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Brüder 2




Alle weiteren Zitate von William Blake
Aus: Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke,
dtv-Verlag, München, 1996

PROLOG




Wenn er doch nur wüsste, wo er hier gelandet war. Er erinnerte sich noch genau, wie er in die Hütte gestolpert war und sich auf das Bett hatte fallen lassen, so erschöpft, so schrecklich müde. Aufgewacht war er an diesem Ort und seitdem, seit Stunden oder vielleicht auch schon Tagen, suchte er nach Bewohnern und einem Ausgang aus diesem … ja, was war es denn eigentlich? Einen Ausgang hatte er noch nicht gefunden. Vor den Bewohnern schreckte er inzwischen zurück.

Er war nicht dumm, genaugenommen war er das exakte Gegenteil davon, also hätte er eigentlich eine Erklärung finden müssen. Doch auch sein Verstand funktionierte nicht wie sonst, er war seltsam dumpf und träge und manchmal, glaubte er, setzte er ganz aus. Er hatte keine Drogen genommen und verglichen mit dem, was ihm sein bester Freund berichtet hatte, fühlte es sich auch nicht so an. Es fühlte sich an, als wäre er unversehens in einen Albtraum von Edgar Allan Poe geraten.

Er befand sich in einem riesigen Gebäudekomplex, so groß, er hatte bereits Meilen an Fluren, Treppen, Zimmern und Hallen hinter sich gelassen und war trotzdem nirgends angekommen. Er hätte vermutet, er bewegte sich im Kreis, wenn sich das Gebäude selbst nicht ständig verändern würde.
Manchmal sah es aus wie in dem Institut, in dem er vor langer Zeit einmal gewesen war. Manchmal hatte er das Gefühl, in Burgess Hill zu sein, in Kathrins Haus beziehungsweise in dem ihrer Großmutter. Einmal hatte er die alte Dame sogar in ihrem lichtdurchfluteten Salon sitzen und Tee trinken sehen, Kathrin an ihrer Seite in einem zitronengelben Kleid, viel jünger als heute, sie musste ja jünger sein, schließlich war ihre Großmutter schon seit mehreren Monaten tot. Er war in das Zimmer gegangen, um Kathrin um Rat zu fragen, sie wusste soviel und hatte fast immer eine Lösung. Doch sie reagierte nicht auf ihn, selbst als er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt hatte.
Viel häufiger sah es an diesem Ort jedoch aus wie zu Hause. Ein Raum, an dem er ständig vorbeikam, war das Arbeitszimmer seines Vaters. Er wurde Zeuge endloser Szenen, in denen er sich selbst als Kind, seine Brüder und oft auch seine Mutter sah. Vieles davon hatte er längst vergessen. Zumindest hatte er gehofft, er hätte es vergessen.

Er versuchte immer wieder zur Eingangshalle zu kommen, manchmal nahm er auch ganz bewusst einen anderen Weg, um das Seitenportal oder den Dienstboteneingang zu erreichen, doch jedes Mal wenn eine Tür nach draußen in unmittelbarer Nähe war, veränderte sich wieder alles. Dann stolperte er häufig in Situationen, die so absurd waren, sie konnten einfach nicht real sein. Er sah den Wagen eines Kommilitonen, der ihn durch die Flure verfolgte und beinahe überrollte. Er sah ein hübsches blondes Mädchen mit französischem Akzent, das hinter ihm herlief und seine langen Vampirzähne in seinen Hals schlagen wollte.
Manchmal wurde alles dunkel und er hörte seltsame Geräusche oder Dinge oder Wesen streiften sein Gesicht. Manchmal war es heller und er sah, was auf ihn zu kam. Manches erheiterte ihn, manches versetzte ihn in nackte Panik und er wusste, manchmal schrie er aus Leibeskräften, doch er konnte seine Stimme nicht hören.

Verwirrender als alles andere waren die Fenster. Es gab viele Räume, die gar keine hatten, oder sie lagen so hoch, dass er nicht hindurchsehen konnte, oder sie waren von außen mit Brettern vernagelt. Gelegentlich erhaschte er jedoch einen Blick nach draußen und in den meisten Fällen sah er seinen besten Freund dort stehen.
Oft war er im Gespräch mit einem Mann mit schwarzen Haaren und dunklem Teint oder auch mit seinem Mädchen. Manchmal war er alleine und erzählte nur so vor sich hin und wenn er still war und den Kopf gegen die Fensterscheibe presste, konnte er sogar hören, was sein Freund sagte. Aber er konnte sich nicht bemerkbar machen. Er verstand nicht, warum sein Freund dort war und vor allem, warum er ihm nicht half, hier herauszukommen. Er hatte gerufen, gegen die Scheiben gehämmert und versucht, sie einzuschlagen, aber es hatte nichts genutzt, die Fenster waren wieder verschwunden und ihm war schon aufgefallen, immer, wenn er seinen Freund gesehen hatte, wurde es anschließend besonders schlimm.

Je länger er hier war, desto mehr verlor er Zeitgefühl und Orientierung. Er hatte den Eindruck, sich trotz all seiner Bemühungen immer weiter von einem Ausgang und einer Lösung wegzubewegen und stattdessen immer tiefer ins Innere dieses Gebäudes gezogen zu werden. Die Gestalten, die ihm begegneten, wurden beängstigender und seine Einsamkeit immer größer. Er wollte zu seinem besten Freund, hätte Kathrin so gerne noch einmal getroffen, aber was nutzte es, wenn er doch nicht mit ihnen reden konnte. Er überlegte aufzugeben, sich einfach hinzusetzen, die Augen zu schließen und endlich zu schlafen.

Plötzlich tauchte der alte Mann auf. Er war anders als alle, denen er bisher in diesem Haus begegnet war, die anderen Gestalten schienen ihn sogar zu meiden und ihn vertreiben zu wollen. Er gehörte nicht hierher und immer, wenn er den Alten sah, wusste er einen Moment lang mit absoluter Gewissheit, dass er selbst es auch nicht tat.
Der Alte sprach ihn mit seinem Namen an, sagte, er solle nicht aufgeben, er solle weiter nach dem Ausgang und vor allem nach seinem Freund suchen. Er solle dem Band folgen, das er mit ihm geknüpft hatte. Wenn der Alte da war, konnte er es sogar vor sich sehen, wie einen leuchtenden Faden, der ihn aus dem Labyrinth herausführen würde. Er wollte ihm folgen. Er wollte zu seinem Freund.

Doch je mehr er sich anstrengte, desto mehr schien sich das Haus gegen ihn zu Wehr zu setzen und er ahnte, seine wirklichen Schrecken hatte es noch gar nicht gegen ihn ins Feld geworfen. Er wusste nicht, ob seine Kraft reichen würde.

Teil I


Kapitel 1




Professor James Norrington, Leiter des geisteswissenschaftlichen Instituts der Universität von Tasking, saß in seinem Büro am Schreibtisch, hatte ein Glas Whisky vor sich stehen und hielt die Kopie eines Briefes in der Hand. Sein Kollege Harding, der der medizinischen Fakultät vorstand, hatte sie ihm überlassen. Er hatte den Brief und vor allem den letzten Satz in den vergangenen Wochen bestimmt hundert Mal gelesen, war dadurch jedoch auch nicht schlauer geworden.

Er hatte im Grunde auch nur wenig Zeit gehabt, sich intensiv damit zu beschäftigen, denn er hatte Prüfungen und Examina abnehmen müssen. Außerdem waren etliche Briefe und Telefonanrufe erregter Eltern, Ehemaliger oder Gesellschafter zu beantworten gewesen. Sie alle hatten wissen wollen, warum das große Sommerfest, das traditionell immer am letzten Tag vor den Ferien gefeiert wurde, in diesem Jahr abgesagt worden war. Eigentlich wäre diese Arbeit Aufgabe des Kanzlers gewesen, doch der war zu sehr damit beschäftigt, der Öffentlichkeit gegenüber Erklärungen für die haarsträubenden Ereignisse der letzten Wochen und Monate abzugeben.

Norrington wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als er durch die nur angelehnte Bürotür Schritte auf dem Gang hörte. Wahrscheinlich der Hausmeister, der nachsehen wollte, wer sich um diese Zeit noch im Hauptgebäude herumtrieb.
Die meisten Studenten, bis auf die wenigen, die den Sommer über in ihren Colleges blieben, hatten den Campus schon vor drei Tagen verlassen und der größte Teil des Kollegiums war gestern in die Ferien gefahren. Er hatte sich in diesem Jahr dazu entschlossen zu bleiben. Er wollte jederzeit erreichbar und über sämtliche Neuigkeiten so früh wie möglich informiert sein. Vor allem wollte er der Erste sein, der einigen ganz bestimmten Studenten, sollten sie irgendwann wieder auf dem Campus erscheinen, eine Standpauke halten würde, die sich gewaschen hätte.

Es klopfte. Norrington schüttelte kurz den Kopf, um ihn freizubekommen, räusperte sich und rief: „Mr Harris? Ich brauche hier noch ein bisschen, warten Sie nicht auf mich, ich kann später selbst abschließen.“
„Wer ist Mr Harris?“, fragte eine spöttische Stimme, die zu einem Mann mittleren Alters in Cordhose und Tweedjacke gehörte, der soeben die Tür geöffnet hatte.
„Martin!“, rief Norrington, eher verblüfft und ein klein wenig mehr erschrocken als erfreut. „Was machst du denn hier? Hast du meinen Brief nicht erhalten?“
Der Angesprochene lächelte breit. „Wenn ich ihn nicht erhalten hätte, würde ich jetzt mit Angelzeug und gepackten Koffern in Oakfield sitzen und auf dich warten.“
Er zog ein Kuvert aus seiner Jackentasche und hielt es hoch. „Da ist er. Ich bin hier, weil ich mir Sorgen gemacht habe. All diese erschreckenden Neuigkeiten, und dann schreibst du mir auch noch, du wärst krank und müsstest unsere Urlaubswoche absagen! Verzeih mir, alter Freund, da musste ich mich schon einmal persönlich überzeugen, was hier los ist.“

Norrington hatte inzwischen seine Fassung wieder gewonnen, war aufgestanden und auf seinen Besucher zugegangen. „Ja“, sagte er, ebenfalls lächelnd. „Du wolltest den Dingen ja schon immer ganz genau auf den Grund gehen. Ich freue mich sehr, dich zu sehen.“
Er umarmte seinen Freund und sie betrachteten sich eine ganze Weile, war es doch schon wieder ein Jahr her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Martin Keats und er kannten sich seit ihrer gemeinsamen Zeit im Internat in Oakfield. Während und nach dem Studium hatten sie sich für eine Weile aus den Augen verloren, doch seit zehn Jahren verbrachten sie jeweils die erste Ferienwoche im Sommer zusammen.

Keats war Lehrer geworden und in Oakfield geblieben. Und da das Internat einen vorzüglichen Ruf hatte, konnte er jedes Jahr Schüler mit herausragenden Abschlüssen – oder mit den entsprechenden Beziehungen – zu seinem Freund nach Tasking schicken.
„James“, meinte er nach einem Moment kopfschüttelnd, „ich sage es ja nicht gerne, aber du siehst furchtbar aus. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass du letztes Jahr schon so viele graue Haare hattest.“
„Hatte ich auch nicht. Einen Großteil davon habe ich dem außergewöhnlichen Genie zu verdanken, das du mir damals geschickt und so angepriesen hast. Komm, lass uns hinüber in meine Wohnung gehen. Wenn ich dir alles erzählen soll, wird es ein langer Abend.“

Sie verließen das Hauptgebäude und gingen nach St. Andrews, das geisteswissenschaftliche College. Die Wohnungen der Professoren und Angestellten der Fakultät waren in einem separaten Seitenflügel untergebracht. Die Räume waren winzig, was Norrington selten auffiel, da er sowieso nur zum Schlafen hier war.
Da Keats diese Verhältnisse von Oakfield her kannte, beklagte er sich nicht und sie machten es sich in dem einfachen Sesseln so bequem wie es eben ging. Mr Keats stopfte sich seine Pfeife, Professor Norrington schenkte Whisky aus und begann seinem Freund von den aufwühlenden und erschreckenden Ereignissen der letzten Monate zu berichten.
Er erzählte von Ryan Abott, Politikstudent und Sohn des ehemaligen Innenministers, der kurz nach den Osterferien mit seiner Freundin Sarah nach Indien durchgebrannt war. Von der französischen Austauschstudentin Chantal Dupont, die in einer Samstagnacht Ende Mai auf dem Campus vergewaltigt worden war. Von den zwei Studenten, die der Tat verdächtigt wurden, Richard Sullivan und sein Bruder Jason. Davon, wie Richard sich immer mehr aus der Affäre gezogen und immer vehementer seinen Bruder belastet hatte. Bis der es nicht mehr ausgehalten hatte und zwei Wochen vor den Prüfungen, zwei Wochen vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag, spurlos verschwunden war.

„Und es gibt immer noch keinen Hinweis, wo er sich aufhalten könnte?“
Norrington schüttelte den Kopf. „Nein, nichts Konkretes. Möglicherweise hat er die Fähre nach Le Havre genommen, aber zu dem Zeitpunkt wurde noch nicht großflächig nach ihm gefahndet. Ich könnte mir vorstellen, er ist in Paris.“ Am Ende des Satzes bekam seine Stimme etwas Verträumtes.
Keats wusste um die romantische und poetische Ader seines Freundes, der mit seinen Romanen weltweite Erfolge feierte. Er wusste jedoch auch, Jason Sullivan war weder das eine noch das andere. „Ich bitte dich, James. Der Junge war vier Jahre in meiner Klasse, wir beide wissen, wie intelligent und vor allem vernünftig er ist. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er im Quartier Latin in einem Straßencafé sitzt, Pastis trinkt und traurige Verse in ein Notizbuch schreibt. Kann es sein, du hast hinsichtlich dieses Studenten ein wenig die professionelle Distanz verloren?“

Norrington seufzte und dachte an die zahllosen fruchtbaren Diskurse, die er mit Jason geführt und an die überragenden Abhandlungen, die er von ihm gelesen hatte. „Ja, das kann sogar sehr gut sein. Er verehrt Jean-Paul Sartre, vielleicht versucht er, sich mit ihm zu treffen. Aber gut … Was denkst du denn, wo er sein könnte?“
„Seine Mutter ist doch eine niederländische Adelige, vielleicht hat er in Holland Unterschlupf gefunden? Oder er ist tatsächlich seinem besten Freund Ryan nach Indien gefolgt.“
Norrington widersprach. „Das kann ich mir jetzt wiederum nicht vorstellen. Du hättest ihn erleben müssen, als Ryan verschwunden ist. Er war so erschüttert, so wütend, er hat sich unglaublich über diesen Unfug aufgeregt.“
Keats war nicht verwundert. „Die Frage ist, hat er sich aufgeregt, weil Ryan seinen Studienplatz riskiert oder weil er ihn nicht über die Sache informiert hat? Wahrscheinlich beides. Ich sage dir, unterschätze niemals diese Freundschaft, das ist schlimmer als damals bei uns beiden!“

Die Männer lächelten und gaben sich einen Moment lang Erinnerungen hin, bis Keats mit weicherer Stimme fortfuhr: „Ryan ist mit vierzehn nach Oakfield gekommen, er war so ein unscheinbarer und stiller Junge, mit bestenfalls durchschnittlichen Noten. Immer höflich und eigentlich nur dann engagiert, wenn er das Gefühl hatte, jemand würde ungerecht behandelt. Jason folgte zwei Jahre später, und aus Ryan wurde innerhalb weniger Wochen ein aufgeschlossener und witziger Kerl. Seine Noten wurden besser und gleichzeitig war er der Einzige, der in der Lage war, Jason halbwegs im Zaum zu halten, damit er nicht allzu sehr über die Stränge schlägt.“
Norrington wusste bereits von vorhergehenden Erzählungen seines Freundes, Jason hatte während seiner Internatszeit allerhand Unfug angerichtet. In dieser Hinsicht hatte er sich nur bedingt geändert, seit er auf der Universität war.
Keats beendete seinen Gedankengang. „Aber diese Sache mit der Vergewaltigung … glaubst du, er hat tatsächlich etwas damit zu tun?“
„Nein“, sagte Norrington fest. „Ich verstehe auch nicht, warum sein Bruder Richard ihn so belastet. Wie ich mitbekommen habe, ist die Beziehung zwischen den beiden wohl nicht ganz einfach.“
Keats lachte auf. „Ich glaube, die gesamte Familie Sullivan ist nicht ganz einfach. Hast du gehört, dass ihr Ferienhaus in den Broads abgebrannt ist?“
Norrington war ehrlich verblüfft. „Nein! Wann denn?“
„Das muss etwa in der Zeit gewesen sein, als auch Jason verschwunden ist. Anscheinend sind einige Jugendliche aus Norwich eingebrochen und haben Feuer gelegt.“

Verständnislos schüttelten beide Männer den Kopf. Obwohl sie sich noch nicht für sehr alt hielten und sich auch noch gut an ihre früheren Jahre erinnern konnten, war es ihnen oft unmöglich, zu begreifen, was in die heutigen Jugendlichen gefahren war. Selbst hier in Tasking machten sich die neuen Sitten zunehmend breit, merkwürdige Kleidung, ungepflegte Frisuren und schrille Musik gehörten da noch zu den harmlosen Entwicklungen. Die sexuellen Ausschweifungen und ein stetig ansteigender Drogenkonsum waren jedoch kaum mehr zu tolerieren.

Um das Thema abzuschließen, meinte Professor Norrington mit einem Schulterzucken: „Nun ja, in den finanziellen Ruin wird es die Familie nicht treiben.“
„Bestimmt nicht“, lachte Keats und schnitt ein neues an. „Aber sage einmal, was ist denn mit Jasons und Ryans Freundin, Kathrin McEvans? Wie ich sie kenne ist sie die Einzige, die in dem ganzen Durcheinander die Ruhe und einen kühlen Kopf bewahrt hat, nicht wahr?“
„Nein“, erwiderte Norrington sehr trocken und mit einer schwer zu deutenden Grimasse.
„Nein?“, hakte Keats nach. „Aber sie hat doch bestimmt erstklassige Prüfungen abgelegt.“
Norrington sagte gar nichts mehr und reichte seinem Freund stattdessen den Brief hinüber, den er vorhin im Büro in der Hand gehalten hatte. Keats überflog die Zeilen. „Sie bittet Professor Harding, sie von den Prüfungen freizustellen … wegen nervlicher Belastung … frühzeitig nach Hause … Ich hätte nicht gedacht, dass sie das so mitnimmt. Gut, sie hat es aufgrund ihrer Familiengeschichte auch nicht leicht gehabt, und dann der Tod ihrer Großmutter an Ostern … Doch was bedeutet dieser letzte Satz, Bitte richten Sie Professor Norrington aus, dass ich meinem Herzen gefolgt bin

?“
„Das bedeutet, sie ist nicht zu Hause“, erklärte Norrington mit unveränderter Stimme.
„Sondern?“, fragte sein Freund verblüfft.
Norrington seufzte. „Sie bezieht sich damit auf ein Gespräch, das ich mit ihr und Jason über meinen letzten Roman geführt habe. Du hast die Geschichte ja gelesen. Es bedeutet, sie hat sich auf die Suche nach Jason gemacht. Sie weiß nicht, wo er ist, hat aber eine bestimmte Hoffnung. So wie das Mädchen im Roman einfach nach Amerika geflogen ist.“
„Nun“, meinte Keats nach einer Weile ebenso trocken wie vorher sein Freund. „Ich vermute stark, sie wird sich für die entgegengesetzte Richtung entschieden haben.“

****



Kathrin McEvans war noch nie in ihrem Leben geflogen und um ehrlich zu sein, hatte sie eine höllische Angst davor. Was, wie sie mit einem bitteren Lächeln feststellte, für die Tochter eines der berühmtesten britischen Kampfpiloten des Zweiten Weltkriegs doch ein wenig blamabel war.
Es ging ja auch nicht nur um das Fliegen an sich. Sie wusste nicht genau, wie sie an Tickets kam und hatte keine Ahnung, wie es auf dem Flughafen zuging. Zu allem Überfluss befand sich der auch noch in London, dieser riesigen Stadt, in der sie sich nicht auskannte.
Hätte sie Zeit und Ruhe gehabt, hätte sie sich sorgfältig mit dem Problem auseinandergesetzt, Informationen eingeholt, sich das nötige Wissen angeeignet und eine Lösung gefunden. Doch sie hatte weder das eine noch das andere. Deswegen brauchte sie Hilfe.

Eigentlich war sie gut darin, Lösungen zu finden, trotzdem hatte sie zwei Wochen gebraucht bis sie verstanden hatte, was in dieser Nacht im Ferienhaus, in der Hütte, wie die Sullivans immer sagten, tatsächlich passiert war. Bis sie Jasons Hinweis – die Initialen, die er in seine Buche geritzt hatte – entdeckt und alle Puzzleteile zusammengesetzt hatte.
Danach hatte sie sich auf den Weg gemacht. Nicht überstürzt, nicht unüberlegt, sie hatte ihrem Professor einen Brief geschrieben und sogar noch gefrühstückt. Sie war vom Campus aus in die Stadt gelaufen und hatte den ersten Zug genommen.
Erst einmal nach Hause, nach Burgess Hill, in das Haus ihrer Großmutter, in dem sie aufgewachsen war und das jetzt ihr gehörte, gehören würde, wenn sie im nächsten Jahr einundzwanzig wurde. Sie wollte noch einige Dinge mitnehmen, außerdem brauchte sie ihren Pass, und noch mehr als alles andere die Ruhe und die Geborgenheit, die dieses Haus für sie immer schon ausgestrahlt hatte. Nach dem Tod ihrer Großmutter hatte sie mit Jason beinahe zwei Wochen hier verbracht und es war eine so unerwartet kraftvolle und bemerkenswerte Zeit gewesen.

Sie zehrte davon, als sie durch die Tür auf die Terrasse schaute, wo sie so oft gesessen hatten. Doch es machte ihr auch schmerzlich bewusst, wie einsam sie war. Ihre beiden besten Freunde, genauer gesagt die einzigen wirklichen Freunde, die sie je gehabt hatte, hatten sie allein gelassen. Und das zu einem Zeitpunkt, als sie sich gerade an den Gedanken gewöhnte, nie wieder allein sein zu müssen. Zu einem Zeitpunkt, als sie begriff, wie sehr sie Jason liebte, zumindest hatte sie dieses Gefühl zum ersten Mal in Worte fassen können. Allerdings war sie damals noch davon ausgegangen, Jason würde im Ferienhaus auf sie warten. Wenn sie heute an ihn dachte, fühlte sie etwas ganz anderes.

Die Ruhe im Haus tat ihr unendlich gut und sie beschloss, eine Nacht zu bleiben. Sie musste am nächsten Morgen sowieso auf die Bank nach Burgess Hill und soviel Geld, um es für eine Pension zu verschwenden, hatte sie nun wirklich nicht.
Sie machte sich keine Sorgen, Mr Burnett könnte sie entdecken, ihr ehemaliger Lehrer, der eng mit ihrer Großmutter befreundet gewesen war, sie in Krankheit und Sterben so sehr unterstützt und auf ihren Wunsch Kathrins Vormundschaft übernommen hatte. Er war ein sehr akribischer Mann. Er kam jeden Mittwoch und Samstag, um nach dem Haus zu sehen. Und da heute Sonntag war, bestand wirklich keine Gefahr. Sie machte sich aus den Vorräten eine Kleinigkeit zu essen und verbrachte den Abend auf der Terrasse, mit einem Buch von Hermann Hesse, von dem Jason zuletzt so fasziniert gewesen war.

Am nächsten Morgen ließ Kathrin den Brief, den sie für Mr Burnett geschrieben hatte, auf dem Küchentisch liegen. Er würde ihn wohl erst in zwei Tagen finden und sie war froh, bis dahin Luft zum Agieren zu haben. Sie hatte versucht, ihm alles zu erklären und hoffte, er würde darauf verzichten, die Behörden zu informieren.
Sie fuhr nach Burgess Hill und ging zur Bank. Der Mann am Schalter wurde ein wenig bleich, als sie ihm sagte, wie viel Geld sie von ihrem Sparbuch abheben wollte. Er versuchte, sie von alternativen Strategien zu überzeugen, doch sie ließ sich nicht auf eine Diskussion ein und da sie die Vollmacht über das Konto hatte, konnte er auch nicht widersprechen.
Anschließend setzte sie sich in den Zug nach London und als sie angekommen war, gönnte sie sich eine Tasse Tee in einem gemütlichen Café und ein paar Minuten Zeit, um zu überlegen wie sie weiter vorgehen wollte.

Sie brauchte also Hilfe. Das Problem war, sie kannte nicht allzu viele Leute in London. Ryans Eltern wohnten hier, aber so wütend wie der ehemalige Innenminister auf seinen Sohn war, weil der nach Indien abgehauen war, würde er Kathrin wohl kaum behilflich sein.
Edward wohnte ebenfalls hier, Jasons ältester Bruder, der die Familie schon mit achtzehn verlassen und eine enorm erfolgreiche Karriere in einer Londoner Bank absolviert hatte. Im Gegensatz zur restlichen Familie war er während dieser Vergewaltigungsgeschichte ohne jeden Zweifel hinter Jason gestanden. Er hatte kein Wort von den Anschuldigungen geglaubt, ihm einflussreiche Anwälte besorgt und die Kaution bezahlt, die ja nun, wie Kathrin mit einem schmerzvollen Lächeln feststellte, leider hinfällig geworden war.
Edward ging davon aus, Jason sei auf der Flucht und er hätte es sicherlich verdient, von Kathrin genauere Informationen zu erhalten. Sie war sich jedoch nicht ganz sicher, ob er sie bei ihrem Plan unterstützen oder nicht viel eher gleich die Polizei rufen würde. Abgesehen davon wollte sie ihn nicht schon wieder um einen Gefallen bitten. Sie standen schon so sehr in seiner Schuld.

Also blieb ihr nur eine Alternative und die war vielleicht gar nicht die schlechteste. Sie stieg in ein Taxi und als sie dem Fahrer sagte, wo sie hin wollte, „Gerrard Street, ins Wild Flamingo

“, blickte der zunächst ziemlich verblüfft, fuhr dann jedoch kommentarlos in die gewünschte Richtung.
Kathrin war elf gewesen, als sie zum ersten Mal von ihrer Mutter erfahren hatte, die nicht etwa tot war wie ihr Vater der Kriegsheld, sondern einen Nachtclub im Herzen Londons besaß. Sie hatte sich ihr halbes Leben lang unglaublich dafür geschämt, bis sie Anfang des Jahres mit Jason hier gewesen war. Sie hatte festgestellt, an der Lebensweise von Maude Malloy gab es vieles, was einen traurig oder mitleidig stimmen konnte, aber nichts, das einem Angst machen oder wofür man sich schämen musste.

Seitdem war Kathrin zum einen viel selbstbewusster geworden und zum anderen auch Stück für Stück in der Lage, zu ihrer Mutter eine Art Beziehung aufzubauen. Trotzdem war es keine Alltäglichkeit für sie, im Wild Flamingo

vorbeizuschauen, deswegen blickte Billy, der Barmann, ganz genauso wie vorher der Taxifahrer, nur aus anderen Gründen.
„Hi, Billy“, grüßte Kathrin mit einer fröhlichen Stimme, die das kleine bisschen Unsicherheit, das sie immer noch in diesen Räumen verspürte, überspielen sollte. „Ist meine Mutter da?“
„Wo sollte sie sonst wohl sein“, antwortete er, nachdem er sich gefangen hatte und deutete nach hinten.
„Prima. Würdest du mir eine Cola bringen?“ Kathrin lief bereits den Gang entlang in Richtung Maudes Büro.
„Machen wir jetzt allmählich einen auf Juniorchefin?“, murmelte Billy und blickte ihr hinterher.

Maude saß, wo sie immer saß, wenn sie nicht gerade einen Auftritt hatte oder geschäftlich unterwegs war: Hinter dem riesigen Schreibtisch aus Nussbaum in ihrem Büro, mit einen Gin Tonic vor sich und einer elfenbeinernen Zigarettenspitze in der Hand.
Sowohl die Auftritte als auch die auswärtigen Termine waren in der letzten Zeit immer seltener geworden, nicht etwa, weil das Flamingo

nicht lief, sondern weil Maude langsam aber sicher begann, sich aus den Geschäften zurückzuziehen. Sie hatte dem Club so viele Jahre geopfert, war über sämtliche Grenzen gegangen, um ihn aufzubauen und zu halten, und hatte seinetwegen auf unendlich viel verzichtet. Zum Beispiel auf ihre Tochter, die sie bei ihrer Schwiegermutter untergebracht und erst wieder gesehen hatte, als das Kind bereits zwölf gewesen war. Und dann hatte es wieder sieben Jahre gedauert, bis Kathrin ihrer Einladung gefolgt und zusammen mit ihrem Verlobten vorbeigekommen war.

Maude wusste, es hatte keinen Sinn die Vergangenheit zu betrauern und sie war auch nicht der Typ dafür. Doch ein kleines bisschen Wehmut überkam sie jedes Mal, wenn sie ihrer Tochter begegnete, wenn sie sah, was sie aus ihrem Leben gemacht hatte. Medizinstudium an einer Eliteuniversität! Befreundet mit dem Sohn eines einflussreichen Politikers und verlobt mit einem wirklich gut aussehenden Jungen, dessen Familie angeblich eine große Buchhandlung in Guildford besaß. Wobei ihr diese

Geschichte von Anfang an ein bisschen merkwürdig vorgekommen war.

Sie begrüßte Kathrin mit ehrlich empfundener Freude, sie warteten auf die Getränke, plauderten kurz über Allgemeines und unterhielten sich länger über Kathrins Großmutter. Sie hatten sich seit ihrem Tod nicht mehr gesehen. Maude fragte, wie Kathrin zurechtkäme und wollte irgendwann auch wissen, was sie hierher geführt hatte.
„Brauchst du wieder Freikarten, um diesen aufdringlichen und unverschämten Studienkollegen von dir loszuwerden?“
„Nein“, antwortete Kathrin erstaunlich ernst. „Für den brauche ich inzwischen ein anderes Kaliber.“ Maude sah, wie ihre Tochter einen Moment lang in schmerzlicher Erinnerung das Gesicht verzog. Anscheinend hatte sie eine wirklich unangenehme Begegnung mit diesem Kerl gehabt. Dann schüttelte Kathrin die Bilder ab und widmete sich dem aktuellen Problem. „Ich brauche ein Flugticket nach Neu Delhi.“
Weil Maude so erstaunt aussah, ergänzte Kathrin sofort: „Ich bezahle das natürlich selbst, ich weiß nur nicht genau, wie ich es anstellen muss. Du hast doch so viele Kontakte. Und … es sollte möglichst schnell gehen.“

Maude war auch nicht der Typ, der sich leicht aus der Ruhe bringen ließ. Sie holte eine frische Zigarette aus einem hölzernen Kästchen, steckte sie auf die Spitze, zündete sie an und erkundigte sich: „Was willst du um Himmels willen in Indien?“
Kathrin wusste, ohne Erklärungen würde sie nicht weit kommen und versuchte es zunächst mit einem leichten Ton. „Du kennst doch meinen Freund Ryan. Er macht da unten ein Auslandstrimester. Ich wollte ihn besuchten.“
„Aha“, sagte Maude und glaubte ihrer Tochter kein Wort. „Und dein Verlobter bleibt derweil alleine hier, oder wie?“

Die beiden Frauen blickten sich einen langen Augenblick in die Augen. Kathrin seufzte. Sie brauchte so dringend Verbündete. „Mutter …“, begann sie und es war das allererste Mal, dass sie sie so nannte. Maude sagte nichts. Sie wusste, etwas Wichtiges würde folgen.
„Wir haben dich angelogen. Ich bin gar nicht mit Jason verlobt. Und er heißt auch nicht Spencer und wohnt auch nicht bei seinen Onkeln in Guildford. Ich wusste einfach nicht, wie du reagierst, wenn du die Wahrheit erfährst, wir haben uns damals ja überhaupt noch nicht gekannt. Sein Name ist Jason Sullivan. Sein Vater ist einer der größten Industriellen des Landes, ihm gehört diese riesige Firma für Werkzeugteile. Seine Mutter ist mit dem niederländischen Königshaus verwandt. Und er ist der Hauptverdächtige bei dieser Vergewaltigung, von der du in der Zeitung gelesen hast. Aber er hat nichts damit zutun, er hat nur dieses blöde Treffen zwischen Chantal und seinem Bruder arrangiert!“

Und dann, Kathrin wusste gar nicht richtig, wie ihr geschah, sprudelte es aus ihr heraus, all das, was sie in den letzten Wochen so mühevoll zurückgehalten hatte, um Jason zu schützen, Ryan und auch sich selbst. All ihre Ängste, ihre Wut und ihre Sehnsucht.
Sie erzählte die ganze Geschichte, angefangen bei Ryans und Sarahs heimlichem Aufbruch nach Indien und von den Wochen danach, in denen Jason so haltlos gewesen war. Wie es ihn letztendlich dazu getrieben hatte, seinem Bruder Richard diesen idiotischen Streich zu spielen und von den Stunden nach der Vergewaltigung und dem Verhör. Wie es Richard gelungen war, den Verdacht immer mehr auf Jason zu lenken, sodass ihnen am Schluss überhaupt niemand mehr geglaubt hatte. Davon, wie der feige Penbroke seine Chance genutzt und Jason verprügelt hatte. Wie Kathrin ihm zur Hilfe geeilt und mit ihm in das Ferienhaus der Sullivans geflüchtet war.

Maude stellte nur wenige Zwischenfragen. „Woher hattest du bitte einen Revolver?“
Kathrin blickte noch ein wenig schuldbewusster. „Aus deinem Keller. Du hattest damals doch gesagt, ich dürfe nach den Sachen meines Vaters schauen und mir nehmen, was ich möchte. Wir haben seinen Armeerevolver gefunden.“
„Na wunderbar“, seufzte Maude. „Waren vielleicht auch noch ein paar Handgranaten dabei, nur, damit ich vorbereitet bin?“
„Nein, nur der Revolver, seine Fliegerjacke, einige Bücher und das Tagebuch. Tut mir leid …“
„Ach, Schwamm darüber“, rief Maude mit einer entsprechenden Handbewegung und dann runzelte sie die Stirn, als sie sich an etwas erinnerte. „Habe ich nicht neulich in der Zeitung gelesen, in Norfolk ist das Ferienhaus einer bekannten und hochdekorierten Familie aus Surrey abgebrannt?“
Kathrin nickte nur und fuhr fort. „Ja. Ich habe Richard angerufen, damit die beiden die Sache klären. Er hat uns versprochen zur Polizei zu gehen und die Wahrheit zu sagen, ich bin mitgefahren, doch dann … hat er sich umentschieden. Als ich zur Hütte zurückgekommen bin, hat sie gebrannt und Jason war weg.“

Maude blieb trotz dieser schwierigen Geschichte und der vielen Dinge, die Kathrin ihr trotz allem verschwiegen hatte, erstaunlich ruhig. „Und du glaubst, er ist zu seinem Freund nach Indien geflüchtet?“
Kathrin atmete tief ein. „Ich weiß nicht, wo ich sonst suchen soll. Ich glaube, wenn er nicht bei Ryan ist, dann lebt er nicht mehr. Ich könnte Ryan einen Brief schreiben und nachfragen, aber dann dauert es zwei Wochen, bis ich Antwort habe. So lange kann ich nicht warten. Deswegen brauche ich das Ticket.“
Maude nickte, als wäre das eine vollkommen überzeugende Schlussfolgerung und Kathrin dachte bei sich, es hatte durchaus gewisse Vorteile, jemanden wie sie zur Mutter zu haben. „Weißt du denn wenigstens, wo du hin musst, oder willst du das ganze Land nach den beiden absuchen?“

Kathrin schmunzelte. Sie benahm sich zwar gerade ziemlich unvernünftig und möglicherweise ein wenig verrückt, aber ganz so schlimm war es dann doch nicht. Sie holte ihr Notizbuch hervor, zusammen mit einem Brief. „Oh, hier, den habe ich dir in Tasking geschrieben, da wusste ich noch nicht, dass ich noch einmal vorbeikommen würde.“
Maude nahm den Brief, legte ihn aber zunächst zur Seite und betrachtete die Adresse, die Kathrin ihr zeigte. Sie fragte, ob sie wisse, wo genau der angegebene Ort läge. Kathrin verneinte und sie versuchten es mit einem Weltatlas, wurden aber nicht fündig. Maude führte kurzerhand ein Telefonat und sagte mehrmals „Aha“ und „Ja“ und „So ist das also.“ Zum Schluss bat sie: „Dann kümmere dich bitte darum. Bis morgen“ und legte auf.
„Also“, fasste sie das Gespräch für Kathrin zusammen. „Dieser Ort liegt an der Südwestküste in Kerala, eine zurzeit recht angesagte Gegend bei den jungen Leuten. Du brauchst auf jeden Fall einen Anschlussflug nach Trivandrum, sonst bist du viel zu lange unterwegs. Mein Freund Thommy, den ich gerade am Apparat hatte, kümmert sich um alles. Er wird aber ein oder zwei Tage brauchen.“
„Ein oder zwei Tage habe ich Zeit“, sagte Kathrin und spürte, welch große Last ihr von den Schultern genommen wurde. „Vielen Dank, Mutter.“

Kapitel 2




Ryan Abott stand auf der Veranda seiner kleinen Hütte und streckte sich ausgiebig. Seit er hier in diesem indischen Dorf angekommen war, entwickelte er sich zu einem regelrechten Frühaufsteher. Er genoss diese Stille und Frische des aufkommenden Tages aus ganzem Herzen und mit allen Sinnen. Leider hatte er seine Freundin Sarah bisher nicht davon überzeugen können, diese frühen Stunden mit ihm zu teilen, sie schlief wie üblich noch tief und fest, aber das war auch in Ordnung so.
Er machte einige Übungen, die ihm der alte Mann aus dem Dorf gezeigt hatte und die ihm tatsächlich halfen, schneller wach, konzentrierter und irgendwie auch lebendiger zu werden. Anschließend holte er sich von drinnen eine Tasse Tee, lehnte sich an das Geländer und tat für eine ganze Weile nichts anderes, als auf das Meer hinauszuschauen und die Wellen zu beobachten. Zumindest so lange, bis er dabei gestört wurde.
„Ich habe gehört, hier wäre eine Hütte zu vermieten.“

Ryan drehte sich nicht zu der Stimme um, die vom Strand rechts von der Veranda gekommen war. Wahrscheinlich schon wieder einer von diesen ausländischen Touristen. Seit der amerikanische Botschafter diese Gegend hier so ausführlich in seinem öffentlichen Bericht beschrieben hatte, kamen immer mehr von ihnen. Genaugenommen waren er und Sarah ja auch nichts anderes als englische Touristen und auch deswegen hier, weil sie darüber gelesen hatten. Doch diese Verrückten, die hier durchzogen, waren nur auf der Suche nach gutem Ganja oder nach schneller Erleuchtung, meistens nach einer Kombination aus beidem.

Ryan war weder an dem einen noch an dem anderen sonderlich interessiert. Er war auf der Suche nach einem Weg, den er in Zukunft gehen konnte und vor allem nach Ruhe, deswegen wollte er den Kerl, zu dem die Stimme gehörte, auch so schnell wie möglich wieder loswerden, bevor er anfing, noch mehr Fragen zu stellen. Relativ unfreundlich, den Blick immer noch nach vorne gerichtet, entgegnete er: „Probiere es mal weiter unten bei den Amerikanern und Franzosen, die haben glaube ich noch etwas frei. Die Hütte hier nebenan ist schon weg.“
„Schade“, meinte die Stimme. „Mein Kumpel hat sie mir nämlich empfohlen.“

Ryan erstarrte. Hätte er seine Tasse nicht sowieso gerade auf dem breiten Geländer abgestellt, wäre sie ihm wahrscheinlich aus der Hand gerutscht. Langsam, als würde er sich nicht recht trauen, drehte er den Kopf und schaute nach unten. Als seine Augen bestätigten, was seine Ohren und sein Herz vermutet hatten, war er mit einem einzigen Satz unten auf dem Strand. „Jason!“, rief er. „Ich habe gewusst, du wirst kommen!“
Er umarmte ihn stürmisch und hätte ihn am liebsten ein Stück in die Luft gehoben. Jason konnte ihn nicht schnell genug bremsen. „Vorsicht“, schaffte er gerade noch auszurufen und war die nächsten Sekunden damit beschäftigt, nicht vor Schmerzen aufzuschreien.
Ryan wich erschrocken zurück, schaute genauer hin und was er sah, erschütterte ihn. Jason hatte eine kaum verheilte Platzwunde über dem Auge und einen bösen Kratzer im Gesicht und sah aus, als ob er seit Wochen nicht richtig geschlafen hätte. „Verdammt, Jason, was ist passiert, bist du mit einer indischen Kuh aneinandergeraten?“
Jason versuchte gleichzeitig, wieder Luft zu bekommen und zu grinsen. „Eher mit einem nordenglischen Bullen“, presste er hervor.
Ryan stutzte und überlegte einen Moment. „Penbroke?“, fragte er zweifelnd und wollte es fast nicht glauben, als Jason nickend bestätigte.

Penbroke war nichts als ein dummer und grobschlächtiger Blender, der sich nur in der Gruppe stark fühlte. Er war ihnen in Tasking ziemlich auf den Geist gegangen, sie hatten jedoch nur einmal ernstere Probleme mit ihm gehabt, als er versucht hatte, sich an Kathrin für ihre Ohrfeige zu rächen. Diesen Spieß hatten sie schnell umgedreht.
Ryan hätte nie im Leben von Penbroke erwartet, er würde sich trauen, Jason direkt anzugehen. Etwas musste passiert sein, etwas, das ihm diesen Auftrieb gegeben hatte. Doch eigentlich wollte Ryan jetzt nicht über Penbroke oder Tasking oder England nachdenken. Er wollte sich einfach nur freuen, weil sein bester Freund tatsächlich hergekommen war. Er hatte es sich so sehr gewünscht.
„Komm schon, setze dich erst einmal hin“, sagte er und half ihm die paar Schritte zu den Stufen der Veranda. Jason setzte sich in die Mitte, Ryan ging an ihm vorbei nach oben. „Ich hole dir ein Glas Wasser. Sarah! Sarah, du musst aufwachen, Jason ist hier!“

Er kam wieder nach draußen, stellte ihm das Glas hin und schaute aufgrund der vorherigen Szene kritisch auf die Players

, die Jason im Begriff war, sich anzuzünden. Der bemerkte seinen Blick. „Hey, ich habe keine Lungenentzündung, das sind nur angeknackste Rippen, okay? Nicht einmal die beste Ärztin der Welt hat mir verboten, zu rauchen.“
Ryan lächelte. „Kathrin. Wo steckt sie? Wie geht es ihr?“
„In Tasking. Ich denke, ihr geht es gut.“
Das kam schnell, kurz und mit abgewendetem Blick und Ryans Sorgen vergrößerten sich eher noch. Doch er lenkte auch jetzt in eine andere Richtung, stand auf und rief noch einmal: „Sarah, hey, wir haben Besuch, komm doch mal bitte.“

Sarah kam tatsächlich nach einem Moment aus der Hütte und gähnte herzhaft. Sie sah noch furchtbar verschlafen aus und begrüßte Jason mit einem Lächeln, einem Händedruck und einem knappen „Hi Jason, schön, dass du da bist, Ryan hat so darauf gehofft.“
Jason kniff kurz die Augen zusammen. Er kannte Sarah als ausgesprochen lebenslustige und impulsive junge Frau und hätte viel eher damit gerechnet, sie

von einer stürmischen Begrüßung abhalten zu müssen als Ryan. Vielleicht war sie hier unten ja auch ein wenig zur Ruhe gekommen.
„Dann mache ich uns mal Frühstück“, erklärte sie eifriger und ging sofort wieder nach drinnen.

Auch Ryans Gesichtsausdruck blieb skeptisch, doch das hatte nichts mit Sarah zu tun. Ihm war gerade noch etwas anderes aufgefallen. Zögernd begann er: „Sag mal, Kumpel, man vergisst hier unten ja relativ leicht die Zeit, aber heute müsste der Dreiundzwanzigste sein, oder nicht? Das bedeutet zum einen, du wirst erst in vier Tagen volljährig und zum anderen, in Tasking sind noch Vorlesungen. Die Prüfungen fangen doch erst in der ersten Juliwoche an.“
„Und?“, fragte Jason knapp.
„Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, du hast dich offiziell beurlauben lassen. Deine Eltern hätten da niemals mitgespielt. Und du lässt auch nicht einfach dein Studium sausen. Also frage ich mich: Was tust du hier? Warum hast du so komisch reagiert, als ich nach Kathrin gefragt habe? Und warum zum Teufel lässt du dich von Penbroke verprügeln?“

Ryan hatte nicht vorgehabt, so deutlich zu werden, doch er war froh, als es erst einmal ausgesprochen war. Jason schaute ihn eine Weile nur an, dann seufzte er. „Ryan, ich habe eine ziemliche Odyssee hinter mir und bin wirklich am Limit. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne erst einmal ankommen und ein paar Tage ausruhen. Ich werde dir schon erzählen, was passiert ist. Deswegen bin ich doch hier, verdammt.“
Jetzt war es an Ryan, einen Moment zu zögern, dann nickte er mit einem kurzen Lächeln und nahm sich eine von Jasons Players

. Die erste Zigarette, die er seit Wochen rauchte. Minutenlang saßen sie einfach nur da, schauten aufs Meer, und als Jason wieder etwas sagte, klang seine Stimme entspannter. Um nicht zu sagen, ironisch. „Aber ganz ehrlich, ein bisschen enttäuscht bin ich schon, weil die andere Hütte vermietet ist. Du hast sie so angepriesen in deinem Brief.“

Ryan stand kommentarlos auf, verschwand für einen Moment im Inneren und kam mit einem Schlüssel zurück, den er Jason mit einem unverschämten Grinsen reichte. „Deswegen habe ich sie auch selbst gemietet. Willkommen am schönsten Strand der Welt.“
Jason nahm zwar den Schlüssel, doch seine Augen wurden erneut schmal, weil er es nicht verstand. Ryan kratzte sich verlegen am Kopf . „Na ja, ich wollte mir meine Nachbarn eben selbst aussuchen. Außerdem, du wirst sehen, die Dinger sind unglaublich klein, ich habe gedacht, falls wir wirklich einmal Besuch bekommen, brauchen wir unbedingt ein Gästezimmer.“
Jason nickte, als hätte er tiefstes Verständnis. „Klar. Du hast bestimmt mit Unmengen von Besuch gerechnet. Vor allem, weil Kathrin und ich die einzigen sind, die eure Adresse haben.“

****



Kathrin stand am Flughafen Heathrow, neben ihr Thommy, der Bekannte ihrer Mutter, der viel jünger und viel netter war, als sie erwartet hatte. Bezogen auf das etwas konspirative Telefonat, das Maude mit ihm geführt hatte, hatte sie sich so etwas wie einen Mafiosi vorgestellt, oder zumindest einen zwielichtigen Kerl, der auf dem Schwarzmarkt und in der Unterwelt zu Hause war. Thommy machte aber überhaupt nicht den Eindruck, als ob er mit dem einen oder dem anderen etwas zu tun hätte.

Kathrin hatte den restlichen Tag bei ihrer Mutter verbracht, sie hatten sich erstaunlich gut unterhalten und abends hatte sie sie zum Essen in ein wirklich hübsches Restaurant eingeladen. Sie erwartete, Maude würde noch einmal nachfragen, ob Kathrin nicht doch ihren Club übernehmen wolle, so wie sie es schon im Januar zu ihrem Entsetzen und zu Jasons Erheiterung getan hatte. Sie verlor jedoch kein Wort darüber, erzählte nur von einer Reise nach Paris, die sie für den Herbst geplant hatte. „Möchtest du vielleicht mitkommen?“, wollte sie sogar wissen.
Kathrin freute sich über das Angebot, doch sie lehnte ab. „Im Herbst bin ich wieder in Tasking und setze mein Studium fort.“ Zumindest war es das, wovon sie ausging, was sie hoffte und auch fest vorhatte. Sie war sich ziemlich sicher, wenn sie diese verrückte Sache hier hinter sich hatte, würde sie erst einmal genug vom Reisen haben.

Am nächsten Abend war Thommy im Wild Flamingo

vorbeigekommen, mit den Tickets für Flug und Anschlussflug und sogar einer Buchung für ein günstiges Hotel in Delhi, in dem sie die eineinhalb Tage Aufenthalt verbringen konnte. Kathrin hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie erleichtert und dankbar sie war, hatte ihr Sparbuch, genauer die Scheine, die sie davon abgehoben hatte, hervorgeholt und gefragt, was sie ihm schuldete.
Er hatte nach einem kurzen Blick zu Maude abgewunken. Als Kathrin sich protestierend an sie wendete, hatte sie ihre Tochter unterbrochen. „Es ist in Ordnung, Kathrin. Nimm es als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Und rechne die anderen neunzehn dazu, die du noch nicht bekommen hast.“
Kathrin war weder reich noch stolz genug, um ernsthaft zu widersprechen.

Am Mittwochmorgen hatte Thommy sie zum Flughafen gebracht und ihr noch einmal genau erklärt, was sie hier und in Delhi alles zu tun hatte. Als sie die Gangway hinauflief, sah sie dem Fliegen an sich zwar noch mit gemischten Gefühlen, ihrer gesamten Reise aber schon sehr viel gelassener entgegen.

****



Ryan und Jason waren hinübergegangen und hatten die Hütte inspiziert. Ryan hatte nicht übertrieben: Sie war winzig und bestand nur aus einem Raum mit einem Tisch, zwei Stühlen und einem schmalen Sofa. An der Seite standen eine Anrichte, ein Schrank mit Küchenutensilien und ein zweiflammiger Kocher mit Gasflasche. Rechts war ein Schlafbereich mit Paravents und einem Vorhang abgetrennt, das Bett konnte man kaum als solches bezeichnen. Ryan erklärte, Wasser mussten sie im Dorf am Brunnen holen, dort gab es auch ein Waschhaus.
Jason war vollkommen zufrieden. Im Grunde entsprach die Hütte in Ausmaß und Komfort dem, was sie im Internat in Oakfield jahrelang ertragen hatten. Mit einen Unterschied: Das Essen würde hier erheblich besser sein.

Sarah hatte ein ausgiebiges Frühstück vorbereitet und sie ließen sich Zeit beim Essen. So wie Jason zulangte, hatte er das eine wie das andere schon seit Längerem nicht mehr gehabt. Da er keine Lust zum Reden hatte, jedoch gerne bereit war, zuzuhören, berichtete vor allem Ryan von seinen und Sarahs Erlebnissen in Indien.
Von ihrer Ankunft, den ersten Tagen in Neu Delhi und wie sie so schnell wie möglich die Stadt hinter sich gelassen hatten. Mit Zug, Bus und anderen, noch abenteuerlichen Fahrzeugen waren sie die Küste entlang gereist, bis sie dieses Dorf entdeckt hatten. Da die Regenzeit noch nicht zu Ende war, stand alles in voller Blüte, Ryan hatte den Strand gesehen und das überwältigende Gefühl gehabt, angekommen zu sein.
Sarah wäre gerne noch weiter gereist, doch sie hatte sich schnell mit den Franzosen und Amerikanern angefreundet, die in den anderen Hütten weiter unten am Strand lebten. Außerdem gab es in diesem Dorf einen Arzt, der gut Englisch sprach und ayurvedische Medizin praktizierte, was für sie als Medizinstudentin natürlich ausgesprochen interessant war.

Je länger Jason auf Ryans Veranda saß, desto mehr fiel die Anspannung von ihm ab und desto deutlicher spürte er die unglaubliche Müdigkeit, die sich dahinter angestaut hatte. Er hatte seit Wochen viel zu wenig Schlaf bekommen und viel zu viele Dinge erlebt, die ihn an seine Grenzen und weit darüber hinaus gebracht hatten. Da er ähnlich wie Ryan das Gefühl hatte, zumindest fürs Erste angekommen zu sein, begann sein Körper immer massiver einzufordern, was er ihm so lange vorenthalten hatte.
Er wollte jedoch nicht unhöflich sein und er wollte vor allem so viel Zeit wie möglich mit Ryan verbringen. Bis zum frühen Nachmittag hielt er durch, dann döste er quasi im Sitzen weg und Ryan hatte ein Einsehen. „Weißt du was, Kumpel? Du gehst jetzt hinüber in deine Hütte und haust dich aufs Ohr, am Besten schläfst du bis morgen durch. Wir haben alle Zeit der Welt.“
„Das ist wirklich gut zu wissen“, murmelte Jason und stand auf, versuchte es zumindest. Ihm wurde so schwindelig dabei, er musste sich an einem der Pfosten festhalten.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Ryan besorgt.
„Ja, geht schon. Ich bin einfach nur hundemüde“, versuchte Jason zu beschwichtigen. „Wecke mich morgen früh, wenn du nichts hörst.“

Er schaffte es kaum die Stufen hinunter, geschweige denn seine eigenen wieder hinauf, doch er riss sich zusammen, bis er in seiner Hütte angekommen war. Die Schuhe zog er sich noch aus, bevor er sich auf die Pritsche fallen ließ. Für alles andere hatte er keine Kraft mehr.
Ryan ließ ihn bis weit in den nächsten Mittag hinein in Ruhe, als sich in seiner Hütte dann immer noch nichts rührte, beschloss er, nach ihm zu schauen. Er ging hinüber, betrat den großen Raum und rief: „Hey, Kumpel, Frühstück ist fertig, besser gesagt Mittagessen.“
Er hörte ein Stöhnen, das beinahe so klang wie Jasons übliches, unwilliges „Lass mich gefälligst noch schlafen.“ Aber eben nur beinahe. Ryan ging nach hinten in den Schlafbereich. Jason lag auf dem Bauch, den Kopf auf der Seite, die Arme ausgebreitet, ohne Decke, dafür in Hemd und Hose. Ryan konnte dunkle Schweißflecken auf seinem Rücken erkennen.
„Ich hätte dir vorher sagen können, das wird zu warm“, meinte er, kniete sich vor das Bett und fasste Jason an der Schulter, um ihn zu wecken. Er war eiskalt. Seine Augäpfel rasten hinter den nicht ganz geschlossenen Lidern. Er stöhnte erneut unter Ryans Berührung. Der begann, ihn zu schütteln. „Jason! Komm schon, wach auf, was ist los mit dir?“
Als Jason nicht reagierte, ließ er ihn los, ging in den Hauptraum und beugte sich weit aus dem Fenster. „Sarah, ich brauche dich hier. Schnell!“

****



Am zweiten Juli, sechs Tage, nachdem sie sich von Tasking aus auf den Weg gemacht hatte, sechs Tage nach Jasons Geburtstag, kam Kathrin an ihrem Ziel an und war zu gleichen Teilen stolz, erschöpft und ziemlich nervös. Sie hatte, seit sie in Neu Delhi gelandet war, unglaublich viele neue Erfahrungen gemacht. Sie hatte gelernt, man konnte Neunstundenflüge durchaus überstehen, doch sie machten alles andere als Spaß. Sie hatte entdeckt, in welch atemberaubenden Land sie sich befand, das in jeder Sekunde neue Eindrücke und Überraschungen parat hielt. Es waren so viele, vor allem in den Städten, ihr Verstand musste einiges einfach ausblenden. Und sie hatte festgestellt, es gab quasi als Gegensatz zu dem rasanten Treiben eine Form der Gemütlichkeit, um nicht zu sagen der Gleichgültigkeit, die sie, da sie die Dinge so gerne plante und im Griff hatte, schier verrückt machte.

Bis nach Trivandrum war sie ohne große Verzögerung gekommen, hatte sich nach Bussen erkundigt und am späten Nachmittag eine Verbindung in eine kleinere Stadt bekommen, die Ryans Dorf recht nahe lag. Und dort war sie erst einmal fest gesessen. Ja, es gäbe einen Bus, nein heute nicht mehr, vielleicht morgen.
„Vielleicht morgen? Was soll das heißen, vielleicht?“
„Nun, es ist Regenzeit, manche Straßen sind im Moment nicht passierbar, da weiß man nie genau, wann die Busse fahren können. Am Besten erkundigen Sie sich morgen früh noch einmal, Madam.“
Sie hatte die Nacht wie auf heißen Kohlen verbracht und sich angesichts des verregneten Wetters, das angeblich jeden Tag besser wurde, gefragt, warum sie England überhaupt verlassen hatte.

Als der Bus dann endlich kam und sie ohne weitere Verzögerung an ihr Ziel brachte, wurde das alles vollkommen belanglos. Sie stand auf dem Dorfplatz und schaute sich zur Orientierung erst einmal um. Der Ort war größer, als sie angenommen hatte, es gab einige Läden und relativ viele Häuser. Sie wusste nur, Ryans Hütte lag irgendwo am Strand und wollte sich als nächstes nach dem Weg erkundigen, sie hoffte, die Menschen hier würden genauso gut Englisch sprechen wie in den Städten.

Plötzlich erblickte sie einige Amerikanisch sprechende junge Leute mit bunter Kleidung und verwegenen Frisuren, die auf sie zu kamen und sie erschreckend distanzlos begrüßten, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen.
„Hey, wo kommst du denn her, das ist ja voll nett, dich zu treffen. Hier ist ein wirklich schöner Fleck, noch nicht so überlaufen, hast du Lust, in unserem Camp zu wohnen?“
„Ähm, danke, aber ich bin eigentlich auf der Suche nach zwei Freunden von mir, wisst ihr vielleicht, wo ich sie finde? Sie heißen Ryan Abott und Sarah Thomas.“
„Ach“, erwiderte eines der amerikanischen Mädchen, „sie meint die Engländer, Sarah und ihren langweiligen Freund. Die beiden wohnen ein Stück weiter oben, du musst die Straße entlang bis zum Brunnen und dann rechts hinunter zum Strand, da steht ihre Hütte.“
Kathrin stellte zögernd eine weitere Frage: „Du hast gesagt, ‚die beiden’. Sind sie denn nicht zu dritt?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Also ich habe immer nur Sarah und ihren Freund gesehen.“
Auch die anderen wussten nichts von einem dritten Engländer. Kathrin seufzte, bedankte sich und machte sich auf den Weg in die angegebene Richtung.
Am Brunnen bog sie ab und blickte einen Moment in das Fenster einer der Läden, weil sie wissen wollte, was es dort zu kaufen gab. Vielleicht auch, um noch ein bisschen Zeit zu gewinnen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, herzukommen, es hatte ihr gar nicht schnell genug gehen können. Doch jetzt, wo sie kurz davor war, endlich Antworten zu kriegen, hatte sie eine unglaubliche Angst, es könnten die falschen sein.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen weiteren Ausländer, der aus der Tür des Ladens kam. Er trug Sandalen, Leinenhose und ein kurzes Hemd, hatte braun gebrannte Haut und von der Sonne ausgebleichtes Haar.
„Kathrin?“, hörte sie ihn ungläubig fragen.
Sie wandte sich um und ihre Augen wurden groß. „Ryan!“, rief sie begeistert, ging zu ihm, schloss ihn in ihre Arme und schien ihn überhaupt nicht mehr loslassen zu wollen.
Ryan drückte sie seinerseits voller Herzlichkeit. „Kathrin, das ist unglaublich, dich hier zu sehen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe!“
„Und ich erst“, lachte sie und zögerte einen winzigen Moment. Sie wollte, sie musste sofort die eine, alles bedeutende Frage stellen. Doch sie traute sich nicht, vielleicht, weil ihr die Antwort der Amerikaner so wenig Hoffnung gemacht hatte. Stattdessen fragte sie: „Wo ist Sarah?“
In Ryans Gesicht zuckte es, doch seine Stimme klang entspannt. „Sie ist mit den Franzosen, die hier wohnen, nach Calicut gefahren. Da findet zurzeit ein großes Fest statt, das sie sich ansehen wollte. Aber lass uns das alles in Ruhe besprechen. Ich habe gerade etwas fürs Abendessen besorgt, wir müssen nur noch den Wasserkanister vollmachen. Dann zeige ich dir die Hütte, wenn du willst.“

Sie gingen noch einmal zurück an den Brunnen und Ryan füllte den Kanister. Sie waren beide voll bepackt, als sie sich auf den Weg machen, trotzdem wollte Ryan höflich sein und ihr auch noch die Tasche abnehmen.
Sie verweigerte das natürlich und bestand im Gegenzug darauf, wenigstens eine der Tüten zu tragen und so stritten und balgten sie sich beinahe um ihre Lasten, bis sie unten am Strand angekommen waren und Kathrin einen ersten Blick auf die beiden Hütten werfen konnte.
Sie sahen bis ins Detail so aus, wie Kathrin sie sich nach den Beschreibungen in Ryans Brief vorgestellt hatte. Er führte sie um die linke Hütte herum und sagte spöttisch: „Willkommen in unserem bescheidenen Heim.“

Kathrin lächelte ihn an und gerade als sie im Begriff war, der Einladung seines ausgestreckten Armes zu folgen und die Stufen hochzusteigen, nahm sie bei der anderen Hütte eine Bewegung wahr. Jason kam auf die Veranda hinaus. Er hatte ein Glas Wasser in der Hand, trug ebenfalls eine helle, halblange Leinenhose, hatte den Oberkörper frei und war barfüßig. Er warf einen langen und weiten Blick über das Meer und trank einen Schluck. Die ganze Szene hätte ein perfektes Foto für einen Werbeprospekt abgeben können, wenn er nicht so schrecklich dünn und bleich und ausgemergelt gewesen wäre.

Kathrin hatte sich nicht gerührt. Jason drehte den Kopf und entdeckte sie. Wie in Zeitlupe stellte er sein Glas ab und kam die Stufen hinunter.
Kathrin wollte nicht warten, bis er bei ihr angelangt war. Sie spürte nichts mehr von der Angst und der Sehnsucht, die sie hierher getrieben hatten. Das einzige, was sie in diesem Augenblick spürte, war maßloser Zorn, weil er sein Wort gebrochen, sie belogen und allein gelassen hatte. Sie ignorierte die beiden Tränen, die ihr über die Wange liefen, ließ ihre Tasche achtlos in den Sand fallen, stapfte hinüber zu ihm und gab ihm, kaum bei ihm angekommen, eine schallende Ohrfeige. „Ich hasse dich!“, rief sie mit anklagend erhobenem Finger.

Jason rührte sich nicht und verzog keine Miene, was ihre Wut nur steigerte. Und das, was er dann mit ruhiger Stimme sagte, steigerte sie noch viel mehr. „Tust du nicht. Du wärst nicht um die halbe Welt geflogen, nur um mir das zu sagen.“
„Oh!“, machte sie fassungslos und ging erneut auf ihn zu. Er rechnete damit, eine weitere Ohrfeige zu kassieren, doch sie stieß ihn nur unsanft aus dem Weg und lief zum Wasser hinunter. Er folgte ihr ein Stück und hielt sich dann an einem der Boote fest, die auf den Strand hochgezogen waren. Er rief: „Kay! Ich habe gerade sowieso keine Chance, dich einzuholen, also würdest du bitte warten?“

Sie tat ihm den Gefallen, kam allerdings nicht zurück, sondern blieb einfach stehen und schaute mit verschränkten Armen überall hin, nur nicht zu ihm. Er seufzte und ging langsam zu ihr hinüber. Als er bei ihr angelangt war, drehte sie sich zu ihm um und aus ihren Augen sprühte immer noch die Wut. „Hast du euer Ferienhaus angezündet?“, fragte sie schroff.
Jason hatte damit gerechnet, sie würde viele Fragen haben. Nicht jedoch damit, wie unvermittelt und jenseits aller Höflichkeit sie zur Sache kam. Er hatte in den letzten Tagen wahrlich genug mit der Vergangenheit zu kämpfen gehabt und sich noch nicht annähernd davon erholt. Seine Augen verengten sich ein wenig, doch er blieb ruhig und nickte einfach nur.
„Und warum?“, hakte sie im selben Ton nach.
Jason seufzte. „Das ist ziemlich schwer in einem Satz zu erklären.“
„Mach dir keine Sorgen“, erwiderte Kathrin zynisch. „Ich habe gut drei Monate Zeit, da passen viele Sätze hinein.“

Er schwieg und Kathrin wurde sich so langsam bewusst, wie sie sich benahm. Auf diese Art würde sie bei Jason sowieso nicht weit kommen. Außerdem meldeten sich jetzt, da sie ihren gröbsten Ärger losgeworden war, eine ganze Menge andere Gefühle zu Wort. Immer noch vorwurfsvoll, jedoch kopfschüttelnd und mit einer Spur von Resignation, fragte sie: „Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast?“
„Weil ich nicht wollte, dass du lügen musst. Und weil du sonst nicht mit Richard mitgefahren wärst.“
Kathrin blickte ihn direkt an. „Du wusstest, er würde zu feige sein, um die Wahrheit zu sagen?“
Jason hob die Schultern. Gewusst hatte er es nicht, zumindest nicht bis zu diesem Moment. „Ich habe damit gerechnet, ja. Auch wenn ich die kleine Hoffnung hatte, er würde sich dir zuliebe dazu durchringen.“
„Ach komm, Jason“, rief Kathrin, hob in einer hilflosen Geste die Arme und spürte, wie die Wut erneut aufflammte. „Das war doch nicht der Grund, aus dem du mich gebeten hast, mit ihm zu fahren. Du wolltest mich aus dem Weg haben, damit du dein kleines Feuerwerk veranstalten kannst!“
Sie brach ab, machte einige Schritte und fuhr fort: „Ich habe gedacht, du wärst tot, verdammt! Du hättest mir wenigstens einen Hinweis geben können!“
„Ich dachte, das hätte ich“, sagte er mit einer Stimme, die unverändert ruhig und ein kleines bisschen traurig klang.
Kathrins klang laut und wütend. „Du meinst die Initialen? Das war wirklich eine tolle Idee! Jason Sullivan fackelt das Ferienhaus seiner Eltern ab und verschwindet spurlos – selbstverständlich ist das Erste, was ich mache, nachzusehen, ob er mir irgendwelche Botschaften in den Baum seiner Familie geritzt hat. Ich habe zwei Wochen gebraucht, bis ich es entdeckt habe!“

Jasons Blick und Ruhe veränderten sich nicht. Wie meistens bei einem ihrer Gefühlsausbrüche stand er einfach da und wartete ab. Und obwohl Kathrin liebend gerne weiter diskutiert und geschrien und wütend angeklagt hätte, wurde auch sie nach und nach ruhiger.
Sie standen voreinander, Kathrin betrachtete ihn und hatte das deutliche Gefühl, etwas in dieser ganzen Szene fehlte. Als ihr klar wurde, was es war, musste sie lächeln. Sie hatten sich noch nicht einmal Zeit für ihr Ritual genommen. Gut, vor zehn Minuten hätte sie beim besten Willen auch keine Lust dazu gehabt und ihn wahrscheinlich ausgelacht, wenn er damit angefangen hätte. Aber so langsam wurde es Zeit dafür.
„Hast du Zigaretten?“, wollte sie wissen.

Jason registrierte erleichtert, wie sich ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck veränderten. Ihm war bewusst, dies war erst der Anfang, sie würde noch unendlich viele Fragen und eine Menge Vorwürfe an ihn haben. Ihm war jedoch ebenfalls bewusst, sie hatten eine Chance, alles zu klären und daran hatte er in den letzten Wochen mehr als einmal gezweifelt. Nicht erst heute, nicht erst gerade eben, als er sich für den Bruchteil einer Sekunde gefragt hatte, ob sie ihren ersten Satz vielleicht doch ernst gemeint hatte. Ob er tatsächlich zu weit gegangen war, sie zu sehr enttäuscht hatte.
„Drüben in der Hütte“, antwortete er mit einer entsprechenden Kopfbewegung.
Er hörte, wie sie tief durchatmete. „Gut“, sagte sie. „Gehen wir hinüber?“

Sie hatte schon die ersten Schritte gemacht, war schon beinahe an ihm vorbei, als er seine Hand nach ihr ausstreckte und gerade noch ihre Fingerspitzen erwischte. „Kay?“
Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. Er brauchte einen Moment, bis er sie ansehen konnte. „Genau das sollte eigentlich nicht passieren. Ich wollte nicht, dass du herkommst. Ich habe gehofft, sie lassen dich endlich in Ruhe und hören auf, dir dummen Fragen zu stellen, damit du wieder studieren kannst und mit dieser ganzen miesen Geschichte nichts mehr zu tun haben musst.“
Er zögerte, dann ergänzte er: „Aber ich bin wahnsinnig froh, dass du hier bist.“
Kathrin hatte sich geschworen, auf keinen Fall zu weinen, falls sie Jason tatsächlich finden würde, doch darum scherten sich ihre Tränen jetzt nicht mehr. Als sie ihn umarmte und festhielt, länger, aber vorsichtiger als vorher Ryan, weil sie um Jasons Verletzung wusste, da dachte sie bei sich: ‚Glaube bloß nicht, ich würde dich jemals wieder loslassen!’

Kapitel 3




Arm in Arm gingen sie zu den Hütten, Kathrin, weil sie ihn nicht loslassen wollte und Jason, weil er die Unterstützung beim Laufen gut gebrauchten konnte. Ryan saß auf seiner Veranda, er hatte Stühle, Getränke, Zigaretten und einen kleinen Imbiss bereitgestellt. Aus der Hütte drang der Geruch von Reis, Gemüse und exotischen Gewürzen, offenbar köchelte schon etwas auf dem Herd. „Oder wollt ihr alleine sein?“, erkundigte er sich, noch bevor sie die Stufen hinaufgekommen waren.
Jason schaute zu Kathrin, er würde sich nach ihr richten, sie erklärte sofort: „Quatsch, um dich habe ich mir zwar nicht so viele Sorgen gemacht, aber ich habe dich genauso vermisst, und vor allem viel länger.“
Sie setzte sich auf einen der Stühle, wartete, bis Jason ebenfalls soweit war und schaute ihn auffordernd an. Er runzelte kurz die Stirn, sagte: „Oh, Verzeihung“, nahm sich die Players

und zündete ihr eine Zigarette an.

Ryans Lächeln war strahlend und aufrichtig. Er fand es sehr schade, weil Sarah nicht hier war, doch sie würde morgen oder übermorgen wiederkommen. Und dann wären endlich die drei Menschen, die ihm am meisten am Herzen lagen, mit ihm am schönsten und heilsamsten Ort versammelt, den er kannte.
Er war gespannt, welche Neuigkeiten Kathrin berichten würde, denn alles, was er bisher über die Ereignisse zu Hause erfahren hatte, beunruhigte und verwirrte ihn gleichermaßen. Gemessen an dem, was Jason und er in der vergangenen Woche zusammen durchgemacht hatten, gab es jedoch nur wenig, was ihn noch erschüttern konnte.
Sie würden sich erholen, sie würden an diesem Ort genügend Kraft und Lösungen für ihre Probleme zu Hause finden. Doch jetzt waren sie hier, wie Kathrin immer so schön sagte. Er betrachtete sie einen Moment, auch sie sah alles andere als entspannt und erholt aus. Kein Wunder bei den Ängsten, die sie ausgestanden haben musste. Er war so froh, beinahe stolz, weil sie hergekommen war. Sie war nicht nur eine gute Freundin, er hatte sie einmal als seinen zweitbesten Kumpel bezeichnet. Und das war viel, viel mehr als einfach nur eine Freundin.

Jetzt nahm sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und sagte mit ihrer ruhigen Komm-bloß-nicht-auf-die-Idee-mir-zu-widersprechen-Stimme zu Jason: „Ich möchte wissen, was du gemacht hast, und zwar ab dem Moment, wo ich zu Richard in den Wagen gestiegen bin bis zu dem Augenblick, wo du hier aus der Hütte gekommen bist.“
Sowohl Jason als auch Ryan schmunzelten und stellten jeder für sich fest, wie sehr sie diese Stimme vermisst hatten. Jason blickte sie an. „Wenn du drei Monate Zeit hast, müssten wir das hinkriegen. Was willst du zuerst wissen?“

Alles auf einmal und am Besten sofort. So viele Fragen brannten ihr auf der Seele. Die meisten schon seit Wochen. Eine erst seit wenigen Minuten.
Jason hatte schlimm ausgesehen an dem Abend, als Penbroke ihn in der Mangel gehabt hatte. Sie hatte sich um seine Verletzungen gekümmert und seinen Brustkorb untersucht. Sie war sich sicher, zu diesem Zeitpunkt, vor knapp drei Wochen, hatte er noch einige Kilo mehr auf den Rippen. Und diese Schwäche, vorhin beim Laufen, konnte nicht mehr von der Schlägerei herrühren. War er krank gewesen? Irgendetwas war passiert. Doch sie ahnte, dies war nicht das richtige Thema zum Einstieg.
„Wie lange bist du schon hier?“, fragte sie stattdessen.
„Lass mich nachdenken … zehn Tage, oder?“ Er schaute zu Ryan, der nickte bestätigend.
„Erst?“, hakte Kathrin verblüfft nach. „Der Brand war schon vor drei Wochen. Wo warst du in der Zwischenzeit?“
Jason blickte sie schmunzelnd an. „Zuerst war ich ein Geist.“
Ryan lächelte auch, er kannte die Geschichte offenbar schon. Jason nahm sich noch eine Zigarette und begann zu erzählen.

****



Dass sein glorreicher Plan so einige Fehler aufwies, hatte er bereits nach kürzester Zeit feststellen müssen. Es begann schon mit dem Vorsatz, möglichst zügig die Kanister aus dem Schuppen zu holen und das Benzin im Haus zu verteilen. Er konnte kaum laufen und den linken Arm nicht heben, deswegen war von „zügig“ keine Rede und wenn Maggie gehört hätte, wie er beim Schleppen und Zerren geflucht hatte, wäre sie entsetzt gewesen.
Doch er hatte sich durchgebissen und als er vor dem Haus gestanden war, das Sturmfeuerzeug in der einen, die Flasche mit dem benzingetränkten Lappen in der anderen Hand, da hatte er nicht mehr gezögert. Er hatte den Lappen angezündet und die Flasche durch die offene Tür geworfen, war zum Wagen gelaufen und losgefahren, ohne sich noch einmal umzudrehen.

****



„Apropos“, unterbrach Kathrin. „Wo ist eigentlich der Jaguar?“
Jason seufzte. „Gut versteckt, aber da komme ich gleich noch zu.“
„Und die Jacke und der Revolver?“
Jason schaute sie nur an. „Soll ich jetzt erzählen oder nicht?“
„Ist ja gut, mach weiter.“

****



Er trug immer noch die Fliegerjacke von Kathrins Vater. Er wusste selbst, eigentlich war sie ihm ein Stück zu groß, aber er fror in dieser Nacht und auf eine gewisse Art vermittelte sie ihm immer, wenn er sie anhatte, ein Gefühl von Stärke. Als würde etwas von Harold McEvans, diesem Kriegshelden, diesem höllisch guten Flieger, auf ihn abfärben.
Den Revolver hatte er unter dem Sitz verstaut, sein ledernes Notizbuch lag neben ihm und als er einen kurzen Blick darauf warf, wurde ihm der zweite Fehler bewusst, den er gemacht hatte. Er hielt kurz an, um sicher zu gehen. Ryans Brief mit seiner Adresse in Indien lag nicht in Jasons Buch, er lag auf dem Schreibtisch in seinem Zimmer in Tasking.
Wenige Stunden zuvor hatte Jason ihn beim Aufräumen noch in der Hand gehabt. Er ärgerte sich maßlos und schlug wütend auf das Lenkrad. Weil er sich so sicher gewesen war, ihn eingesteckt zu haben und noch mehr, weil er ihn normalerweise gar nicht gebraucht hätte. Er hatte sich die Adresse schließlich angeschaut und das hätte in besseren Zeiten für ihn gereicht, um sie sich zu merken. Den Bundesstaat wusste er noch, aber Kerala war ein bisschen zu groß, um sich auf gut Glück auf die Suche zu machen.
Also musste er zurück nach Tasking und den Brief holen. Im Prinzip kein großer Umweg, er kam sowieso daran vorbei, wenn er zur Autobahn wollte, aber es war ein Risiko, das er gerne vermieden hätte.
Als er seinen Entschluss gefasst hatte, versuchte er, sich aufs Fahren zu konzentrieren. Er war langsam unterwegs, weil seine Rippen jedes Mal, wenn er schalten und den linken Arm bewegen musste, protestierten, und er nahm die Nebenstraßen, weil er niemandem begegnen wollte.

****



„Hättest du doch nur die Hauptstraße genommen“, unterbrach ihn Kathrin erneut mit einem Seufzer.
„Warum?“, fragte Jason.
Sie schaute ihn an. Es gab auch eine Menge, das sie ihm

erzählen musste. „Ich bin mit Richard gar nicht bis Tasking gekommen. Er hat schon kurz vor Norwich angehalten und gesagt, er könne nicht zur Polizei gehen. Ich bin ausgestiegen und wieder zur Hütte gelaufen, habe natürlich ein paar Stunden gebraucht. Du wärst mir auf der Hauptstraße entgegen gekommen. Wir hätten zusammen zurück nach Tasking fahren können und alles wäre gut gewesen.“
„Nein, wäre es nicht“, sagte Jason mit einem traurigen Kopfschütteln.
Kathrin nickte nach einem Moment. „Stimmt. Hast du den Brief geholt?“

****



Obwohl er am liebsten bis vor die Tür seines Colleges gefahren wäre, stellte er den Jaguar am Uferweg ab, weil er dort die meiste Deckung hatte. Auf dem Campus rührte sich nichts, es war schließlich tiefste Nacht. Er konnte unbemerkt den Brief aus seinem Zimmer holen und auf dem Rückweg nahm er sich eine Sekunde Zeit, schaute hinüber nach Davenshore, zum College von Kathrin und Sarah, und suchte ihr Fenster.
Natürlich war es dunkel. Sarah war in Indien und Kathrin saß höchstwahrscheinlich drüben in der Stadt auf der Polizeiwache und hörte seinem Bruder dabei zu, wie er vor sich hin stammelte und sich Stück für Stück wieder in seine alte Geschichte verstrickte. Sie konnten jederzeit, mit oder ohne Polizei, auf dem Campus auftauchen. Er musste weg.

Auf dem Weg zum Wagen dachte er an Kathrin. Sie würde sich Sorgen und wahrscheinlich auch Vorwürfe machen. Er hatte das kleine Inferno oben in den Broads unter anderem deswegen in Gang gesetzt, um sie aus dem Fokus zu nehmen. Die Leute sollten sich mit ihm und dem Feuer beschäftigten und nicht mit der Frage, wie sie eigentlich auf die Hütte gekommen waren.
Wahrscheinlich würde Kathrin seinen Plan sogar durchschauen. Doch sie konnte nicht ahnen, wie weit er tatsächlich gegangen war und er sollte sie zumindest wissen lassen, dass er noch lebte. Als er den Uferweg entlang blickte, fiel ihm eine Möglichkeit ein.
Mit einem kurzen Lächeln holte er das Klappmesser, das ihm sein Bruder Edward zu seinem siebten Geburtstag geschenkt hatte, aus der Innentasche der Irvin

. Es hatte die ganze Zeit über in der Jacke gesteckt und kam ihm jetzt äußerst gelegen. Er fuhr den Weg entlang, bis er auf der Höhe der alten Buche ankam, ging zum Baum und ritzte Kathrins Initialen in den Stamm. Unterhalb von seinen eigenen, umgeben von all den anderen Signaturen seiner Familienmitglieder, die hier studiert hatten. Was Jason betraf, bestand seine Familie sowieso nur aus zwei Menschen. Und deswegen ritzte er Ryans Initialen gleich noch daneben.

Anschließend warf er einen Blick in das Versteck unter dem Gebüsch und fand in ihrem Vorrat noch zwei Flaschen Cola. Die erste trank er gierig leer, die zweite steckte er ein, er hätte furchtbar gerne eine Pause gemacht, doch er hatte keine Zeit.
Auf den entscheidenden Fehler wurde er gestoßen, als er sich bereits einige Meilen hinter Guildford befand. Er war in Essex auf die M 11 gefahren, er musste einfach schneller vorankommen und auf der Autobahn würde er nicht groß auffallen. Wie er die Strecke um London herum hinter sich gebracht hatte, konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen.
Er war so erschöpft und, inzwischen wieder auf der Landstraße, döste er für eine Sekunde weg und bemerkte den Schatten am Straßenrand – wahrscheinlich ein Tier – viel zu spät. Er bremste und versuchte, auszuweichen, beim Gegenlenken musste er seinen Arm hochreißen und der Schmerz in seiner linken Seite flammte so heftig auf, für einen Moment sah er nur noch Sternchen. Der Wagen kam quer zur Straße zum Stillstand. Als er nach ein paar Minuten wieder fähig war, sich zu bewegen und so langsam auch sein Denken wieder einsetzte, fuhr er ihn an die Seite, kurbelte die Scheibe herunter, zündete sich erst einmal eine Zigarette an und versuchte, das Durcheinander in seinem Kopf ein wenig zu ordnen.

Sein „Plan“, Kathrin hätte sich wahrscheinlich geweigert, ihn überhaupt als solchen zu bezeichnen, hatte bisher darin bestanden, nach Fenshire auf den Landsitz seiner Familie zu fahren, sich ins Haus zu schleichen, seinen Pass und Geld zu holen, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden und das Land zu verlassen. Doch das würde er nicht schaffen. Selbst wenn er mit dem Wagen an die Küste bis Portsmouth käme ohne sich vorher umzubringen – in seinem Zustand würden sie ihn wahrscheinlich nicht einmal auf die Fähre lassen.
Noch hatte er Vorsprung, noch suchten sie nicht nach ihm, bloß was nutzte das, wenn er so auch überall auffallen würde. Er hatte gedacht, er müsse einfach nur schnell genug sein, dann würde er schon durchkommen. Er hatte nur keine Kraft, um schnell zu sein. Und wenn er sich nicht sehr bald eine ausgiebige Pause gönnte, würde er keine Kraft mehr für irgendetwas haben.
Er atmete vorsichtig durch. Da er nicht fliehen konnte, war seine einzige Alternative, unterzutauchen. Einen Platz zu finden, an dem er sich gut verstecken konnte, sich auskannte und wo niemand ihn vermuten würde. Er begann zu lächeln. Auf den Ländereien seiner Familie, nur noch wenige Meilen von der Stelle entfernt, an der er sich gerade befand, gab es einen Ort, der nahezu perfekt dafür war.

Als er an der Scheune ankam, wurde es langsam dämmrig. Er durfte keine Zeit verlieren. Er stieg aus und wäre beinahe gestolpert, hielt sich jedoch durch das Wissen, nur noch ein paar Minuten zu brauchen, auf den Beinen. Er öffnete die beiden großen Torflügel und als das Licht der Scheinwerfer in das Innere der Scheune fiel, fluchte er laut. Sein Bruder hätte ja wenigstens wieder aufräumen können!
So musste er auch noch die Strohballen aus dem Weg räumen, die Richard hier letzten Winter für sein kleines Picknick zusammengestellt hatte. Seine Überraschung für Kathrin, bei der er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte und vehement von ihr abgewiesen worden war. Was dann wiederum zu der unschönen Szene zwischen ihm und seinem Bruder im Clubzimmer und damit möglicherweise auch zu allem anderen geführt hatte.

Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ähnlich wie die Strohballen versuchte Jason auch, die Gedanken an die Vergangenheit zur Seite zur schieben. Plötzlich stutzte er, denn hinter dem letzten Ballen stand ein Korb, scheinbar ebenfalls von Richard vergessen, in dem sich Windlichter, eine Decke und eine Flasche Champagner befanden. Das sah doch gar nicht schlecht aus. Er fuhr den Wagen in die Scheune, verschloss das Tor, machte es sich mit der Decke auf dem Stroh so gemütlich, wie es eben ging, und war eingeschlafen, noch bevor er den Champagner geöffnet oder eine Zigarette geraucht hatte.

Als er wach wurde, war es dunkel, ob noch oder schon wieder, konnte er im ersten Moment nicht feststellen. Im ersten Moment konnte er gar nichts feststellen, außer dass es keinen Knochen oder Muskel in seinem Körper gab, der ihm nicht wehtat. Seine Rippen verweigerten ihm jeden tiefen Atemzug, die Verletzung über seinem Auge, das praktisch zugeschwollen war, pochte. Die Kopfschmerzen und den Schwindel nahm er schon gar nicht mehr richtig wahr.
Immerhin meldete sich sein Magen deutlich zu Wort, was er als gutes Zeichen wertete. Er brauchte etwas zu essen, etwas zu trinken und Schmerztabletten würden auch nicht schaden. Also schlurfte er zum Tor, lauschte erst einen Moment und schlüpfte hinaus. Eindeutig ein tiefer Nachthimmel, was bedeutete, er hatte beinahe zwanzig Stunden geschlafen.
Mit einem kurzen Lächeln erinnerte er sich, so etwas war ihm zum letzten Mal als Kind passiert. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich langsam auf den Weg. Er wusste ziemlich genau, wie groß die Ländereien waren und wie lange er bis zum Anwesen unterwegs sein würde.

In dieser Nacht, genauso, wie in den beiden folgenden, gelang es ihm, sich unbemerkt in das Haus zu schleichen. Das Erstaunliche war, obwohl er diesen Ort hasste und immer das Gefühl gehabt hatte, hier nicht richtig atmen zu können, fühlte er sich absolut sicher. Die ganze Sache bereitete ihm regelrecht Vergnügen. Er hatte keine Angst erwischt zu werden, er kannte sich schließlich aus, wusste genau, wann das Haus zur Ruhe kam, wer nachts möglicherweise noch Rundgänge machte und wann die ersten Angestellten morgens ihre Arbeit aufnahmen.
Er bediente sich in der Küche an den Vorräten, besorgte sich Medikamente und Verbandszeug für das Auge, holte sich in seinem Zimmer etwas Frisches zum Anziehen, stand zwischendurch sogar ein paar Minuten am Bett seiner schlafenden Mutter. Wenn es gefährlich zu werden begann, schlich er zurück zur Scheune, verschlief den Tag und erholte sich zumindest soweit, denn als er am Dienstagabend aufwachte, hatte er das Gefühl, seine nächste Reiseetappe in Angriff nehmen zu können.

Also machte er sich noch einmal auf den Weg zum Haus, betrat erneut leise Amandas Schlafzimmer und holte den Schlüssel vom Arbeitszimmer seines Vaters aus ihrer Kommode. Die Pässe fand er schnell, er steckte sowohl seinen britischen als auch seinen niederländischen ein. Anschließend suchte er die Sparbücher. Er wusste, seine Eltern hatten für jeden ihrer drei Söhne bei ihrer Geburt eines angelegt und über dieses Geld konnte Jason am einfachsten verfügen.
Als er die Sparbücher entdeckt hatte, warf er einen schnellen Blick in seines und steckte es ein. Er konnte einfach nicht anders und schlug auch das von Richard auf. Er atmete nur einmal scharf ein und legte es wieder zurück. Das Geld auf seinem Konto würde mehr als ausreichen, was spielte es für eine Rolle, wenn die Summe auf Richards Sparbuch um ein vielfaches höher war? Schließlich war sein Bruder ja auch beinahe ein Jahr älter, stellte er mit einem bitteren Lächeln fest.

Als nächstes ging er hoch in sein Zimmer, um noch ein paar Sachen zu holen, die er mitnehmen wollte und zu guter Letzt machte er sich auf den Weg in die Küche. Er wollte zu den Vorratsräumen, warf im Vorbeigehen einen kurzen Blick in den Aufenthaltsraum, in dem er als Kind und auch später soviel Zeit verbracht hatte, stutzte und ging hinein. Auf dem Tisch stand eine Papiertüte, darin ein Stapel Sandwiches, eine Flasche Ginger Ale und eine Schachtel Players

. Daneben lag ein Zettel: Für hungrige Geister!


Er musste sich hinsetzen, weil ihn eine so unerwartete und schmerzvolle Sehnsucht überkam. „Oh, Maggie“, sagte er leise. „Du bist so ein Schatz.“
Dann suchte er sich einen Stift, schrieb „1000 Küsse vom Geist

“ auf die Rückseite des Zettels, griff sich die Tüte und verabschiedete sich von Fenshire.

****



„Glaubst du, Maggie wusste, dass du es bist?“, erkundigte sich Kathrin.
Jason brauchte einen Moment, um sich von den Bildern seiner Erinnerung loszureißen und im Hier und Jetzt – mit Kathrin und Ryan auf der Veranda seiner Hütte in Indien – anzukommen.
Er lächelte. „Keine Ahnung. Sie hat bestimmt mitbekommen, jemand ist im Haus herumgeschlichen, für so etwas hat sie einen siebten Sinn. Sie brauchte früher nur einen Blick auf die Marmeladengläser zu werfen und konnte genau sagen, ob wir genascht hatten.“
Kathrin nickte. „Das kenne ich. Meine Großmutter konnte das auch.“
Jason fuhr in seinen Überlegungen fort. „Und wie viele Geister rauchen schon Players

? Andererseits müssen sie zu dem Zeitpunkt doch schon gewusst haben, was passiert ist. Wenn Maggie die Hoffnung gehabt hätte, ich wäre noch … da, hätte sie versucht, mit mir zu reden. Ich habe mich sowieso gewundert, warum die Polizei nicht alles auf den Kopf gestellt hat.“

Kathrin seufzte. Es war an der Zeit, ihm

ein paar Informationen zu geben. „Wann bist du aus Fenshire weg? In der Nacht zum Mittwoch? Da wusste außerhalb von Tasking noch niemand von deinem Verschwinden. Norrington hat es erst Mittwochabend gemeldet.“
Jason kniff die Augen zusammen. „Sie werden doch wohl spätestens am Montag von dem Feuer
erfahren haben?“
„Schon. Aber sie denken, randalierende Jugendliche aus Norwich wären dafür verantwortlich. Dein toller Plan“, sie konnte es sich einfach nicht verkneifen, „hat noch nicht einmal im Ansatz funktioniert und war vor allem vollkommen überflüssig. Kein Mensch weiß, dass wir auf der Hütte gewesen sind.“
Selbst Ryan blickte irritiert, Jason hingegen verstand überhaupt nichts mehr. „Aber … Richard hat doch bestimmt…“
Kathrin unterbrach ihn. „Richard hat gar nichts! Er hat kein Wort gesagt, vielleicht, weil er es mir geschworen hat, vielleicht aus anderen Gründen. Sie wissen nichts von dem Revolver und niemand hat nach dem Jaguar gefragt. Sie denken, du wärst abgehauen, weil Penbroke dir Prügel angedroht hat.“
„Angedroht?“, ächzte Jason. „Das hat sich nicht nur nach ‚angedroht’ angefühlt.“

Kathrin berichtete von dem Verhör in Norringtons Büro. Sie hatte Penbroke nicht verpfiffen, er hatte nichts von dem Revolver oder dem Wagen erwähnt. Sie wären ohne jede Konsequenz aus der Sache herausgekommen. Gut, so ganz ging auch diese Rechnung nicht auf, denn wenn sie gemeinsam mit Jason zurückgekommen wäre, hätte er in seinem Zustand, mit dem zerschlagenen Gesicht, schlecht behaupten können, es wäre nichts passiert. Und außerdem ging es im Grunde ja um etwas ganz anderes.
„Ehrlich gesagt finde ich, das sind ziemlich gute Neuigkeiten“, schaltete Ryan sich ein und fuhr nach Jasons ungläubigem Blick fort: „Es heißt zumindest, du hast nicht auch noch eine Anklage wegen Brandstiftung am Hals.“
„Na prima, dann bleiben ja nur noch“, Jason zählte es an den Fingern auf, „Vergewaltigung, Verstoß gegen die Kautionsauflagen, Entziehung vom Verfahren, falls sie irgendwann den Jaguar entdecken, illegales Fahren … habe ich etwas vergessen?“

Ryan blieb ruhig und da er ahnte, Jason würde die nächste Frage nicht stellen, tat er es: „Gibt es in dieser Sache etwas Neues?“
„Nein“, Kathrin schüttelte den Kopf. „Zumindest bis letzte Woche nicht. Sie haben aber immer wieder Gespräche geführt, der Bürgermeister von Tasking war da und der Minister von Suffolk und noch andere wichtige Leute. Ich glaube, sie haben versucht, es zu bagatellisieren. Es hieß öfter, Chantal hätte einen sehr freizügigen Lebensstil gehabt.“
Jason nickte. „Ja, das hat Norrington mir schon erzählt. Keine Ahnung, worauf das hinauslaufen soll.“ Er streckte sich, massierte sich den Nacken und schaute seine beiden Freunde an. „Habt ihr etwas dagegen, wenn wir das Thema wechseln? Ich kann wirklich nicht mehr. Außerdem habe ich ziemlichen Hunger.“
„Oh Gott, das Curry!“, rief Ryan und stürzte in die Hütte.

Sie verbrachten den ganzen Abend auf der Veranda, aßen zusammen, rauchten gelegentlich eine Zigarette, Ryan erzählte von seinen Erlebnissen in Indien und Kathrin von ihrer Reise. Jason redete kaum und oft schwiegen sie auch alle drei, es war, als säßen sie in ihrem Gemeinschaftsraum in Tasking oder in Fenshire oder in Burgess Hill, es war, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen. Als dann die Sonne unterging, so malerisch, als hätte sie es eigens für sie inszeniert, lächelten sie still vor sich hin, sie hatten sich so sehr danach gesehnt, genau das gemeinsam zu erleben.

Später gingen Jason und Kathrin zu der anderen Hütte hinüber. Jason hielt die Petroleumlampe hoch, damit sie sich umschauen konnte, sie hatte nichts anderes erwartet und war deswegen auch zufrieden. Er ging hinüber in den Schlafraum und holte sich eine Decke.
„Was machst du?“, erkundigte sich Kathrin.
Jason deutete mit dem Kopf auf das schmale und vor allem sehr kurze Sofa. „Ich schlafe hier, dann kannst du das Bett nehmen.“
Kathrin grunzte und zog eine spöttische Grimasse. „Sehen würde ich das ja gerne, aber was hast du für ein Problem? Wir haben in Burgess Hill oft genug in einem Bett geschlafen.“
„Schon“, erklärte Jason langsam, „aber das war erstens bequem und zweitens lang genug dafür.“
Kathrin blickte einige Male vom Bett zum Sofa. Ihr war klar, Jason würde sich nicht auf eine Diskussion einlassen. Deswegen tat sie es auch nicht und entschied sich wie meistens für die praktischere Lösung. Sie nahm ihm die Decke aus der Hand. „‚Bequem’ ist das richtige Stichwort. Ich liege auf dem Sofa bequemer als du, deswegen schlafe ich hier und du im Bett.“
Der Blick, den sie ihm zuwarf, brachte Jason dazu, seine restlichen Argumente gar nicht erst anzubringen, sondern nur zu nicken und hinüber in den Schlafraum zu gehen.

Am nächsten Morgen rief er Ryan herüber, sie standen eine Weile vor dem Bett und diskutierten, bevor sie einen Abstecher ins Dorf machten und mit Werkzeug und Decken bepackt zurückkamen. Ryan und Sarah hatten das gleiche Problem mit ihrer Schlafstatt gehabt, deswegen wusste Ryan sofort, was zu tun war. Kathrin hörte Hämmern, Quietschen und ein gelegentliches Fluchen. Gegen Mittag durfte sie das Werk dann begutachten.
Jason und Ryan hatten kurzerhand die Beine des Bettgestells abgebaut, ein paar Holzklötze untergelegt und den Liegebereich mit Kissen und Decken vergrößert, damit sie beide bequem und ausgestreckt darin liegen konnten.
Die jungen Männer, verschwitzt und stolz, schauten erwartungsvoll und nach Lob heischend zu Kathrin. Die betrachtete sich das Ganze einen Moment, nickte, sagte „Gut“, und ging wieder hinaus.
Ryan und Jason blickten sich an, zunächst skeptisch, bis sie begannen, äußerst zufrieden zu grinsen.

Kapitel 4




Es waren außergewöhnliche, beeindruckende und gelegentlich auch schwierige Tage. Sie gönnten sich die Zeit, die sie brauchten um sich zu erholen, wieder zu Kräften zu kommen und alle offenen Fragen, soweit zum jeweiligen Zeitpunkt möglich, zu klären.
Jason erzählte von den restlichen Etappen seiner Reise. Wie er am frühen Mittwochmorgen die Fliegerjacke und den Revolver von Kathrins Vater weit hinten in der Scheune versteckt, den Jaguar abgeschlossen und sich mit wenig Gepäck zu Fuß auf den Weg nach Guildford gemacht hatte. Wie er den Zug nach Portsmouth genommen hatte und dort zu seiner Verblüffung völlig problemlos auf die Fähre nach Le Havre gekommen war.

Mit dem Zug und teilweise per Anhalter hatte er sich bis nach Den Haag durchgeschlagen und dort mit seinem niederländischen Pass in relativ kurzer Zeit ein Flugticket nach Neu Delhi bekommen. Auf den Anschlussflug musste er zwei Tage warten, weil er ihn erst in Delhi gebucht hatte, dafür erwischte er eine günstigere Busverbindung als Kathrin.
Aufgrund seiner Verletzungen war alles viel langsamer gegangen als erhofft und er hatte auch immer wieder Aufmerksamkeit erregt, sodass er sich insgeheim wunderte, warum er nicht längst verhaftet worden war. Aber weder die Polizisten am Flughafen von Den Haag, noch die in Neu Delhi hatten sich für ihn interessiert.

Kathrin war zufrieden, als er seinen Bericht beendet hatte, obwohl ihr das alles immer noch nicht erklärte, warum es Jason nach wie vor so schlecht ging. Doch es verstärkte das Gefühl, angekommen zu sein und so konnte sie sich noch intensiver auf den Ort und das Land einlassen, in dem sie sich befand.
Allein durch den Blick von der Veranda hatte sie unendlich viel zu entdecken, und es wurde noch viel mehr, wenn sie ins Dorf gingen. Die Umgebung, die Farben, die Gerüche – alles war neu und fremd und auf eine seltsame Art wohltuend, sie kam gar nicht auf die Idee, woanders hin und mehr sehen zu wollen.

Sarah kam am Morgen des zweiten Tages nach Kathrins Ankunft aus Calicut zurück. Aus der Gruppe französisch und englisch sprechender, bunt gekleideter junger Leute stach sie mit ihrem Sari, den hennaroten und inzwischen recht langen Haaren und ihren Arm- und Fußkettchen kaum heraus. Sie verabschiedeten sich fröhlich voneinander, die Franzosen gingen weiter den Strand hinunter und Sarah kam zu den beiden Hütten.
Als sie Kathrin entdeckte, rief sie laut ihren Namen, stürmte auf sie zu und riss sie mit ihrer Umarmung beinahe zu Boden. Kathrin freute sich natürlich ungemein, war im ersten Moment mit dem Schwall aus Worten und Emotionen allerdings ein wenig überfordert.

Sarah wollte so viel wissen und gleichzeitig erzählen und schien ihre ganze Aufmerksamkeit auf Kathrin zu richten. Sie begrüßte Ryan mit einem Kuss und Jason mit einem kurzen Lächeln, jedoch nicht mit der Euphorie, die sie bei den Franzosen gezeigt hatte oder Kathrin gegenüber an den Tag legte. Sie hatte kaum ihre Tasche abgestellt, da sagte sie: „Im Camp drüben gibt es heute Abend eine Feier, wir sind alle eingeladen.“
„Ihr kommt doch gerade erst vom Feiern“, bemerkte Ryan mit einem leicht spöttischen Lächeln.
„Na und? Dafür sind wir doch hier, um das Leben zu genießen und es uns gut gehen zu lassen. Kathrin, du kommst mit, oder? Da sind so viele nette Leute, die ich dir vorstellen möchte.“

Einige dieser Leute hatte Kathrin ja bereits bei ihrer Ankunft getroffen. Sie war hin und her gerissen zwischen Neugierde, der Freude an Sarahs Gesellschaft und dem Bedürfnis nach Ruhe. Doch dafür hatte sie schließlich noch eine Menge Zeit. „Ja, mache ich.“
„Prima. Was ist mit euch beiden?“, erkundigte sich Sarah mit einer Stimme, die um eine winzige Spur kühler geworden war.
„Nein“, sagten die Jungs wie aus einem Mund, als hätten sie sich abgesprochen.
„Sollen wir nicht erst einmal hier unser Wiedersehen feiern?“, schlug Ryan vor. „Wir können Feuer machen und etwas Schönes kochen.“
„Ja“, Sarah winkte ab, „und einen Wein trinken und über den Sonnenuntergang philosophieren. Unter ‚feiern’ verstehe ich etwas anderes! Außerdem können wir das immer noch machen. Den ein oder anderen Sonnenuntergang wird es schon noch geben.“
Sie ging verstimmt in ihre Hütte und rief von drinnen: „Kathrin, kommst du mal, ich muss dir unbedingt zeigen, was ich aus Calicut mitgebracht habe.“

Kathrin beschloss, sich über die vielen ungesagten Botschaften und Signale, die gerade herumgegangen waren, später Gedanken zu machen und folgte ihrer Freundin. Auch am Abend ging sie mit ihr mit, eine knappe Meile den Strand hinunter, zu den Franzosen und Amerikanern, die ihre abenteuerliche Ansammlung aus Hütten und Zelten als „Camp“ bezeichneten. Genau so sah es auch aus.
Es waren zehn oder zwölf junge Leute, nach wenigen Minuten im Trubel ihres Lagers kam es Kathrin allerdings vor, als müssten es mindestens doppelt so viele sein. Einige hatten Surfbretter dabei, andere Gitarren, die meisten waren bunt oder fast gar nicht bekleidet und es wurde eine Menge Ganja geraucht. Sarah wurde von allen überschwänglich begrüßt, genau wie in Tasking schien sie auch hier ausgesprochen beliebt zu sein. Auch Kathrin kam in den Genuss vieler Umarmungen und Küsschen und war von den nicht enden wollenden Fragen zu ihrer Person und der allgemeinen Distanzlosigkeit schnell überfordert.

Sie setzten sich an ein großes Lagerfeuer, in der einen Ecke wurden Lieder von Woody Guthrie und Joan Baez gespielt, in der anderen philosophierte ein dunkelhaariger Schönling namens Lucien zur Begeisterung einiger Zuhörer über den Unsinn des bürgerlichen Lebens. Kathrin hoffte spontan, er und Jason würden sich niemals über den Weg laufen.
Sie nahm ab und zu einen Schluck aus der Weinflasche, die immer wieder herumging, reichte den Joint, der meistens folgte, aber direkt weiter. Sarah bediente sich großzügig an beidem und gesellte sich dann zu Lucien. Kathrin war erstaunt, wie vertraut die beiden miteinander umgingen. Dies schien in dieser Gruppe jedoch zu den üblichen Gepflogenheiten zu gehören, wie sie am eigenen Leib spürte, als sich einer der Amerikaner zu ihr setzte und ihr zärtlich den Arm über die Schulter legte.

An diesem Punkt verabschiedete sie sich von der Feier. Sarah bedauerte das zwar, wollte aber noch bleiben, dafür erklärte sich der junge Amerikaner bereit, ihr den Weg zeigen. Kathrin konnte ihm glücklicherweise deutlich machen, sie würde sich auch ohne seine Hilfe zurechtfinden, da sie ja nur geradeaus den Strand hinauf musste.
Es war wunderschön, alleine durch die sternklare Nacht zu spazieren und sie überlegte, ob sie einen Teil des Geldes, das sie dank ihrer Mutter für das Ticket gespart hatte, für Laufschuhe ausgeben sollte. Ihre hatte sie in ihrem Zimmer in Tasking liegen lassen.

In Ryans Hütte war schon alles dunkel, doch Jason saß auf ihrer Veranda und wartete auf sie. „Wie war es?“, wollte er wissen, nachdem sie sich neben ihn gesetzt und wohlig geseufzt hatte.
Kathrin lächelte. „Bunt. Und ziemlich laut.“
Jason verstand, was sie meinte und nickte. Nach einer Weile fragte sie: „Sag mal, fahrt ihr auch manchmal zum Einkaufen in die Stadt?“
„Klar. Ryan und Sarah sind bestimmt einmal in der Woche in Vizhinzan, und irgendwann müssen wir auch in die Hauptstadt, dort ist die einzige Bank, wo wir Geld holen können. Warum fragst du?“
Ihr Lächeln wurde verschmitzt. „Gibt es in Vizhinzan Schuhe?“

Einige Tage später fuhren sie alle zusammen in das malerische Küstenstädtchen, selbst Jason erklärte sich bereit, mitzukommen. Als der Bus sie am frühen Nachmittag zurückbrachte, war er allerdings auch am Ende seiner Kräfte und zog sich mit den Büchern, die er sich gekauft hatte, in die Hütte zurück. Kathrin registrierte es mit unveränderter Sorge. Er hatte immer noch nicht über den Grund für seinen Zustand reden wollen und sie wusste, es hatte keinen Sinn, ihn darauf anzusprechen. Daher tat sie es auch nicht und freute sich stattdessen über ihre neuen Schuhe. Sie konnte kaum fassen, wie unglaublich günstig sie gewesen waren.

Sie hatten gerade ihre Vorräte verstaut, als Sarah fragte, ob Kathrin mit zu Doktor Paval kommen wollte. Er war der ansässige Arzt und hatte jetzt Sprechstunde in seiner Ambulanz. Sarah wusste, er freute sich stets über Hilfe und teilte außerdem bereitwillig sein Wissen. Kathrin war neugierig und begleitete sie natürlich.
Seine Praxis erkannte sie schon von weitem, denn auf der Bank vor dem Haus und im Vorraum saßen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: by Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: Mit freundlicher Genehmigung von Geli Amman
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2012
ISBN: 978-3-86479-592-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
“And so you felt and you're still here And so you died and you’re still standing So you softened and still safety in command. And I salute you for your courage I commend you for your wisdom And I embrace you for your faith In the face of adversarial forces that I represent.” Alanis Morissette – Surrendering. Aus dem Album “Under Rug Swept”.

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