Cover

Eins

 „Du solltest alles aufschreiben“, hat der Doc zu mir gesagt. „Versuche, dich an die ganze Geschichte zu erinnern, wie es angefangen hat, wie du dich gefühlt hast, was genau passiert ist.“

„Wozu?“, habe ich gefragt. Es war doch vorbei. Es war längst vorbei.

„Weil es dir danach leichter fallen wird, es zu vergessen“, war seine Antwort.

Nun, ich bin nicht besonders gut im Schreiben. Es gab nicht viel Gelegenheit dafür in den vergangenen Jahren. Und erinnern will ich mich schon gar nicht.

Es war an dem Tag, als ein Polizist und die Frau von der Fürsorge mit mir zur Farm rausgefahren sind. Ich bin auf den Hügel geklettert und habe von da aus das Trümmerfeld betrachtet, das einmal so etwas wie mein Zuhause gewesen war. Mir fällt kein besseres Wort ein, das ich benutzen könnte. Ich glaube, ich bin recht lange da oben gestanden. Der Wind war immer noch ziemlich kräftig. Später bin ich zurückgelaufen und habe mich wieder in den dunkelgrauen Buick gesetzt. Ich kann nicht sagen, wieso ich auf einmal angefangen habe zu lachen. Die Frau auf dem Beifahrersitz hat mich ganz merkwürdig angeschaut und gefragt, was los wäre. Ich konnte es ihr nicht erklären. Es war einfach nicht zu begreifen, dass ausgerechnet ich noch übrig sein sollte. Schließlich hatte Kyle immer zu mir gesagt: „Wir sind sowieso längst tot.“

Es hat dann eine Weile gedauert, bis mir etwas klar wurde. Die Vergangenheit war vorbei, ich hatte so etwas wie Erlösung gefunden, aber mir war auch etwas Wichtiges genommen worden. All die Jahre hindurch habe ich an die Worte meines Vaters gedacht. Irgendwann würde der Moment der Genugtuung, der Moment der Rache kommen. Ich habe mir ausgemalt, wie ich sie anklage, wie ich mich auf ein Podest stelle und der ganzen Welt erzähle, was wirklich auf der Farm der Familie Warren geschehen ist. Ich wollte von Theresa und von Josh und dem Loch im Rübenkeller erzählen. Ich wollte meine Wut, meinen Hass, den Schmerz und all die Demütigungen herausschreien und natürlich wollte ich dabei zusehen, wie man sie zur Rechenschaft ziehen würde. Ich wollte, dass Angus Warren und seine Brut in der Hölle schmorten.

Nun, die meisten von ihnen taten das wahrscheinlich jetzt auch, aber ich habe nicht allzu viel Anteil daran gehabt. Natürlich haben die Polizisten und die Leute von der Fürsorge mir Fragen gestellt und natürlich weiß die ganze Stadt längst, was passiert ist. Es gab sogar einen Bericht in den Bezirksnachrichten, im Radio und in der Zeitung. Aber dieses schwere Unglück, das mit solcher Wucht über den ganzen County hereingebrochen war, erregte die Gemüter der Leute wesentlich mehr als das stille Drama, das sich jahrelang in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft abgespielt hatte.

Eines Tages, dachte ich bei mir, werden sie es wahrscheinlich ganz vergessen. Irgendwann werden sie in ihren alten Trott zurückfallen, und wenn sie sich über Angus Warren unterhalten, werden sie ihn für das bedauern, was ihm widerfahren ist und nicht daran denken, was er anderen angetan hat.

Deswegen sitze ich jetzt hier im Wohnwagen vor diesem Stapel Papier und frage mich, wie ich anfangen soll. Ich versuche, mir den Doc vorzustellen. Er wird es noch am ehesten begreifen, weil er so viel hautnah mitbekommen hat. Vielleicht ist es leichter, wenn ich so tue, als würde ich einen Brief schreiben.

Also gut, Sir. Wie soll ich es Ihnen beschreiben? Was sagen Worte wie: „Ich hatte ein hartes Leben, und die letzten Jahre waren die Hölle“ schon aus? Sie werden kaum einen Jungen im Oklahoma der frühen Sechziger Jahre finden, der von sich nicht dasselbe behauptet. Selbst Terence Boulder hat nach der Geschichte zu mir gesagt: „Glaube bloß nicht, mein Leben wäre immer leicht gewesen!“ Und er war immerhin auf dem College und ist der Sohn vom reichsten Farmer im County! Ich habe ihm eines meiner Andenken gezeigt. Danach ist er recht kleinlaut geworden.

Also schön. Am besten fange ich ganz von vorne an.

Zwei

 Mein Name ist Shawn Foster, aber das wissen Sie ja bereits. Ich wurde am 12. Januar 1946 im Haus meiner Tante geboren, ganz in der Nähe von Cedar Falls in Iowa. Für den Sohn eines fahrenden Händlers ist das übrigens eine bemerkenswert präzise Ortsangabe. Ich kenne Kinder von Schaustellern, bei denen „irgendwo zwischen Aimes und Burlington“ in der Geburtsurkunde steht.

Aber es war nun mal Winter und es war immer schon Sitte in meiner Familie, die Geschäfte zwischen Weihnachten und Lichtmess ruhen zu lassen, sofern wir es uns denn leisten konnten. Mein Vater nutzte die Zeit, um alles auf Vordermann zu bringen, vor allem den Wohnwagen und den Truck. Während der Saison irgendwo liegen zu bleiben konnte schließlich bedeuten, eine Messe oder einen Markt und damit wichtige Einnahmen zu verpassen.

Ich erinnere mich trotzdem an etliche Pannen mit dem grauen Studebaker aus den späten Dreißigern, den wir am Anfang hatten. Als ich sieben war, wurde er durch einen knallroten Studebaker Coupé Express ersetzt, der wesentlich besser in Schuss war. Mein Vater hat mir häufig von der Zeit erzählt, als er mit seinen Eltern noch im Pferdegespann umhergereist ist. Damals war alles viel geruhsamer, hat er immer gesagt. Nach der ersten Saison, in der sie mit einem Automobil unterwegs gewesen waren, hat mein Großvater beschlossen, in den Ruhestand zu gehen, weil sein altes Herz diese Hektik und den Krach nicht mehr verkraften würde. Er ist wenig später gestorben, ich selbst habe ihn nie kennengelernt.

 

Meine Eltern und ich waren von Mitte Februar bis Anfang Dezember quer durch den Mittleren Westen auf Jahrmärkten und Messen unterwegs. Unsere Vorfahren hatten als Scherenschleifer und Schuhflicker begonnen, und beides war nach wie vor Bestandteil unseres Angebotes, aber inzwischen verkauften wir auch Messer, Eisenwaren und ausgesuchte Werkzeuge. Außerdem wusste meine Mutter eine Menge über Kräuter. Sie sammelte sie unterwegs und stellte davon Tees, Salben und Tinkturen her, die gegen allerlei Wehwehchen halfen und sich gut verkauften. Über der Eckbank im Wohnwagen, auf der ich schlief, hingen den ganzen Sommer über Kräuterbündel zum Trocknen. Es ist der Geruch meiner Kindheit, ich werde ihn niemals vergessen.

Es war sicherlich kein einfaches Leben, aber ich kannte es nicht anders und hatte wenig daran auszusetzen. Das einzige was mich ab und an störte war die Einsamkeit. Meine Eltern hatten außer mir keine Kinder, ich weiß auch nichts von Geschwistern, die gestorben waren, habe allerdings auch nie danach gefragt. Wir zogen meistens allein herum, nur manchmal schlossen wir uns einem Jahrmarkt oder anderen fahrenden Händlern an, wenn wir die Leute kannten und sie dieselbe Route hatten wie wir. Die einzigen Kinder, mit denen ich gelegentlich zusammenkam, waren die der Schaustellerfamilien, die normalerweise eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten, in der ich es nicht immer leicht hatte.

In den Wintern 1953 und ´54 besuchte ich ein paar Wochen lang sogar eine Schule, während wir bei meiner Tante waren. Die restliche Zeit über unterrichteten mich meine Eltern, so gut sie eben konnten.

1955, die Schule hatte erst wenige Tage zuvor angefangen, hatten mein Vater und der Mann von meiner Tante einen recht heftigen Streit, der damit endete, dass wir unsere Sachen packten und vorzeitig in die Saison starteten. Ich weiß bis heute nicht, um was es damals gegangen war. Vielleicht hatten sie keine Lust mehr, uns Obdach zu gewähren, es war jedenfalls das letzte Mal, dass wir dort gewesen sind. Die folgenden Jahreswechsel verbrachten wir im Winterquartier eines Wanderzirkus in Davenport, nahe der Grenze zu Illinois. Ich vermisste das gute Essen und die weichen, warmen Betten bei meiner Tante. Aber ich verstand mich mit den Kindern des Zirkus ganz gut, vor allem mit Charlene, der Tochter eines Hochseilartisten. Sie konnte aus dem Stand einen Flickflack machen, und das war nicht das einzige, was ich an ihr toll fand. An meinem zwölften Geburtstag küssten wir uns hinter dem Kassenhäuschen. Als ihr Bruder davon erfuhr, wollte er mich verprügeln, aber ich war kräftiger als er.

 

Im kommenden Frühjahr begannen die Schwierigkeiten. Auf dem Weg zur Messe in Cedar Falls gab der Einspritzer vom Studebaker den Geist auf. Mein Vater musste einen Haufen Geld für die Reparatur bezahlen und als wir in Cedar Falls ankamen, war die Einschreibefrist für die Standplätze schon abgelaufen. Die Messe war unsere erste große Einnahmequelle der neuen Saison, mein Vater konnte zwar mit den örtlichen Händlern noch einige Geschäfte machen, aber er bekam kaum mehr Geld herein, als er zuvor für die Reparatur ausgegeben hatte.

Auch in den folgenden Monaten schien es, als wäre irgendwie der Wurm drin.

Scheinbar hatten sich die Leute im Winter alle neue Schuhe und Messer gekauft, sodass nichts geflickt und nichts geschliffen werden musste. Kaum jemand brauchte Werkzeug. Hier und da wurden wir ein paar Nadeln und Schrauben los und meine Mutter verkaufte ihre Tees und Salben, aber das reichte bei weitem nicht aus, um über die Runden zu kommen. Zum Glück konnte sie aus ihren Kräutern und wildem Gemüse auch schmackhafte Suppen herstellen, und sie backte am Feuer die besten Brotfladen, die man sich vorstellen kann. Ich weiß, dass ich manchmal recht hungrig ins Bett gegangen bin. Allerdings hatte ich nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet, wirklich Hunger zu haben.

 

Und dann, Anfang Mai 1958, schlug das Schicksal endgültig zu. Wir hatten eine Woche in Burlington auf der Landwirtschaftsmesse eingeplant, eine recht große Veranstaltung mit zahllosen Händlern und mehreren Schaubuden. Wir kannten einige Leute vom Sehen, aber kaum jemanden näher. Und wir waren recht spät dran, warum weiß ich nicht mehr genau. Wir schafften es gerade so, noch einen Standplatz zu bekommen, natürlich am hintersten Ende des Geländes.

Wir waren noch mit Abladen beschäftigt, als die meisten anderen ihre Stände längst schon bestückt hatten. Mein Vater, der mir millionen Mal eingeschärft hatte, beim Auf- und Abbau des großen Schleifsteins vorsichtig zu sein, ließ sich von irgendetwas ablenken und schaute nicht richtig hin, als er ihn einhängte. Als er ihn losließ, krachte er ihm auf den Fuß. Seine schweren Lederstiefel hielten einen Teil des Gewichts ab, aber es sah trotzdem furchtbar aus. Ein paar Schausteller halfen uns, ihn ins Krankenhaus zu schaffen, auf der Fahrt wurde er uns beinahe ohnmächtig. Dort wurde er gleich operiert, bekam einen Gips und ein Krankenbett, in dem er für mindestens zwei Wochen bleiben sollte, hieß es. Meine Mutter kratzte unsere allerletzten Ersparnisse zusammen, um die Behandlung zu bezahlen.

 

Ich glaube bis heute, nein, ich weiß, wir wären irgendwie zurechtgekommen. Ich war zwar erst zwölfeinhalb, aber ich kannte jeden Handgriff in unserem kleinen Unternehmen. Ich wusste, wie der Stand aufgebaut und wie er wieder verstaut wurde, wusste, wie Messer und Scheren geschliffen wurden und hatte angeblich sogar ein recht großes Talent, wenn es um das Anpreisen unserer Waren ging. Meine Mutter konnte nicht nur Tee und Salben herstellen, sie konnte auch Schuhe flicken und obendrein den Truck fahren. Als wir uns damals den Coupé Express kauften, hatte mein Vater darauf bestanden, dass sie den Führerschein machte. Sie und ich hätten eine Woche in Burlington bleiben und anschließend die Märkte in der Umgebung abfahren können, bis mein Vater aus dem Krankenhaus entlassen worden wäre. Doch es kam ganz anders.

Das Personal im Krankenhaus hatte wohl immer ein besonderes Augenmerk auf die Akten von Patienten, die keine Versicherung vorweisen konnten. Auf meinen Vater wurden sie aufmerksam, weil er noch dazu keinen festen Wohnsitz angegeben hatte. Sie beobachteten mich und meine Mutter, wenn wir ihn besuchten und fingen an, Fragen zu stellen, auf die meine Eltern keine Antwort geben wollten. Daraufhin informierte das Krankenhaus die Leute von der Fürsorge, die am nächsten Tag an unserem Stand auftauchten und mir sehr genau dabei zusahen, wie ich meine Arbeit erledigte.

Mir stellten sie keine Fragen. Sie wollten nicht wissen, wie es mir ging, sie erkundigten sich nicht, ob ich mich schlecht behandelt oder überfordert fühlte. Sie stellen einfach fest, meine körperliche und geistige Entwicklung sei gefährdet, weil ich so hart arbeiten musste, weil ich nicht in die Schule ging und keine ausreichenden „sozialen Bindungen“ hatte, was auch immer das bedeuten sollte. Sie redeten mit meinen Eltern und dann kamen sie und holten mich ab, „für eine Weile“, hieß es und „zumindest solange, bis dein Vater wieder in der Lage ist, anständig für seine Familie zu sorgen.“

Ich begriff nicht, was da passierte und noch viel weniger, warum. Ich machte mir natürlich Sorgen um meinen Vater, aber ich fand, ich war durchaus in der Lage, alleine für meine Familie zu sorgen und protestierte lautstark. Meine Mutter versuchte, mich zu beschwichtigen. „Vielleicht haben sie ja Recht, Shawn. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du an einen Ort kommst, wo du mit anderen Kindern zusammen sein und regelmäßig in die Schule gehen kannst. Ich habe doch selbst nicht viel gelernt, die können dir dort viel mehr beibringen.“

„Aber ich will nicht weg!“, protestierte ich. „Wie willst du denn allein zurechtkommen mit dem Stand und allem? Du brauchst mich doch, gerade jetzt!“

„Es wird schon gehen, Junge. Du bist eigentlich noch viel zu jung für diese ganze Arbeit. Ich werde einfach nicht so viele Märkte besuchen. Nächste Woche fahre ich nach Aimes, dort wollten wir uns doch mit den Hendersons treffen. Ich bin mir sicher, sie werden mir helfen können.“

Sie lächelte mir aufmunternd zu, doch ich hörte ihrer Stimme an, wie besorgt sie war. Mir liefen die Tränen über das Gesicht, als ich sie umarmte. „Na, na“, sagte sie. „Hör auf zu weinen. Du musst jetzt stark sein, wie ein großer Junge. Mach deinen Vater stolz, ja? In einigen Monaten holen wir dich wieder, versprochen!“

 

Das Heim, in das ich gebracht wurde, lag direkt in Burlington. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam und versuchte, dem Wunsch meiner Mutter zu entsprechen. Ich muss zugeben, in den ersten Tagen genoss ich es sogar ein wenig. Ich hatte ein anständiges Bett, es gab drei Mal am Tag etwas zu essen und die anderen Heimkinder waren auch nicht schlimmer als die, die ich von den Jahrmärkten oder vom Winterlager kannte. Aber nach ein paar Wochen begann ich, unruhig zu werden. Ich war es einfach nicht mehr gewöhnt, so lange an einem Ort zu bleiben, schon gar nicht mitten im Hochsommer!

Am schlimmsten war die Schule. Ich konnte mich nicht richtig konzentrieren, ich konnte nicht still sitzen und kam im Unterricht sowieso nicht mit, weil ich von den meisten Dingen, die dort besprochen wurden, noch kaum etwas gehört hatte. Ich wurde zwei Klassen zurückgestuft und die Leute von der Fürsorge fühlten sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass meine Eltern nicht ausreichend für mich gesorgt hatten. Als die anderen anfingen, sich über mich lustig zu machen und mich einen „Zigeuner“ und einen „Spasti“ zu nennen, begann ich natürlich, mich zu wehren.

Ich erinnere mich noch verdammt gut an die erste ernsthafte Tracht Prügel, die ich in Burlington von einem der Aufseher bekommen habe. Na ja. Was heißt schon ernsthaft. Ich wurde bestraft, weil ich mich beim Essen mit einem anderen Jungen gestritten und ihm zu guter Letzt sein Gesicht in den Puddingteller gedrückt hatte.

Natürlich habe ich mich auf den Jahrmärkten gelegentlich mit den Schaustellerjungen geprügelt. Und natürlich habe ich von meinem Vater ab und zu etwas hinter die Ohren oder auf den Hintern bekommen. Aber er hat es nie gerne getan und meist schon währenddessen ein schlechtes Gewissen gehabt. Niemand schlägt besonders kräftig zu, wenn es ihm eigentlich leid tut.

Die Schläge des Aufsehers hingegen waren hart und leidenschaftslos und trieben mir die Tränen in die Augen. Dass es noch eine weitaus schwierigere Variante gab – Schläge, die hart und voller Leidenschaft waren – wusste ich damals noch nicht.

Meinen Eltern erzählte ich nichts von dieser Geschichte und auch nichts von dem anderen Ärger, den ich hatte. Ich durfte einmal in der Woche am Telefon mit ihnen sprechen, jeden Samstag, und mein Vater verpasste den Termin kein einziges Mal. Der Telefonapparat stand im Büro der Heimleiterin und natürlich blieb sie an ihrem Schreibtisch sitzen, schon allein deswegen sagte ich kaum etwas und hörte lieber meinem Vater zu.

Man hatte ihn aus dem Krankenhaus entlassen, aber er konnte den Fuß immer noch nicht belasten. Alles war noch sehr mühsam, berichtete er, aber immerhin hätten sie auf dem Jahrmarkt in Alderton ein richtig gutes Geschäft gemacht. „Es dauert nicht mehr lange, bis wir dich holen“, war stets sein letzter Satz, doch die Samstage vergingen einer nach dem anderen, ohne dass sich etwas änderte. Es war Anfang September, als er sich meldete und ungewöhnlich aufgeregt klang. „Ich habe noch einmal mit den Behörden gesprochen. Ich denke, wir haben uns geeinigt. Suche schon mal deine Sachen zusammen, Junge, vielleicht komme ich bereits nächste Woche.“

Ich packte noch am selben Abend meine Tasche und stellte sie unter das Bett. Jeden unbeobachteten Moment verbrachte ich am Fenster, um nach unserem roten Studebaker Ausschau zu halten. Bis Freitag hörte ich jedoch nichts von meinem Vater und wurde zunehmend mutloser. Doch dann, ich wollte gerade zum Mittagessen gehen, stand er plötzlich in meinem Zimmer. „Dad“, rief ich unbeherrscht und stürzte in seine Arme, wie ich es zuletzt als kleiner Junge getan hatte. Er drückte mich kurz und mahnte zur Eile. Da ich seinen Wunsch, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen, durchaus teilte, stellte ich keine Fragen und holte sofort meine Tasche.

Ich beobachtete ihn, als wir das Haus verließen und zum Truck gingen. Er brauchte keine Krücken mehr, aber er trat auch nicht fest auf und belastete nur den Ballen, wodurch er leicht hinkte. An diesem Gang sollte sich nie mehr etwas ändern.

„Wo ist Mom?“, fragte ich.

„Sie wartet im Wohnwagen. Ich habe ihn vor der Stadt abgestellt, damit ich schneller hier sein kann.“

Die Umarmung mit meiner Mutter fiel weitaus länger aus, obwohl mein Vater erneut drängte, wir sollten uns beeilen. „Wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns.“

Ich dachte einen Moment nach und fragte: „Das Herbstfest in Plainfield?“ Schließlich kannte ich unsere Route.

„Ganz genau“, bestätigte er zufrieden.

Routiniert half ich, den Wohnwagen anzukuppeln und als wir losfuhren, kurbelte ich das Fenster herunter und hielt meinen Kopf in den Fahrtwind. Endlich waren wir wieder unterwegs. Endlich war ich wieder zuhause.

Wir kamen rechtzeitig in Plainfield an und erwischten einen guten Platz für den Stand. Der Abend war recht mild, wir aßen draußen und mein Vater trank noch ein Bier, während ich meiner Mutter wie üblich half, den Wohnwagen für die Nacht zurechtzumachen. Sie legte sich gleich hin, ich setzte mich noch einmal nach draußen. Er warf mir einen langen Blick zu und erkundigte sich irgendwann: „Haben sie dich anständig behandelt, da unten in dem Heim?“ Als ob er ahnte, dass ich ihm bei den wöchentlichen Anrufen immer nur einen Teil der Wahrheit erzählt hatte.

An diesem Abend gab es keine Heimleiterin, die mir zuhörte, deswegen konnte ich ehrlich sein. Ich erzählte ihm von dem Gefühl, eingesperrt zu sein, von den Schwierigkeiten in der Schule und mit den anderen Jungen, von den Beleidigungen und der Tracht Prügel. Er ließ mich reden und schwieg danach eine ganze Weile.

Er war kein besonders gebildeter Mann und machte selten viele Worte. Aber er kannte sich in der Welt aus und wusste, wie sie funktionierte. Schon vor seinem Unfall hatte er mich oft wie eine Art Gleichberechtigten und nicht wie einen kleinen Jungen behandelt. Ich denke, er wusste genau, welchen Beitrag ich zu unserem Familienunternehmen leistete.

An diesem Abend sprach er zu mir wie zu einem erwachsenen Mann. Er sagte: „Hör’ mir zu, Shawn. Du weißt, das Leben ist kein Zuckerschlecken. Was auch immer dir widerfährt, du musst stets damit rechnen, dass es im nächsten Moment noch schlimmer kommen kann. Oder auch, dass du die lang ersehnte Chance zur Genugtuung erhältst. Also sei vorbereitet. Vergib nie all deine Kraft in einem einzigen Moment. Beobachte. Und handle erst, wenn es Zeit dafür ist. Dann kannst du nicht nur deine vermeintlichen Gegner, sondern manchmal auch das Schicksal selbst überraschen. Hast du das verstanden?“

„Ja, Sir“, erwiderte ich ernst.

Drei

 Ich erinnere mich nicht nur deswegen so genau an dieses Gespräch, weil seine Worte für mich später so wichtig wurden, sondern auch, weil ich glaube, dass er sich erst in diesem Moment zu dem Schritt entschloss, der unser weiteres Leben so sehr beeinflussen sollte. Wahrscheinlich hatte er zuvor schon darüber nachgedacht, doch die eigentliche Entscheidung fiel erst an diesem Abend. Was soll ich ihm vorwerfen? Ich weiß, er wollte das Beste für mich.

Wir blieben das Wochenende über in Plainfield, die Geschäfte liefen richtig gut, ich hatte nichts von meinem Talent eingebüßt und pries die Schärfe unserer Messer an, bis ich heiser war. Sonntagabends packten wir zusammen und machten uns auf den Weg nach Westen. Mein Vater fuhr die ganze Nacht durch, am frühen Morgen passierten wir die Grenze nach Nebraska. „Eine neue Route?“, fragte ich ihn verwundert.

Er nickte nur. „Hastings. Da ist am Wochenende ein großer Markt.“

Wir fuhren vor allem über Land und wenn die Dörfer, die wir passierten, einen vielversprechenden Eindruck machten, hielten wir an und bauten unseren Stand auf. Wir blieben nie sehr lange – die Gemeindeverwaltungen mochten es nicht besonders gerne, wenn fremde Händler außerhalb der Marktzeiten kamen und in den letzten Jahren hatte es immer häufiger Kontrollen gegeben.

Ich merkte durchaus, dass meine Mutter einen recht nervösen Eindruck machte und öfter versuchte, mit meinem Vater zu reden, doch der blockte jede Diskussion sofort ab. Ich dachte, es ginge um die neue Route, vielleicht war es ihr zu unsicher, einfach auf Verdacht nach Hastings zu fahren. Es stellte sich allerdings als echter Geheimtipp heraus.

In Nebraska war es etwas kühler als in Iowa und offenbar tranken die Leute hier gerne Tee, jedenfalls verkaufte sie den größten Teil ihres Vorrats. Sie wurde danach auch sichtlich ruhiger, ich fühlte mich in meinem Verdacht bestätigt und vergaß die Sache – zumindest für die nächsten zwei Wochen.

Wir fuhren erst nach Norden, dann nach Osten, zurück Richtung Iowa. Ich fragte meinen Vater nach unserem nächsten Ziel, er gab mir nur „Mal sehen, was sich bietet“ zur Antwort. In Iowa hielten wir uns weiterhin nördlich, was recht ungewöhnlich war. In den letzten Jahren hatten wir vor allem die Herbstmärkte im Süden besucht, um dann das Winterquartier des Zirkus anzusteuern. Ich bohrte nicht weiter nach. Ich war vollkommen zufrieden, mit meinen Eltern im Wagen zu sitzen und durch das Land zu fahren.

Die Polizei erwischte uns in einem Dorf einige Meilen vor Cedar Falls, in der Gegend, in der meine Tante lebte oder gelebt hatte, ich wusste es nicht, wir hatten lange nicht mehr über sie gesprochen. Wir hatten uns regulär für den Wochenmarkt angemeldet und das einzige Problem war, dass mein Vater den Truck zu lange in der Ladezone hatte stehen lassen. Die Polizisten wollten seinen Führerschein sehen und plötzlich entbrannte eine aufgeregte Diskussion, in dessen Verlauf ihm Handschellen angelegt und wir alle aufs Revier gebracht wurden. Ich begriff nicht annähernd, was an einem falsch geparkten Wagen so dramatisch sein sollte. Bis die Leute von der Fürsorge auftauchten. Und mir erklärten, wo das eigentliche Problem lag.

Natürlich hatte mein Vater, bevor er mich in Burlington aus dem Heim geholt hatte, lange mit den Behörden verhandelt. Er hatte auch die Erlaubnis bekommen, mich mitzunehmen. Allerdings nur für das Wochenende. Er hätte mich spätestens montags zum Frühstück wieder in Burlington abliefern müssen. Es war nur eine Art Versuch, ein Entgegenkommen seitens der Fürsorge. Bei zufriedenstellendem Verlauf hätte man das Ganze zu Weihnachten wiederholen können. Ansonsten hatten die Behören keinen Zweifel daran gelassen, dass ich zumindest über den Winter noch im Heim bleiben sollte.

Mein Vater sah das jedoch anders. Er hatte gemerkt, wie schlecht es mir dort ging, er hatte beschlossen, diese Sache kam für seinen Sohn nicht in Frage und mich kurzerhand bei sich behalten. Deswegen die Fahrt nach Nebraska. Er hatte wirklich geglaubt, wenn er zwei Wochen aus dem Staat verschwand, würden sie aufhören, nach uns zu suchen. Wahrscheinlich dachte er, die Behörden hätten Wichtigeres zu tun.

Er und meine Mutter wurden verhaftet und wegen Entziehung Schutzbefohlener zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Ich wurde nicht dazu befragt und durfte auch nicht an der Verhandlung teilnehmen, sondern kam sofort zurück nach Burlington. Zuerst. Anscheinend startete mein Vater, kaum aus dem Gefängnis entlassen, einen erneuten Versuch, mich zu dort herauszuholen. Dieses Mal bekam ich ihn noch nicht einmal zu Gesicht. Ich hatte ihn und meine Mutter zuletzt auf der Polizeiwache in Cedar Falls gesehen und die Leute von der Fürsorge waren sich offenbar einig, es wäre unter den gegebenen Umständen das Beste für mich, wenn sich daran so schnell auch nichts ändern würde. Sie wiesen mich an, meine Sachen zu packen, setzen mich in einen dunkelgrauen Buick und karrten mich fünfhundert Meilen nach Süden, in ein Heim in Enid, Oklahoma.

Heute bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob es dort tatsächlich so viel schlimmer zuging als in Burlington, aber ich habe es auf jeden Fall so empfunden. Die Gegend und die Leute waren mir vollkommen fremd, das Klima war milder, die Sprache und die Menschen hingegen rauer und spröder, als ich es gewohnt war. Außerdem war mir vollkommen klar, dass es diesmal nicht mehr nur um ein paar Tage oder Wochen ging. Meine Eltern hatten sich nicht an die Vereinbarungen gehalten und waren zu Gesetzesbrechern geworden, so schnell würde man mich nicht wieder zu ihnen lassen. Ich durfte nicht mit ihnen telefonieren oder schreiben, sie wussten wahrscheinlich noch nicht einmal, wo ich war.

Am Anfang war ich wütend auf meinen Vater, dann auf die ganze Welt, dann konzentrierte ich mich auf die, die meiner Ansicht nach Schuld daran waren, dass man meine Familie auseinandergerissen hatte. In Burlington hatte ich immer gedacht, wenn ich mich anstrengte und versuchte, mich gut zu benehmen, würden sie einsehen, wie gut mich meine Eltern erzogen hatten und mich bald wieder nach Hause lassen. Aber das hatte offenbar nicht funktioniert. Also, dachte ich bei mir, kann ich ihnen das Leben auch schwer machen. Ich hatte schließlich nichts mehr zu verlieren.

Ich galt schon bald als jähzornig und schwierig, die anderen Kinder mochten mich nicht, ich hatte auch kein Interesse daran, mit jemandem Freundschaft zu schließen. Es gab einen Aufseher, Mister Laurence, der im Grunde ganz nett war, fast nie geschlagen und öfter versucht hat, sich ernsthaft mit mir zu unterhalten. Aber für mich gehörte er zu „denen“ und deshalb ließ ich ihm von Anfang an keine Chance.

 

Ich blieb neun Monate in Enid. Das Weihnachtsfest war trister als alles, was ich bis dahin erlebt hatte und meinen dreizehnten Geburtstag verbrachte ich allein im Arrestzimmer, weil ich mich mal wieder geprügelt hatte.

Als das Frühjahr kam, ergriff mich erneut diese Unruhe, ich sehnte mich danach, umherzuziehen, so wie ich es mein Leben lang getan hatte. Ich dachte öfter darüber nach, abzuhauen und mich auf die Suche nach meinen Eltern zu machen. Aber ich wusste ja nicht, wo ich sie finden konnte. Waren sie wieder auf unserer gewohnten Route unterwegs? Hatte man sie gezwungen, das Umherziehen ganz aufzugeben? Ich erhielt nach wie vor keine Nachrichten von ihnen, einer der Aufseher erzählte mir einmal sogar, sie wären wieder im Gefängnis, vielleicht wollte er mich nur abschrecken, vielleicht war es aber auch die Wahrheit.

Alle paar Wochen erschienen junge Ehepaare oder Familien im Heim – die einzige Abwechslung von unserem sonst so gleichförmigen und tristen Alltag. Sie waren auf der Suche nach Kindern, die sie adoptieren oder zur Pflege aufnehmen wollten. Ich kam normalerweise gar nicht erst in die engere Auswahl. Die meisten interessierten sich nur für die kleinen, hübschen Mädchen, manchmal auch für ältere Jungs, wenn sie besonders brav oder intelligent waren. Einer älteren Frau, die mich im Aufenthaltsraum gesehen hatte und offenbar sympathisch fand, erklärte ich, ich würde mich sowieso nicht adoptieren lassen, schließlich hätte ich eine Familie und mein Vater würde bestimmt mächtigen Ärger machen, wenn er von der Sache erfuhr. Nach diesem Vorfall wurde ich meistens auf das Zimmer geschickt, wenn fremde Leute kamen.

Deswegen wunderte ich mich ein wenig, als die Aufseher an einem Sonntagnachmittag Mitte Juni einen Besucher ankündigten und keine Anstalten machten, mich und die anderen auffälligen Jungen wegzubringen. Wir saßen im Lernzimmer und sollten unsere restlichen Hausaufgaben erledigen, aber niemand konzentrierte sich auf die Rechenaufgaben, wir blickten alle verstohlen zur Tür. Der Aufseher kam mit dem Besucher herein – und ich warf einen ersten Blick auf Angus Warren. Er war ein beeindruckend großer und kräftiger Mann in der einfachen, aber makellos sauberen Kleidung eines Farmers. Er war nicht auf der Suche nach kleinen Mädchen oder intelligenten Jungen, die ihm gute Schulnoten nach Hause brachten. Er brauchte jemanden, der auf der Farm arbeiten, der zupacken konnte und nicht allzu viele Ansprüche stellte.

Als die älteren Jungs merkten, dass sie diesmal tatsächlich eine Chance hatten, machte sich eine gewisse Unruhe im Raum breit. Michael, ein Kerl mit dem ich regelmäßig Ärger hatte, stand gleich auf, ging zu dem Besucher und begann, sich regelrecht anzupreisen. Mit einer gewissen Genugtuung hörte ich, wie der Mann ihm eine reichlich rüde Abfuhr erteilte. Danach fing er an, im Raum herumzugehen. Vor meinem Tisch blieb er stehen. „Du. Steh mal auf.“

Seine Stimme klang, als wäre er es gewohnt, dass seine Befehle befolgt wurden und auch ich gehorchte nach einem kurzen Moment des Zögerns. Ich war trotzig genug, um ihm ins Gesicht zu schauen. Er lächelte spöttisch. „Gefällt es dir hier?“

Ich wusste nicht, was er hören wollte und zuckte nur mit den Schultern.

„Kannst du arbeiten?“

Selbstverständlich konnte ich das! Ich nickte.

„Bist du stumm oder so?“, wollte er daraufhin wissen.

Ich fühlte mich ein wenig beleidigt. „Nein, Sir.“

„Gut.“ Er warf dem Aufseher einen fragenden Blick zu, der begann unterwürfig: „Sir, dieser Junge ist nicht einfach und hat schon eine Menge Schwierigkeiten gemacht, vielleicht sollten Sie ...“

„Mit Schwierigkeiten kann ich umgehen. Ist er ...“ Er machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung vor seiner Schläfe. Hielt er mich für zurückgeblieben?

„Nun, in der Schule ist er leider recht faul, dementsprechend schlecht sind seine Leistungen, aber ansonsten ist er völlig gesund.“

„Gut. Noch so einen kann ich nämlich nicht brauchen.“

„Mr. Warren, es tut mir wirklich sehr leid, weil Sie beim letzten Mal so viele Probleme hatten. Gerade deswegen denke ich ...“

Er unterbrach den Aufseher mit einer knappen Geste. „Wie heißt er?“

„Shawn Foster. Seine Eltern sind irgendwo in Iowa. Haben sich nicht richtig um ihn gekümmert und dann sind sie auch noch straffällig geworden.“

Das war die Stelle, an der ich normalerweise heftig zu protestieren begann, doch diesmal schwieg ich. Der Besucher wandte sich direkt an mich. „Shawn. Ich brauche jemanden, der mir auf der Farm hilft. Du wohnst bei uns, isst bei uns, meinetwegen kannst du auch zur Schule gehen. Oder willst du lieber hierbleiben?“

Es imponierte mir, wie er mit Michael und dem Aufseher umgegangen war. Er schien

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Mit freundlicher Genehmigung von shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2012
ISBN: 978-3-86479-792-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Song zum Buch: Final Straw von R.E.M., aus dem Album „Around the sun“.

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