hause, räumte mechanisch meine Schulsachen weg und erwärmte das Essen für meinen Vater. Meine inzwischen zehnjährige Schwester Agnes stand in der Tür. „Wieso darfst eigentlich immer du zu Vater in die Fabrik gehen? Wieso dürfen ich oder Marie nicht?“
„Wer redet von Dürfen?“, gab ich verständnislos zurück. „Glaubst du, mich hätte damals jemand gefragt? Ich war die Einzige, die gehen konnte, weil ihr noch viel zu klein wart.“
„Ja, aber jetzt sind wir das nicht mehr. Ich will das auch machen. Du scheinst ja immer viel Spaß dabei zu haben.“
Sie schien wieder einmal auf Ärger aus zu sein, Agnes hatte gelegentlich solche Anwandlungen. Ich ließ mich gar nicht erst auf eine Diskussion ein. „Ob ich Spaß habe oder nicht ist wohl meine Sache. Ich bin immer in die Fabrik gegangen und ich werde das auch weiterhin tun. Basta!“
Sie wartete, bis ich mit dem Henkelmann an ihr vorbeigegangen war und erklärte triumphierend: „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du bist immer so lange weg, weil du dich mit einem Jungen triffst! Wenn ich das Vater erzähle, gibt er dir bestimmt Hausarrest und ich darf ihm das Essen bringen.“
„Einen Teufel wirst du tun!“, rief ich. Ich hatte wirklich keine Zeit für diese Kindereien. In der Regel versuchte ich, meine Schwester in solchen Situationen zu beschwichtigen und mit einer Kleinigkeit zu bestechen, doch heute stand mir absolut nicht der Sinn danach. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung von dem, was ich tue oder was mir wichtig ist. Dich ärgert es nur, weil ich viel mehr leiste als du und trotzdem besser in der Schule bin. Wenn du auch nur ein Wort zu Vater sagst, werde ich … dein Kaninchen umbringen.“
Es gab Momente, in denen ich mich über mich selbst wunderte. Doch in dieser Wohnung hatte man manchmal keine andere Möglichkeit. Agnes wurde bleich. „Das wagst du nicht.“
„Ich würde es an deiner Stelle nicht riskieren“, sagte ich nur, warf ihr einen letzten, drohenden Blick zu und ließ sie einfach stehen.
Als ich gerade um die erste Hausecke war, fing es auch noch an zu regnen. Ich zögerte, hatte jedoch keine Lust, zurückzugehen und meinen Mantel zu holen, daher war ich reichlich durchnässt, als ich in der Fabrik ankam. Natürlich beklagte sich mein Vater, weil ich so gedankenlos mit meinen Kleidern umging, die er ja schließlich mit seiner harten Arbeit finanzieren musste. Ich dachte einen Moment ernsthaft darüber nach, meiner Schwester aus reiner Gehässigkeit für eine Woche die Essenslieferung zu überlassen.
Als ich endlich auf dem Weg zum Stall war, fiel mir der gestrige Streit mit Nick wieder ein. Womöglich würde ich heute nicht einmal bei ihm Frieden finden. Immerhin war er da und hantierte mit der Futtertonne, er schaute kurz zu mir und sagte kein Wort.
Ich war in zu wenig versöhnlicher Stimmung, um den ersten Schritt zu machen und schwieg ebenfalls, stellte ihm den Henkelmann auf die Haferkiste, nahm mir die Mistgabel und begann mit dem Ausmisten. So ging es mehr als eine Stunde, eingespielt, wie wir waren, kamen wir auch ohne Worte zurecht. Er sah mich immer wieder an, von seiner gestrigen Wut war nicht mehr viel zu spüren, ich hatte eher den Eindruck, als würde er auf einen passenden Moment warten. Der kam, als er sich zum Essen hinsetzte und ich nach dem Ausmisten die Geräte nach hinten stellte. Als ich an ihm vorbeiging, verlangte er schroff: „Also erzähl’ schon.“
„Was soll ich erzählen?“
„Na, die Geschichte von diesem Pe… von diesem Pferd mit Flügeln.“
Er machte eine ungeduldige Geste und sah so hilflos dabei aus, plötzlich wurde mir wieder ein wenig warm. Ich setzte mich lächelnd neben ihn auf die Kiste. „Also gut. Weißt du … Kennst du überhaupt griechische Sagen?“
Er schüttelte kurz den Kopf und schaute weg.
„In Ordnung“, begann ich und übernahm in unserer Freundschaft zum ersten Mal die Rolle der Lehrerin. „Pegasus sieht aus wie ein normales Pferd, natürlich viel stattlicher, und vorne an seinen Flanken hat er ein Paar mächtige Schwingen. Er ist der Sohn von Neptun und Medusa. Neptun ist der Gott des Meeres und Medusa …“
„Das hört sich alles sehr verrückt an, wenn du mich fragst“, sagte er, nachdem ich ihm die Geschichte in groben Zügen umrissen hatte. „Pferde mit Flügeln, Frauen mit Schlangen auf dem Kopf … er würde das wahrscheinlich als heidnisches Teufelszeug bezeichnen.“
„Meine Lehrerin bezeichnet es als Grundlage der europäischen Kultur. Aber heidnisch ist es, als diese Geschichten entstanden sind, war Jesus Christus noch gar nicht geboren.“
Er warf mir einen ungläubigen und zweifelnden Blick zu und ich stellte ihm die Frage, die mich schon seit dem Vortag beschäftigte. „Du bist nie zur Schule gegangen, nicht wahr?“
Er gab mir zwar ein Kopfschütteln zur Antwort, doch seine Augen wurden schon wieder kühler. Ich wollte ihn weder reizen noch kränken, deswegen beschloss ich, auf vertrautes Terrain zu wechseln. „Rosalie sieht viel besser aus. Denkst du, sie hat sich richtig erholt?“
IX.
Als ich diesmal nach Hause ging, war ich zwar nicht mehr verletzt, trotzdem hatte ich eine Menge zum Nachdenken. Ich hatte natürlich längst mitbekommen, wie kompliziert Nicks Leben oft war, doch ich hatte noch nie so etwas wie Mitleid für ihn empfunden. Ich beneidete ihn nach wie vor um seine wundervolle Arbeit – was er sonst noch alles zu tun hatte, konnte ich damals noch nicht einschätzen – und bewunderte ihn für all die Dinge, die er wusste.
Zu erfahren, dass er nie zur Schule gegangen war, machte mich traurig, obwohl ich davon ausging, er hätte, schlau wie er war, alles Wichtige auf anderen Wegen gelernt. Ich fand sogar eine logische Erklärung für seine Unkenntnis der griechischen Sagen. Er hatte schließlich keine Mutter, die ihm Geschichten erzählen konnte!
Ich wusste von Pegasus, Neptun und all den anderen fantastischen Gestalten auch nur deswegen so viel, weil meine Mutter uns früher nicht aus Grimms Märchenbuch, sondern aus der Odyssee vorgelesen hatte. Es hatte mit diesem furchtbaren Unwetter begonnen, ich war fünf, Agnes drei, mein Bruder Patrick noch nicht tot und die kleine Marie gerade geboren. Es blitzte und donnerte, der Regen tropfte durch das Dach und die Fensterscheiben klapperten im Wind. Marie wimmerte in ihrer Wiege, die beiden anderen hatten sich zu mir ins Bett geflüchtet, doch ich war selbst viel zu ängstlich, um sie zu trösten.
Endlich kam unsere Mutter herein und setzte sich ruhig auf mein Bett. Wir kuschelten uns an sie und sie begann, von Zeus, dem Donnerer zu erzählen, und von den schweren Stürmen, denen der Held Odysseus schon getrotzt hatte. Die Gewalten, die sich vor unseren Fenstern entluden – Teile unserer Straße wurden weggespült, etliche Häuser abgedeckt, zwei Leute in unserem Viertel kamen ums Leben – führten zu einer der harmonischsten und zärtlichsten Szenen, die ich je in meiner Familie erlebt habe.
In der Folge bat ich meine Mutter bei allen möglichen Gelegenheiten, mir weitere Geschichten zu erzählen. Weil ihr das bald zu lästig wurde, besorgte sie mir aus der Leihbücherei eine ausgemusterte Ausgabe der Odyssee. Erst las sie mir vor, später las ich allein. Auch wenn ich anfangs nur die Hälfte verstand, eröffnete sich mir eine neue Welt, in die ich von nun an jederzeit flüchten konnte, wenn mir die gewohnte allzu übel mitspielte. Nick hatte diese Möglichkeit offenbar nie kennengelernt. Er schien keine Bücher zu besitzen, weder bei meinem kurzen Blick in seine Schlafkammer noch im Stall hatte ich jemals welche gesehen.
Ich beschloss, etwas dagegen zu unternehmen und wie viel Nick mir damals schon bedeutete, zeigte sich daran, dass ich ihm zwei Tage später einen schmalen Band mit Sagen und eben meine Ausgabe der Odyssee mitbrachte. Strahlend hielt ich ihm die Bücher hin, er sah mich verständnislos an. Ich erklärte: „Hier steht die Geschichte von Pegasus drin, das andere sind die Abenteuer von Odysseus, das ist ein griechischer Held, der ganz vielen seltsamen Kreaturen begegnet.“
„Aha“, war sein einziger Kommentar.
„Ich schenke sie dir!“, sagte ich eindringlich.
„Hm. Leg’ sie auf die Kiste.“
Seine mangelnde Begeisterung war mir vollkommen unverständlich, doch ich zog die falschen Schlüsse. „Ich weiß, es sieht nicht mehr besonders schön aus. Ich musste etliche Seiten kleben und schau, hier hinten ist der Einband eingerissen. Doch es ist das spannendste Buch, das ich habe. Ehrlich.“
Es arbeitete in seinem Gesicht, es arbeitete in seinem Herz. Was ich da veranstaltete, rührte ihn, doch das Gefühl der Scham war stärker und er wandte sich ab. Ich blickte verzweifelt auf den Buchdeckel und überlegte, was ihm solche Schwierigkeiten bereiten könnte. Dann endlich dämmerte es mir. „Du kannst nicht lesen“, stellte ich leise fest.
Er hatte sich längst die Mistgabel genommen und stocherte mit fahrigen Bewegungen im Stroh. Jetzt hielt er inne, auf den Stiel gestützt. „Und wenn?“, fragte er ohne mich anzusehen.
„Das ist schrecklich!“, brach es aus mir heraus, was nicht gerade die günstigste Antwort war. Nick gab einen unwilligen Ton von sich und mistete weiter aus, jetzt mit eindeutig wütenden Bewegungen.
Zum Glück war mir mit der Erkenntnis des Problems auch gleich dessen Lösung eingefallen. „Ich kann es dir beibringen. Nick! Ich helfe sowieso bald in der Sonntagsschule. Ich kann dir das Lesen beibringen.“
„Ach ja?“, rief er und drehte sich mit funkelnden Augen und versteinertem Gesicht zu mir um. „Und wann willst du das bitte machen?“
„Nun ja, mittags, wenn wir uns treffen.“
„Und wer kümmert sich um die Pferde?“
Das war eine berechtigte Frage. „Wir können zuerst die Pferde versorgen und uns beim Ausmisten beeilen, danach …“
„Danach? Zum Teufel, was glaubst du eigentlich?“ Der Schmerz in seinen Augen war größer als die Wut in seiner Stimme. „Meinst du, meine Arbeit wäre erledigt, wenn du mittags hier weggehst? Denkst du, ich würde mich vor die Werkstatt setzen und mit Herrn Cornelius einen Plausch halten? Oder mit Rosalie eine fröhliche Kutschfahrt machen?“
„Nein, ich denke …“
Ich wusste einfach nicht, was ich dazu sagen sollte und konzentrierte mich daher auf seine ursprüngliche Frage. „Mein Vater ist beinahe jeden Abend in der Wirtschaft, samstags auch, vielleicht könnte ich zwischendurch …“
Meine eigene Hilflosigkeit spiegelte sich in meiner Stimme und Nick atmete durch, bevor er langsam den Kopf schüttelte. „Abends ist das Tor geschlossen. Samstags nach Schichtende auch. Hör auf zu träumen, Rebecca, es ist …“
„Nick? Bist du hier?“
Ich sprang auf und versteckte mich im Verschlag des Braunen, bevor ein Schatten in der Tür erschien. Es war der Kutscher, der einmal versucht hatte, Nick auf einen Schnaps einzuladen. „Ich brauche dich drüben. Ich weiß nicht, was mit den Biestern heute los ist, sie wollen sich nicht einspannen lassen.“
„Ich komme“, sagte Nick, steckte die Mistgabel ins Stroh und folgte dem Kutscher in den anderen Stall.
Ich blieb noch sitzen, weil mir die Kraft in den Beinen fehlte, dann stellte ich mich zu Rosalie, umarmte sie und drückte meine Nase in ihr Fell. Ich sollte nicht träumen, hatte Nick gesagt und diesen Satz hatte ich schon öfter gehört, meistens von meinem Vater. War es verträumt, jemandem helfen zu wollen, eine neue Welt zu entdecken, der sie mindestens genauso nötig hatte wie ich?
Nach einer Weile nahm ich mir die Mistgabel und erledigte beinahe mechanisch die noch ausstehende Arbeit. Als Nick eine halbe Stunde später wiederkam, war ich mit dem Ausmisten und Füttern fast fertig. Er wirkte unsicher, ging zur Haferkiste, nahm die Bücher zur Hand, betrachtete sie eine Weile und reichte sie mir. „Nimm sie wieder mit“, sagte er und klang nur noch resigniert. „Es hat einfach keinen Sinn. Wahrscheinlich würde ich es sowieso nicht begreifen.“
Zum ersten Mal verließ ich die Fabrik mit Tränen in den Augen.
Ende der Leseprobe. Die Fortsetzung dieser spannenden Geschichte findet Ihr hier:
als E-book:
als Printbook:
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Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: Heike Helfen
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2012
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