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… für alle, die gegen den Strom schwimmen, um die Quelle zu finden.




PROLOG



Kurz vor Sonnenaufgang hatten sie den Brand weitgehend unter Kontrolle. Robbie Thompson war zur Straße hoch gelaufen, um sich am Löschwagen einen Tee und fünf Minuten Pause zu gönnen. Er hätte nicht sagen können, wann genau er als einer der Ersten hier draußen eingetroffen war, doch es war Stunden her und dies der erste Moment, an dem er ein wenig durchatmen konnte. Der Geruch des nur noch lauwarmen schwarzen Tees tat unendlich gut und während er den Helm abnahm und einen Blick auf die Szene unter sich warf, wurde ihm bewusst, was für ein Glück sie gehabt hatten.

Das Gelände fiel von der Straße aus stetig ab, das Haus stand etwa auf halber Strecke zum Seeufer. Genauer gesagt das, was von ihm übrig war. Die Baumgruppe zu seiner Rechten bestand nur noch aus verkohlten Gerippen. Dahinter befanden sich Felsen und hangaufwärts hatte die Straße das Feuer aufgehalten. Links führte der unbefestigte Fahrweg von der Straße zum Gebäude hinunter und hielt das Dickicht ein wenig auf Abstand. Wären sie ein paar Minuten später gekommen oder hätte der Wind auf West gedreht, hätten sie es jetzt vermutlich mit einem ausgewachsenen Waldbrand zu tun.
Robbie schaute wieder zu der Ruine, zu seinen Kollegen, die immer noch damit beschäftigt waren, die letzten Brandherde zu löschen. Das Ganze war noch lange nicht ausgestanden. Ein einziger, unscheinbarer Funke, ein bisschen Wind zur falschen Zeit und ein Rest trockenes Holz …

Vielleicht zum hundertsten Mal in dieser Nacht fragte er sich, was zur Hölle dieses Inferno ausgelöst hatte. Er war Experte darin, Brände zu löschen und nicht, ihre Ursache herauszufinden. Dazu gab es die Sachverständigen der Versicherungen, von denen sicherlich einige hier oben auftauchen würden, sobald es richtig hell war. Trotzdem wusste er, welche Zündquellen welche Art Feuer auslösen konnten. Das hier war keine heruntergefallene Zigarette, keine umgekippte Petroleumlampe gewesen. Auch keine Gasflasche, die hätte eine kurze, heftige Explosion ausgelöst. Das hier war die rasende und gefräßige Wut von Benzin. Sehr viel Benzin. Und da das ganze Haus mitsamt Bootsschuppen von einem Moment auf den anderen lichterloh gebrannt haben musste, hatte sich dieses Benzin nicht in Kanistern oder Fässern befunden. An diesem Punkt gelangte er unweigerlich zu der anderen Frage, die er sich stellte, seit er hier oben angekommen war. Und wie schon hundertmal vorher verbot er sich, darüber nachzudenken. Sein Job war es, Brände zu löschen und den hatte er erfüllt. Andere waren dafür zuständig, das Wie und das Warum zu klären. Und das Wer.

Etwas unterbrach Robbies Gedanken. Seine Sinne waren völlig überreizt und er konnte zunächst nicht sagen, was es gewesen war, nur, dass er irgendetwas wahrgenommen hatte. Eine Bewegung am Fahrweg, dicht bei den Bäumen. Er starrte auf den Waldrand, der dank der zunehmenden Helligkeit nicht mehr nur einer kompakten dunklen Masse glich, sondern bereits die einzelnen Stämme erkennen ließ … und dann sah er sie. Ein Mädchen, vielmehr eine junge Frau in Jeans und dunklem T-Shirt. Kein Wunder also, dass er sie zunächst nicht entdeckt hatte. Ihr Blick war starr und vermutlich schon eine ganze Weile auf die noch schwelende Ruine gerichtet. Robbie fuhr alarmiert auf und verschüttete seinen Tee, als er gleichzeitig versuchte, die Tasse abzustellen und seinen Helm wieder aufzusetzen. Schnell machte er sich auf den Weg nach unten. Er hielt sie für eine schaulustige Touristin und wollte ihr zurufen, sie habe dort nichts zu suchen, doch je näher er ihr kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Ihr Gesicht war aschfahl, der Blick nicht nur starr, sondern wie in Trance. Sie schien ihn überhaupt nicht zu bemerken.

Er traute sich nicht, sie zu berühren, sprach sie nur leise an: „Miss? Miss, Sie dürfen sich hier nicht aufhalten, das ist Sperrgebiet. Wir wissen noch nicht, ob der Brand vollständig gelöscht ist.“
Sie reagierte nicht auf ihn und Robbie überlegte, ob er einen Arzt, einen Officer oder seinen Vorgesetzten holen sollte. „Miss? Fehlt Ihnen etwas? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Oder können Sie mir sagen, was hier passiert ist?“
„War jemand im Haus?“ Ihr Blick war unverändert auf die qualmenden Überreste gerichtet und ihre Lippen hatten sich kaum bewegt. Robbie brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.
„Ich weiß es nicht, Miss, wir konnten noch nicht hinein, das müssen die Sachverständigen klären.“
Wieder keine Reaktion. Offensichtlich stand sie unter Schock, also brauchte sie zunächst einen Arzt. Robbie streckte den Arm aus, wollte sie stützen, sie zum Wagen bringen, ihr eine Decke umlegen und eine Tasse Tee anbieten. Doch er konnte sie nicht berühren. Sie schien wie von einer Aura umgeben, die zu durchdringen er nicht imstande war. Ihm wurde das Ganze ein wenig unheimlich. „Ich hole jemanden, der Ihnen helfen kann. Bleiben Sie einfach noch einen Moment hier stehen.“

Er hatte sich schon umgedreht, da hörte er ihre Stimme erneut, bitter diesmal und anscheinend nicht an ihn gerichtet. „Das nennst du Freiheit, ja?“
Robbie fragte nicht, was sie meinte. Er lief so schnell wie möglich, ohne es nach einer Flucht aussehen zu lassen, hoch zur Straße in Richtung Einsatzwagen und wendete sich erst wieder um, als er das Funkgerät schon in der Hand hielt. Von dem Mädchen war nichts mehr zu sehen.


Teil I



Kapitel 1

Harold McEvans war ein Kriegsheld. Vielleicht nicht der größte, den das Land und der Zweite Weltkrieg hervorgebracht hatten, doch immerhin einer, dessen Name später in den Geschichtsbüchern erwähnt wurde. Niemand konnte so fliegen wie er, niemand war so tollkühn und niemand holte über dem Kanal so viele deutsche Bomber herunter. Dazu war er ein junger und charmanter Bursche, der trotz seiner unbedeutenden Herkunft mit einer guten Bildung und hervorragenden Umgangsformen aufwarten konnte. Sein gesellschaftliches Ansehen stieg mit jeder Auszeichnung, die ihm an die Brust geheftet wurde. Zwei Jahre lang wurde er während seiner Urlaubstage als Gast durch die Landhäuser und Sommerresidenzen der großen Familien gereicht. Es gab ein Gesuch, ihn in den Adelsstand erheben zu lassen, doch aufgrund zweier unerwarteter Ereignisse kam es dazu nicht mehr.

Zum einen wurde sein Flugzeug zwei Wochen vor der Kapitulation von einer deutschen Flak vom Himmel geholt – was nicht das eigentliche Problem war, denn selbstverständlich hätte man die Zeremonie auch posthum abhalten können. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt auch frisch verheiratet und das war nicht nur ein Problem, sondern eine Katastrophe. Er hatte die skandalumwitterte Sängerin Maude Malloy zunächst für ein Konzert auf seinem Stützpunkt engagiert, anschließend verführt und zudem geschwängert, was für sein doch relativ hohes moralisches Verständnis eine Heirat zwingend notwendig machte. Und dieser Schritt war gleichbedeutend mit dem Ende seiner gesellschaftlichen Karriere.

Maude war weder über die Schwangerschaft noch über ihr frühzeitiges Witwendasein besonders erfreut, hörte allerdings genau an dem Tag auf, sich zu beklagen, als sie den ersten Scheck mit ihrer Rente zugestellt bekam. Sie brachte ihre Karriere wieder in Schwung, nahm mehrere Schallplatten auf, kaufte sich einen Club im Herzen von London und lebte in relativ luxuriösen Verhältnissen. Da ihr das Kind dabei nur im Weg war, deponierte sie es kurzerhand bei ihrer Schwiegermutter in Sussex, zahlte ihr eine unbedeutende monatliche Summe für den Unterhalt und kümmerte sich ansonsten nicht weiter um das Mädchen.

So kam es, dass Kathrin McEvans bei ihrer Großmutter Victoria und mit den Heldengeschichten über ihren Vater aufwuchs und erst spät mit den Hintergründen ihrer mütterlichen Linie konfrontiert wurde. Nämlich erst, nachdem sie lesen gelernt und Zugang zu Zeitschriften und der Familienchronik bekommen hatte. Was sie las, verstand sie größtenteils nicht. Da ihr jedoch beigebracht worden war, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckte, bewahrte sich Kathrin ihrer Mutter gegenüber lange Zeit ein Gefühl der Dankbarkeit. Sie ahnte bald, wie gut sie es, gemessen an den Alternativen, getroffen hatte. Wie alle Großmütter versuchte Victoria, nicht unnötig streng zu sein und aus den Fehlern, die sie bei der Erziehung ihres Sohnes gemacht hatte, zu lernen. Sie legte unverändert Wert auf gute Umgangsformen und schaffte es bei ihrer Enkelin noch mehr als bei ihrem Sohn, einen schier unstillbaren Hunger nach Bildung und Wissen zu wecken.

Ihren Vater vergötterte und vermisste Kathrin gleichermaßen. Eine ganze Zeit lang trug sie eine Fotografie mit sich herum, das einzige Bild, das von beiden gemeinsam zu existieren schien: er in Paradeuniform in die Kamera grüßend, sie auf seinem Schoß. Jedem Besucher präsentierte sie stolz dieses Zeugnis familiärer Verbundenheit. Die vorsichtigen Einwände ihrer Großmutter ignorierte sie lange. Das Flugzeug ihres Vaters wäre zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits zerschellt und ausgebrannt irgendwo vor der deutschen Ostküste gelegen, versuchte Victoria zu erklären. Und der Mann auf dem Foto sei einer seiner engsten Kameraden, der sie nach Harolds Tod besucht hatte und zu Weihnachten immer noch regelmäßig Karten schrieb.
Später nahm Kathrin den Umstand, dass die Leiche ihres Vaters aufgrund des hohen Verbrennungsgrades nie eindeutig identifiziert werden konnte, zum Anlass für hoffnungsvolle Spekulationen. In Wirklichkeit war er nicht tot, sondern immer noch auf der Flucht und hatte sich irgendwo in Frankreich versteckt, auf eine Gelegenheit wartend, endlich zu ihr zurückzukommen. Oder die Regierung hatte ihn für wahnsinnig wichtige Spionagetätigkeiten verpflichtet, die so geheim waren, dass er noch nicht einmal zu seiner Familie Kontakt aufnehmen durfte.

Kathrins Kindheit endete nach eigenem Bekunden mit zwölf, als ihrem Drängen nachgegeben und ein Treffen mit ihrer Mutter Maude arrangiert wurde. Nichts, was sie bei ihrer Großmutter gelernt hatte, hätte sie auf diese Begegnung vorbereiten können. Alles, was sie in diesen zwei Tagen erlebte, ließ sie zu dem Schluss kommen, die Welt sei nicht annähernd so überschaubar und gradlinig, wie sie bisher angenommen hatte. Und da sie nur eine Strategie kannte, mit Unfassbarem und Unerklärlichem umzugehen – nämlich, es fassbar und erklärlich zu machen – steigerten sich ihr Wissensdurst und Lernwillen nur noch mehr.
Mit siebzehn besaß sie ausreichend Empfehlungsschreiben, um ihren Abschluss auf einem der besten Internate Südenglands zu machen, allein die finanziellen Mittel reichten nicht aus. Großmutter Victoria war drauf und dran, ihr Haus zu verkaufen, als unerwartet Major Jones, der „Ersatzvater“ aus Kathrins Kindheit, zu Hilfe kam. Durch Spekulationen zu einem gewissen Reichtum gekommen und alleinstehend, erinnerte er sich daran, wie Harold McEvans ihn mehr als einmal durch die Wirren des Krieges und feindliche Bomber gelotst hatte. Er bedankte sich posthum mit dem Angebot, seiner Tochter eine anständige Ausbildung zu finanzieren. Die Frauen willigten erleichtert ein. Victoria, weil sie ihr Haus nicht verlieren und Kathrin, weil sie den größtmöglichen Abstand zwischen ihre Welt und die ihrer Mutter bringen wollte.

****



Das Oakfield-Internat konnte sich mit einer mehr als einhundertfünfzigjährigen Geschichte rühmen, in der es die Sprösslinge der Adelsfamilien nicht nur gelehrt, sondern sie zu wohlerzogenen und angesehenen Mitgliedern der guten Gesellschaft geformt hatte. Kriege und Krisen des Landes waren an seinen Mauern vorübergezogen ohne Spuren zu hinterlassen, und nur zwei Mal in all der Zeit hatte es einschneidende Veränderungen gegeben: 1910, als das Haus für die nichtadeligen Kinder der höher gestellten Familien geöffnet wurde und, wesentlich mehr Unruhe stiftend, 1954, als man die ersten Mädchenklassen zuließ. Zehn Jahre später hatten sich auch diese Wogen wieder geglättet, etwa jeder fünfte Schüler war ein Mädchen, ausreichend, um ihnen ein eigenes Haus zuzuweisen. Mädchen und Jungen wurden noch getrennt unterrichtet und man achtete darauf, dass sich die Geschlechter nicht allzu nahe kamen. Doch in der Zwischenzeit waren auch neue Lehrer dazugekommen, die mit den modernen Verhältnissen wesentlich entspannter umgehen konnten.

Jason Sullivan war an diesem strahlend schönen Frühlingsmorgen ausgesprochen guter Laune. Diese hatte allerdings wenig mit dem Wetter zu tun, auch nichts mit der ganz erstaunlichen Begegnung, die er bald haben würde, denn davon wusste er noch nichts. Sie hatte vor allem etwas mit der Information zu tun, die er gestern Nacht durch das unbedachte Geplapper eines der Mädchen aus dem Schwimmclub erhalten hatte. Er hatte ein bisschen mit ihr herumgeknutscht und sie hatte ununterbrochen – immer, wenn sie den Mund freigehabt hatte – den neusten Schulklatsch von sich gegeben. Unter anderem hatte sie erzählt, dass Amy Farell seit einem Jahr unter einem üblen Heuschnupfen litt, der besonders von Wiesenblumen ausgelöst wurde. Deswegen konnte sie das Internat zurzeit gar nicht mehr verlassen und wurde von Wanderungen und Ähnlichem freigestellt.
Nun war ihm Amy Farell vollkommen egal, doch sie war zufälligerweise das Mädchen, in das Noah Fields unsterblich verschossen war. Der im Zimmer nebenan wohnende, spießige, unterbelichtete und völlig indiskutable Noah Fields, Sohn einer unbedeutenden Adelsfamilie und in erster Linie dafür verantwortlich, dass Jason letzte Woche mal wieder beim Rauchen auf dem Zimmer erwischt worden war. Schon während er die halbstündige Standpauke seines Hauslehrers über sich ergehen lassen musste, untermalt von diesem sorgenvollen Blick, der fragte, ob er denn niemals erwachsen werden wollte, hatte Jason begonnen, Rachepläne zu schmieden. Sorgen hatte er sich keine gemacht. Er wusste, wegen so einer Lappalie würden sie bei ihm kein großes Aufheben machen, auch wenn es beileibe nicht die erste Lappalie in den letzten vier Jahren gewesen war. Und die zwei Tage Zimmerarrest, die er letztendlich aufgebrummt bekommen hatte, hatten ihn nicht einsichtig, sondern nur noch entschlossener gemacht.

Er hatte Tage damit zugebracht, sich zu überlegen, wie er Fields drankriegen konnte. Und seit diesem Morgen lief seine Intrige auf Hochtouren. Sein bester Freund Ryan Abott hatte sich Fields bereits zur Brust genommen und ihm in Männer-müssen-zusammenhalten-Manier berichtet, Amy würde nichts auf der Welt romantischer finden als einen üppigen Strauß frisch gepflückter Wiesenblumen, den Noah ihr für die optimale Wirkung am besten in der großen Eingangshalle und im Beisein all ihrer Freundinnen überreichen sollte. Wie gesagt, Fields war nicht mit übermäßiger Intelligenz gesegnet, er hatte sich überschwänglich bei Ryan bedankt und war nach draußen in die Botanik gestürzt.

Jason, Ryan und ein paar Kumpel hatten inzwischen in der Halle Posten bezogen. Amy musste jeden Moment zum Mittagessen herunterkommen. Und da war sie auch schon, wie üblich in Begleitung einer ganzen Traube von Mädchen. Überhaupt war die Eingangshalle zu diesem Zeitpunkt ziemlich bevölkert, was nicht nur mit dem Mittagessen, sondern auch mit einigen sorgfältig gestreuten Gerüchten zusammenhing. Das Timing war perfekt. Amy stand genau neben dem riesigen, in den Boden eingelassenen Schulwappen, als Noah Fields, die Arme voller Blumen, auf sie zu- und aufgrund seines eingeschränkten Blickfelds auch beinahe in sie hineinrannte. Dabei rief er: „Amy! Die habe ich nur für dich gepflückt!“

Jason konnte sich schon zu diesem Zeitpunkt vor Lachen kaum mehr auf den Beinen halten, deswegen bekam er alles, was weiter geschah, nur noch verschwommen mit: Amys Erstarren, das sekundenlange Zögern bis zum ersten Niesanfall, ihr wütendes Schreien und das Finale, bei dem sie Fields die Blumen um die Ohren klatschte. Es war noch viel besser, als er es sich vorgestellt hatte. Seine Kumpel klopften ihm für den gelungenen Coup auf die Schulter und als er sich wieder halbwegs im Griff hatte schaute er sich um, blickte in die lachenden und höhnischen Gesichter um ihn herum und kostete jede Nuance seines Triumphs vollständig aus. Bis er an einem Paar dunkelbrauner Augen hängen blieb. Sie gehörten einem Mädchen, das in einer Gruppe von Zwölftklässlerinnen stand, soweit er sich erinnerte jedoch erst für ihr Abschlussjahr ins Internat gekommen war. Um sie herum herrschten nur Gegiggel und Gelächter. Ein paar der Mädchen waren offensichtlich mehr an Jason und seinen Freunden interessiert als an dem Drama, das sich vor ihnen abspielte. Die Jungs flirteten kräftig. Doch in den Augen dieses einen Mädchens war etwas anderes zu lesen. Sie blickte ohne den Anflug eines Lächelns, ernst und sogar eine Spur überheblich von Amy zu Noah und zurück zu Jason, fast als wüsste sie um die Zusammenhänge, als hätte sie dieses ganze Spiel von Anfang an durchschaut.

Jason war auf eine seltsame, unerwartete Weise irritiert und konnte seinen Blick nur schwer abwenden. Er fragte Ryan, der normalerweise alles über jeden wusste.
„Das ist Kathrin McEvans, muss eine echte Überfliegerin sein. Hat angeblich jetzt schon ein Stipendium für Tasking in der Tasche.“
„McEvans? Nie gehört.“
„Klar hast du. Sie ist die Tochter von diesem Höllenflieger, der im Krieg reihenweise Krauts abgeschossen und dann die Hure geheiratet hat.“
Jason kannte die Geschichte natürlich, sowohl ihren heroischen als auch ihren pikanten Teil, und sah sich veranlasst, Ryan zu korrigieren: „Keine Hure, eine Sängerin.“
Ryan nahm das achselzuckend zur Kenntnis. Jason betrachtete das Mädchen erneut und sie hob nur die Augenbrauen, als sei sie es gewohnt, angestarrt zu werden und als würde sie das alles unendlich langweilen. Nicht die Reaktion, die Mädchen ihres Alters normalerweise zeigten, wenn er ihnen Aufmerksamkeit schenkte. Die Sache begann wirklich interessant zu werden. Bevor er sich eine brauchbare Strategie überlegen konnte, hörte er Mr Norris, den stellvertretenden Direktor, dessen tiefer Bass das Gelächter und Gejohle problemlos durchdrang. „Was in Gottes Namen ist denn hier los?“

Der Geräuschpegel im Speisesaal, der trotz des Schweigegebots während des Essens sowieso meist recht hoch war, machte heute jede normale Unterhaltung unmöglich. Das Ereignis in der Eingangshalle war das Thema des Tages. Die Schüler, die dabei gewesen waren, prahlten mit ihrem Wissen vor denen, die es verpasst hatten. Amy Farell bekam inzwischen wieder Luft und nutzte sie, um unablässig auf ihren Verehrer zu schimpfen, der sicherheitshalber gar nicht erst zum Mittagessen erschienen war. Die Hauslehrer liefen währenddessen zwischen den Tischen auf und ab und ihr Gebrüll sorgte nicht wirklich dafür, dass es ruhiger wurde.
An Jason ging diese ganze Aufregung weitgehend vorbei. Er hatte das Schauspiel inszeniert und seinen Spaß gehabt, was die Zuschauer jetzt daraus machten, lag sowieso nicht mehr in seiner Hand. Er war sich ziemlich sicher, Fields empfand die Geschichte als viel zu peinlich um den Tipp, den er bekommen hatte, zu erwähnen. Und selbst wenn – was konnte Ryan dafür, wenn er sich verhört hatte?
Jason hätte viel lieber noch etwas über dieses Mädchen herausgefunden. Er hatte jedoch keine Lust, sich mit Ryan schreiend oder in Zeichensprache zu verständigen und verbog sich stattdessen den Hals, um sie in der Nische, in der die Mädchentische standen, ausfindig zu machen. Vergeblich.

Als der Nachtisch abgeräumt war, strebten sie wie üblich nach draußen auf den großen, steinernen Pavillon zu, der früher zu entsprechenden Anlässen mit Musikanten bestückt worden war. Heute markierte er einen der beiden Plätze auf dem Internatsgelände, an denen es den Schülern gestattet war zu rauchen. Hier sauber machen zu müssen war nach Toiletten schrubben die unbeliebteste Strafarbeit, die einem aufgebrummt werden konnte. Vor allem weil immer jemand da war, der einem eine Zigarette direkt vor den Füßen austrat, nachdem man gerade fertig gekehrt hatte.

Beherrscht wurde das steinerne Rund natürlich von den männlichen Schülern. Die wenigen Mädchen, die überhaupt in der Öffentlichkeit rauchten, kamen meist nur kurz und immer in Gruppen, ließen sich Feuer geben und zerstreuten sich nach der Zigarette auf dem Rasen oder gingen wieder in die Häuser. Umso erstaunter war Jason, als er die Gestalt von Kathrin McEvans entdeckte, die ein Stückchen vor dem Pavillon an einer der Eichen lehnte und interessiert das Treiben um sie herum beobachtete. Sie war allein, rauchte nicht und er hatte sie hier überhaupt erst ein- oder zweimal gesehen. Ryan fand das ebenfalls auffällig und fragte ihn mit seinem Blick, ob irgendetwas im Gange wäre, von dem er nichts wusste. Jason schüttelte nur den Kopf, legte einen möglichst gelassen wirkenden Gesichtsausdruck auf und schlenderte zu Kathrin hinüber.

Sie schaute kurz zu ihm und nahm nickend Notiz von seinem Erscheinen. Jason fiel nichts Geistreiches ein, deswegen holte er seine Players

hervor und bot ihr schweigend eine an. Er rechnete mit einer Ablehnung, doch sie bediente sich und wartete, bis er auch seine Streichhölzer aus der Tasche genestelt hatte. Mehrere Minuten standen sie nur da, im Rauchen, Beobachten und Schweigen seltsam vereint, als hätten sie einen gemeinsamen Auftrag zu erfüllen. Bis Jasons Neugierde siegte und keinen Raum für Begrüßungen, Vorstellungen oder ähnlich überflüssige Höflichkeiten ließ. „Scheinst dich nicht sehr amüsiert zu haben, vorhin in der Halle.“
„Noah Fields sicherlich auch nicht.“
‚Nein, der bestimmt nicht, aber was spielt das jetzt für eine Rolle?’, fragte er sich. War sie mit ihm befreundet? Dann sollte er das Gespräch schleunigst beenden.
„Obwohl … wenn er auf eine so hirnrissige Geschichte hereinfällt, ist er wirklich selber schuld.“ Sie erwähnte das sehr beiläufig und schaute Jason, dem so langsam ein wenig mulmig wurde, nach wie vor nicht an.
Er passte sich ihrem Ton an. „Was für eine Geschichte?“
Endlich sah sie ihm in die Augen, erneut diese Selbstsicherheit im Blick, die er von Mädchen überhaupt nicht gewohnt war. Sie seufzte, als müsse man ihm alles

erklären und begann: „Du hast dich heute Morgen mit Ryan vor dem kleinen Musikzimmer getroffen, nachdem er Noah die Geschichte mit den Blumen erzählt hat. Ich war drinnen und habe euch gehört.“
Ihre Stimme klang in etwa so emotional wie beim Verlesen des Wetterberichtes. Jason kniff die Augen zusammen. Das war unerwartet und möglicherweise auch gefährlich, wie gefährlich konnte er noch nicht abschätzen. Immer noch auf der Suche nach seiner Schlagfertigkeit stammelte er mäßig intelligent: „Was machst du um diese Zeit im Musikzimmer?“
Er hätte sich über ihr Lächeln gefreut, wenn es nicht ganz so spöttisch ausgefallen wäre. „Die Noten holen, die ich gestern vergessen habe. Falls dir das weiterhilft.“
Natürlich tat es das nicht, im Gegenteil, er hatte sich schon lange nicht mehr so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Es ging nicht wirklich darum, dass sie ihn belauscht hatte, das würden sie schon hinbiegen können. Schließlich standen sein und Ryans Wort gegen ihres und wer war sie schon? Genau das war das Problem: Er hatte keine Ahnung, wer sie war, wieso sie es fertigbrachte, so gelassen und unbeteiligt zu bleiben, was sie von ihm wollte, ob sie Freund oder Feindin war. Schließlich kam ihm ein wenigstens halbwegs brauchbarer Gedanke. „Moment mal, wenn du schon heute Morgen mitbekommen hast, dass wir … wer die Sache geplant hat, warum bist du dann nicht gleich zu Fields gegangen? Oder zu deinem Hauslehrer?“
Er sah ihr direkt ins Gesicht, außerordentlich zufrieden, den Spieß umdrehen zu können. Sie zögerte, schaute einen Moment zu Boden und gab danach mehr von sich preis, als sie ursprünglich vorgehabt hatte. „Weil Amy Farell eine rasend dumme Ziege ist. Danke für die Zigarette.“
Mit diesen Worten ging sie davon, ließ ihn einfach stehen, wartete nicht auf seine Reaktion und sah sich auch nicht mehr nach ihm um.


Kapitel 2



Wie man aus den Familienchroniken entnehmen konnte, hatte sich die Familie Sullivan bereits Anfang des neunzehnten Jahrhunderts jenen Spruch zum Leitmotiv erkoren, der bis heute, auf einen großen Wandteppich gestickt, die Eingangshalle ihres Landsitzes zierte. Er war das Erste, was einem beim Betreten des Anwesens ins Auge fiel und was die Kinder des Hauses auswendig zu lernen hatten. Er lautete:

Rechtschaffenes Handeln und steter Fleiß
Glück und Gottes Segen sind hierfür der Preis



Als sich Jasons Ur-Urgroßvater eine wesentlich kleinere, aber ebenfalls gestickte Darstellung dieses Spruchs über sein Bett hängte, begann er gerade seine Lehre als Werkzeugmacher in einer Schlosserei in London. Zweiundfünfzig Jahre später übergab er seinem Sohn eben jenen Wandbehang sowie eine kleine Fabrik für Werkzeugteile. 1945 gehörte das Unternehmen zu den zwanzig größten des Landes und nicht wenige behaupteten, der unerhörte Reichtum der Familie Sullivan wäre zu einem nicht unerheblichen Teil dem Elend der beiden Kriege zu verdanken. Jasons Vater, Mortimer Sullivan, reagierte auf entsprechende Fragen stets sehr gelassen und betonte, Werkzeugteile konnten schließlich zu allen möglichen Endprodukten verarbeitet werden und was seine Auftraggeber herstellten, läge nun wirklich nicht in seiner Verantwortung.

Bedingt durch den frühen Tod seines Vaters hatte Mortimer die Firma bereits 1940 übernommen. Seine während des Studiums an verschiedenen Eliteuniversitäten geknüpften Beziehungen zu den Söhnen hochrangiger Politiker und das ungeheure Glück, dass seine Produktionsstätten während der Bombardierungen nur marginalen Schaden nahmen, sorgten für den gesellschaftlichen Aufstieg und eine kontinuierlich expandierende Produktion. Die Hochzeit mit Amanda Van Hoet, die verwandtschaftlich dem niederländischen Königshaus nahestand, verschaffte ihm die Verbindung zum Adel und zusätzliche Produktionsstandorte. 1964, als sich Jason, der jüngste seiner drei Söhne, auf den Schulabschluss vorbereitete, gab es nur noch vier Firmen im Land, die höheren Umsatz machten. Mortimer Sullivans erklärtes Ziel und sein größter Antrieb war es, zu Lebzeiten in dieser Rangliste noch weiter nach oben zu steigen.

****



Kathrins Abfuhr – er wusste nicht, wie er es anders bezeichnen sollte – hatte bei Jason einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er erörterte die Sache mit Ryan, der sich normalerweise recht gut in die Köpfe von Mädchen hineinversetzen konnte, aber auch der wusste ihr Verhalten nicht zu deuten.

Kathrin selbst fragte sich tagelang, was in Gottes Namen in sie gefahren war. Es war nicht ihre Art, sich so angreifbar zu machen und doch hatte sie sich während des Gesprächs mit Jason keine Sekunde lang unwohl gefühlt. Jason erging es ähnlich. Beiden kam es vor, als hätten sie eine Art Angebot erhalten, dessen Wert abzuschätzen sie mangels Erfahrung nicht in der Lage waren. Und aus Sorge, sie könnten unbedacht etwas Kostbares aus der Hand geben, gingen sie sich zunächst aus dem Weg. Fast zwei Wochen lang. Bis Noah Fields seine Chance zur Rache gekommen sah.

Es war Samstagnachmittag an einem Wochenende, an dem die Schüler von Oakfield keinen Ausgang hatten. Entsprechend gut besucht waren die Arbeitsgruppen und Freizeitangebote, denn für die meisten war Langeweile schlimmer, als sich mit schwierigem oder unbeliebtem Stoff oder Leibesübungen herumzuschlagen. Ryan kam gerade vom Schwimmen und klopfte mit noch nassen Haaren an Jasons Tür. Er erhielt nur ein Brummen zur Antwort, übersetzte dieses mit „Komm herein, wenn es unbedingt sein muss“ und folgte der Aufforderung.
„Sag mal, Kumpel, willst du dich den ganzen Tag hier verkriechen? Komm wenigstens mit zum Studienkreis.“
Jason schaute nur kurz auf und steckte seine Nase wieder in das Buch, das ihn schon die ganzen letzten Tage beschäftigte. „Was bitte soll ich beim Studienkreis?“
„Mir Chemie verständlich machen. Wenn Houseman uns morgen abfragt, bin ich geliefert. Das mit den gesättigten und ungesättigten Lösungen will mir einfach nicht in den Kopf.“
„Dazu müssen wir nicht ins Haupthaus, das kann ich dir auch hier erklären.“
Ryan seufzte, er kannte diese Diskussionen. Es war nicht einfach, Jason von etwas zu überzeugen, wenn er keine Lust hatte. „Ich habe aber meine Unterlagen gestern drüben gelassen und den Chemieatlas brauchen wir auch. Außerdem will ich wissen ob Literatur noch einmal ausfällt. Und ohne dich macht das alles keinen Spaß, also komm, du kannst dein Buch ja auch im Studiensaal lesen. Was hast du da eigentlich?“
„C.G. Jung. Der ist echt vollkommen verrückt.“
Ryan schüttelte verständnislos den Kopf. „Du

bist verrückt, wenn du dich in deiner Freizeit auch noch mit diesem Psychologiezeug beschäftigst. Als ob wir nicht schon genug zu tun hätten. Dir ist schon bewusst, dass in drei Monaten die Abschlussprüfungen beginnen, nicht wahr?“
Jason zuckte gelassen mit den Schultern. „Und? Gesättigte Lösungen, Algorithmen, die amerikanische Unabhängigkeit … das interessiert doch keinen Menschen. Ich überlege, ob ich Psychologie belegen soll in Tasking.“
„Zusätzlich zu Philosophie und Literatur? Dein Vater wird sich freuen. Wenigstens musst du dir keine Sorgen machen, ob du überhaupt irgendetwas belegen wirst, aber wenn ich morgen in Chemie versage, kann ich mir unsere tolle Eliteuniversität wahrscheinlich abschminken. Also, was ist jetzt?“
Jason hatte den Hinweis durchaus verstanden und da sein Interesse an Ryans Anwesenheit in Tasking möglicherweise sogar größer war als dessen eigenes, gab er sich geschlagen. „Also gut. Geh schon vor und suche uns einen guten Platz am Fenster. Ich lese das Kapitel noch zu Ende und komme dann nach.“

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Etwa zur selben Zeit verlor Linda Ivory einen Aufschlag nach dem anderen an ihre beste Freundin Susan. Sie spielte gegen die Sonne, das allein war jedoch nicht der Grund, warum ihr Tennisschläger eine Art Eigenleben zu besitzen und sich ständig gegen die Richtung zu wehren schien, in die sie ihn bewegen wollte. Susan hatte bereits vorgeschlagen, das Spiel abzubrechen und an einem anderen Tag fortzusetzen, doch das wollte Linda auch nicht. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur eine Sache, die sie wirklich interessierte: die nächste Stunde herumzubringen, bis die Uhr im großen Turm ihre an Big Ben angelehnte Melodie ertönen ließ und fünf Uhr schlug. Dann würde Mr Sacking seine Bürotür öffnen und die Hausarbeiten in Empfang nehmen, an denen seine Schüler in den letzten vier Wochen gearbeitet hatten.

Während sie Susans scharf geschlagener Vorhand hinterher hechtete, malte Linda sich bis ins kleinste Detail aus, wie sie ihrem Lehrer „Zwei Herzen im Sturm“ überreichen würde. Das Stück, das sie den Schlaf der letzten vier Nächte, endlose Bögen Papier und beinahe, aufgrund des Geklappers der Schreibmaschine, auch die Freundschaft zu ihrer Zimmernachbarin gekostet hatte. Es würde ihr Leben von Grund auf verändern und ihm endlich die richtige Richtung geben. Mr Sacking, der nur als Gastlehrer in Oakfield arbeitete, war außerdem Direktor des London Theatre

und hatte beste Beziehungen zu den angesehensten Hochschulen für Schauspiel und Kunst des Landes. Und Linda wusste genau, ihr Stück war besser als alles, was ihre Mitschüler abliefern würden. Ein bisschen verspielt vielleicht, romantisch, mit einem hinreißenden Happy End. Nicht so wie dieser ganze moderne Unsinn. Genau das, was Mr Sacking liebte. Sie wusste, er setzte hohe Erwartungen in sie und war sich sicher, sie würde diese noch übertreffen. Sie wusste, sie hatte das Empfehlungsschreiben so gut wie in der Tasche.
„Linda, der Ball war schon wieder im Aus. Jetzt konzentriere dich doch mal!“

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Jason hatte das Kapitel über den Archetypus der Anima, der weiblichen Seele, die angeblich auch in Männern steckte, beendet und starrte seit mehreren Minuten aus dem Fenster. Was er soeben gelesen hatte, war genau nach seinem Geschmack. Seit er die Welt der Bücher entdeckt hatte, seit diesem einen Moment, der sein Leben mehr bereichert hatte als alles, was ihm seitdem widerfahren war, war er auf der Suche. Er wollte herausfinden, was Menschen dachten und fühlten und warum sie handelten, wie sie handelten. Warum es ihm häufig so schwer fiel, sie zu verstehen. Und weshalb er seit dem Zeitpunkt, als er sich als eigenständiges Wesen begreifen konnte, das Gefühl hatte, anders zu sein als sie.
Bisher hatte er seine Antworten vorwiegend in der klassischen Literatur und modernen Philosophie gefunden. Er verehrte William Blake und Jean-Paul Sartre. Was ihm allerdings in den letzten Wochen durch die Psychologie deutlich geworden war, eröffnete ihm neue Horizonte und verhalf ihm zu einem völlig neuen Verständnis.

Ganz unvermittelt hatte er das Bild von Kathrin McEvans vor Augen, wie sie an den Baum gelehnt ihre Zigarette geraucht hatte. Einzelne Details, die ihm damals gar nicht aufgefallen waren, traten plötzlich deutlich hervor. Zum Beispiel, wie sie vorsichtig ihre Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten hatte, als wolle sie sie so wenig wie möglich berühren. Oder das kleine Grübchen auf der rechten Wange, das durch ihr spöttisches Lächeln zum Vorschein gekommen war. Und mehr als alles andere ihr Blick, der ihn noch stärker als ihre Worte aus der Fassung gebracht hatte. Nachsichtig mit sich selbst lächelte er und machte sich endlich auf den Weg ins Haupthaus, um Ryan bei seinem Chemieproblem zu helfen. Seine Schultasche hängte er sich eigentlich nur aus Gewohnheit über die Schulter.

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Kurz vor fünf, nach einer ausgiebigen Dusche und wieder in Schuluniform, stand Linda mit ihrer Freundin Susan in der Eingangshalle des Haupthauses. Ihre Nervosität hatte sich auf ein beinahe unerträgliches Maß gesteigert. Ihr war heiß, das Herz klopfte und sie spürte, wie ihre Handflächen immer feuchter wurden. Noch ein paar Minuten, dann würden sie nach oben gehen. Mit einem tiefen Atemzug und begleitet von Susans aufmunterndem Lächeln griff sie in ihre Tasche, um das Manuskript hervorzuholen. Einen Moment lang blickte sie konzentriert ins Leere, während sich ihre Hand suchend durch das lederne Innere bewegte. Dann riss sie sich die Tasche von den Schultern und begann, hektisch darin zu kramen. „Es ist nicht da!“, rief sie völlig fassungslos.
Susan versuchte sie zu beruhigen und fragte, ob das Manuskript nicht noch im Zimmer liegen könnte oder ob es eine Kopie gäbe.
„Nein! Ich weiß genau, dass ich es in die Tasche gesteckt habe. Natürlich habe ich das Meiste handschriftlich, aber ich hatte kein Kohlepapier mehr, deswegen ist das die einzige Abschrift. Jemand hat das Manuskript gestohlen, als wir beim Tennis waren und die Taschen im Umkleideraum lagen.“
„Das kann ich nicht glauben. Wer sollte so etwas tun? Am besten gehen wir zu Mr Sacking. Vielleicht hat sich einer unserer Mitschüler nur einen Scherz erlaubt. Falls nicht, müssen wir sowieso mit ihm reden. Er kennt dich gut, er wird dir bestimmt glauben.“

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Zur selben Zeit klopfte Noah Fields an die Tür des Büros seines Hauslehrers. Schüchtern und nervös, als würde er innerlich von widerstreitenden Gefühlen zerrissen, berichtete er ihm von einer merkwürdigen Beobachtung, die er eine halbe Stunde zuvor in der Nähe der Turnhalle gemacht hatte.

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Als Jason und Ryan aus dem Studierzimmer kamen, blieb ihnen noch etwas Zeit bis zum Abendessen. Sie lachten und waren blendender Laune. Ryan hatte dank Jasons Erklärungen innerhalb weniger Minuten verstanden, was ihm seit Wochen Probleme bereitet hatte. Anschließend hatte er Jasons Bericht über die Jungschen Theorien gelauscht, verständlicherweise hatte vor allem das Konzept der Anima ihre Fantasie angeregt und dazu geführt, dass der aufsichtführende Vertrauensschüler sie mehrmals zur Ruhe ermahnen musste. Sie gingen durch die Eingangshalle in Richtung Speisesaal und bemerkten die Ansammlung von Lehrern und Schülern, die sich davor gebildet hatte.
„Das sieht nach einer Taschenkontrolle aus“, meinte Ryan irritiert.
„Samstags? Wenn niemand Ausgang hatte? Ziemlich unwahrscheinlich.“
Doch genau so war es. Ihr Hauslehrer Mr Keats, der stellvertretende Direktor und Mr Sacking standen gemeinsam mit einigen Vertrauensschülern vor dem Eingang und kontrollierten vereinzelte Schüler. Jason kam das Ganze seltsam inszeniert vor.
„Mr Sullivan? Dürfen wir einen Blick in Ihre Tasche werfen?“
Grinsend und mit einem gelassenen Blick zu Ryan übergab er seine Tasche. „Zum Glück haben wir den Schnaps heute Mittag schon leer gemacht.“
Dabei war ihm gar nicht zum Lachen zumute. Und als er sah, wie Mr Sacking ein mit Schreibmaschine getipptes, etwa zwanzig Seiten starkes Manuskript aus seiner Tasche zog und dem stellvertretenden Direktor einen vielsagenden Blick zuwarf, wusste er, er steckte in Schwierigkeiten.
„Was ist das, Mr Sullivan?“ Rhetorischer konnte eine Frage kaum sein.
Jasons Blick wurde enger. „Woher soll ich das wissen? Ich habe gestern nach dem Unterricht zum letzten Mal in die Tasche geschaut und da war das noch nicht darin.“ Er war sich durchaus darüber im Klaren, wie hilfreich ein wenig Diplomatie und Höflichkeit gerade jetzt gewesen wären, doch dazu fühlte er nicht in der Lage.
„Gestern? Nun, dieses Manuskript gehört Linda Ivory und wurde ihr heute Nachmittag gestohlen. Ich frage mich, wie es in Ihre Tasche kommt.“
„Gute Frage, Sir. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie es wissen. Können wir jetzt zum Essen?“
Mr Sacking hatte während seiner Zeit in Oakfield noch keinen Kontakt zu Jason Sullivan gehabt und war auch von keinem anderen Schüler jemals auf diese Art angesprochen worden. Das erklärte, warum es ihm für einen Moment die Sprache verschlug. Mr Keats, in diesem Umgang geschulter, sprang ein. „In mein Büro. Alle. Sofort.“

Der Weg zu Mr Keats` Büro war Jason schon seit Langem bekannt. Er hätte nicht sagen können, wie oft er in den letzten vier Jahren dorthin gerufen worden war, meistens um eine Ermahnung oder Disziplinierung entgegenzunehmen. Doch mehr als einmal war es dabei auch um seine Aufsätze oder Prüfungen gegangen, die in der Regel von überdurchschnittlicher Qualität waren.
In den allermeisten Fällen hatte Jason genau gewusst, warum er gerufen und was ihm zur Last gelegt wurde. Heute war es anders. Er hatte begriffen, etwas war in seiner Tasche gewesen, was dort nicht hätte sein dürfen, doch die Hintergründe dieser Geschichte verstand er nicht annähernd. Ihm wurde übel, während sich alte Erinnerungen aufdrängten. Die kühle und unerbittliche Stimme seines Vaters erklang in seinem Kopf: „Jason, in mein Büro!“
Beinahe seine ganze Kindheit hindurch hatte er erleben müssen, wie jedes außergewöhnliche Ereignis auf dem Landsitz der Sullivans mit ihm in Verbindung gebracht worden war. Jede zerbrochene Fensterscheibe, jedes kaputte Werkzeug, jeder verschwundene Gegenstand hatte ihm diesen Ruf seines Vaters eingebracht. Oft genug hatte er, während er in dessen Arbeitszimmer stand und den langen, abschätzenden Blick über sich ergehen lassen musste, nicht die leiseste Ahnung gehabt, welches Vergehen ihm nun schon wieder vorgeworfen wurde. Es war das gleiche Gefühl gewesen wie jetzt. Und diese Erinnerungen raubten ihm den letzten Rest seiner Schlagfertigkeit.

Mr Keats war erleichtert, weil er durch seine spontane Reaktion diese schwierige Situation in die Hand genommen hatte. Ihm war durchaus bewusst, das nun zwangsläufig folgende Verhör wäre eigentlich Sache des stellvertretenden Direktors gewesen. Doch dieser hatte leider schon mehrmals bewiesen, dass ihm die Erfahrung und das richtige Händchen im Umgang mit manchen Schülern fehlten. Beides war bei kaum jemandem so vonnöten wie bei Jason Sullivan. Mr Keats wusste um die Probleme, die viele Kollegen mit Jasons Art hatten, er selbst gehörte zu den wenigen, die auch seine Qualitäten wahrnehmen und schätzen konnten. Wenn er ehrlich war, hatte er in seiner fünfzehnjährigen Lehrerlaufbahn noch nie einen Schüler gehabt, mit dem er so anregend über philosophische Fragen hatte diskutieren können. Jasons Abhandlung über den kategorischen Imperativ hatte ihm Aspekte von Immanuel Kants Werk aufgezeigt, die er davor noch nicht gesehen hatte und zu gegebener Zeit würde er für die Veröffentlichung dieser Abhandlung in den richtigen Zeitschriften sorgen. Kurz, er war einer der wenigen Fürsprecher, die Jason an dieser Schule hatte und so wie die Sache aussah, würde der Junge einen solchen auch bitter nötig haben.

Jasons Verstand raste. Er und Ryan saßen in der Mitte des Büros, die Lehrer hatten sich hinter und um den Schreibtisch postiert. Mr Sacking hatte das Geschehen des Nachmittags noch einmal zusammengefasst, sodass Jason inzwischen den Ernst der Lage erkannt hatte. Da war der Diebstahl an sich, außerdem hätte einer Schülerin ein „Durchgefallen“ gedroht, ganz abgesehen von der Schmach, der Aufregung und der heiklen Sache mit dem „geistigen Eigentum“, das an dieser Schule sehr hoch gehalten wurde. Das alles war beileibe keine Lappalie. Weder der gute Ruf seiner Familie noch die regelmäßigen Zuwendungen seines Vaters an die Schule würden ihm diesmal heraushelfen.
Ryan startete heroisch einen Rettungsversuch: „Er kann das gar nicht getan haben, er war die ganze Zeit mit mir im Studierzimmer!“
Mehrere Nachfragen ergaben natürlich, dass Jason erst gegen zwanzig nach vier in das Studierzimmer gekommen und alleine zum Haupthaus gelaufen war, was ihm genügend Zeit verschafft hätte, das Manuskript zu stehlen. Jason erklärte, er hätte noch einen Abstecher zum Pavillon gemacht und die Tasche in der Halle abgelegt, was irgendjemand ausgenutzt haben könnte, um ihm das Manuskript unterzuschieben.
„Seltsamerweise wurden Sie dabei jedoch nicht gesehen. Hingegen haben wir eine glaubhafte Zeugenaussage, Sie wären zu dieser Zeit in der Turnhalle gewesen.“
„Das ist doch Blödsinn, was soll ausgerechnet er in der Turnhalle?“ Ryan übernahm weiterhin Jasons Verteidigung. Jason selbst hatte das Gefühl, jedes weitere Wort wäre überflüssig und das Urteil gegen ihn sowieso längst gefällt, genau wie in seiner Kindheit.

Mr Keats, der nach wie vor, allerdings als einziger der Lehrer, nicht völlig von Jasons Schuld überzeugt war, versuchte ihm eine Brücke zu bauen. „Jetzt lassen wir doch einmal dieses ganze Gerede von Diebstahl beiseite. Vielleicht war es nichts als ein Scherz, Jason? Du hast das Manuskript genommen, um Linda einen kleinen Schrecken einzujagen. Ich meine, es war ja noch nicht ganz sechs Uhr, als wir dich getroffen haben. Du hättest ihr das Stück rechtzeitig zurückgegeben, nicht wahr?“
Beinahe flehend schaute er seinen Schüler an, begleitet von einem nachdrücklichen Nicken des stellvertretenden Direktors. Vor allem in Hinblick auf das Gespräch, das er mit Jasons Vater würde führen müssen, erschien ihm diese Variante überaus annehmbar. Natürlich würde es eine Strafe geben, doch um eine Suspendierung käme man auf diese Weise vielleicht herum.
„Nein, Sir. Ich war nicht in der Turnhalle und ich habe das Manuskript nicht genommen.“ Jason sah seinem Hauslehrer direkt in die Augen, wohl wissend, dass er dessen angebotene Hand ziemlich unsanft ausgeschlagen hatte.
Mr Keats atmete tief durch. „Nun gut. Ihr beide wartet im Vorraum. Ihr wisst selber, es wäre eine ziemlich dumme Idee, irgendwo anders hinzugehen. Wir werden uns beraten.“

Jason und Ryan setzten sich auf die unbequemen Holzstühle vor dem Büro. Um sie herum herrschte erstaunliche Ruhe. Die Geschichte müsste doch längst ihre Runde gemacht und neugierige Mitschüler auf den Plan gerufen haben. Vielleicht hatte Keats einfach den Gang absperren lassen.
„Was glaubst du, wer dir das Ding untergeschoben hat?“, versuchte Ryan ein Gespräch in Gang zu bringen. Er wurde nicht recht schlau aus Jasons Verhalten. Normalerweise reagierte sein Freund sehr gelassen auf Widrigkeiten und hatte in jeder Situation einen schlagfertigen Spruch parat. Ryan wusste durchaus um die Schwierigkeiten, die Jason mit seiner Familie hatte, sie kannten sich nun wirklich lange genug und er war häufig bei den Sullivans zu Gast gewesen. Doch hier in Oakfield merkte man Jason eigentlich nur selten etwas von diesen Problemen an.

Jason hätte ihm gerne gesagt, wie er sich fühlte und vor allem, wie froh er über Ryans Unterstützung war. Er musste sogar kurz lächeln, weil die Situation, in der sie sich vor vielen Jahren kennengelernt hatten, dieser hier so ähnlich gewesen war. Doch er fand die richtigen Worte nicht, daher schwieg er und wartete, den Blick auf den grünen Linoleumboden gerichtet, auf sein Urteil.
Hin und wieder hörte man hinter der Tür eine Stimme laut werden, scheinbar waren sich die Lehrer noch immer nicht einig. Plötzlich vernahmen die beiden Jungen schnelle Schritte, die den Gang hinuntereilten. Noch bevor Jason den Kopf hob, hörte er: „Würdest du mich jetzt endlich loslassen?“
„Nein, ich habe meine Order, hier darf niemand durch.“
„Wie oft soll ich es dir denn noch erklären? Ich muss dringend mit Mr Keats sprechen. Ich will eine Aussage zu dem Fall machen!“

Jason schaute auf. Einer der Vertrauensschüler, die offenbar den Gang abgesperrt hatten, versuchte vergeblich dem wütenden Blick einer Zwölftklässlerin standzuhalten. Es war Kathrin McEvans. „Geh jetzt da hinein“, kommandierte sie mit ausgestrecktem Arm in Richtung Bürotür, „und sage ihnen, ich habe etwas mitzuteilen.“
Der Vertrauensschüler gab klein bei und klopfte. Kathrin nickte Ryan zu und sah Jason direkt in die Augen. Derselbe Blick wie damals in der Halle. Er hatte keine Ahnung, was sie hier wollte. „Hast du irgendetwas mit der Sache zu tun?“
Er hätte gerne mit einem guten Spruch geantwortet, doch ihm wollte partout keiner einfallen, deswegen sagte er nur: „Nein.“
„Gut.“ Sie ging zur Tür, die gerade geöffnet wurde, blickte noch einmal kurz zurück und enthüllte: „Der Zeuge, der dich angeblich gesehen hat … ist Fields!“

****



Kathrin hatte ihren freien Tag weitgehend an den Orten verbracht, an denen sie sich seit ihrer Ankunft in Oakfield sowieso vorrangig aufhielt: in der Bibliothek und im Park. Sie hatte unterschätzt – und das war ihr bereits nach den ersten Tagen klar geworden – wie schwer ihr der Wechsel von dem guten aber unbekannten Gymnasium in Sussex, auf das sie bisher gegangen war, in die Abschlussklasse nach Oakfield fallen würde. Sie hatte einiges an Lehrstoff nachzuholen, was ihre stete Anwesenheit in der Bibliothek erklärte.
Vor allem aber musste sie sich in einer Welt zurechtzufinden, mit deren Umgangsformen sie zwar grundsätzlich vertraut, deren feine Spielarten ihr jedoch noch unbekannt waren. Schon allein aufgrund ihrer Herkunft hatte sie sich Anerkennung und Respekt von Lehrern wie auch Schülern hart erarbeiten müssen. Sie hatte hervorragende Noten und war in der Lage, sich gegen Anfeindungen zur Wehr zu setzen, insofern hatte sie inzwischen keine Schwierigkeiten mehr, allerdings war beides mit einem erheblichen Aufwand an Energie verbunden. Mehr als einmal hatte sie sich im letzten halben Jahr gefragt, ob ein Studium an einer Eliteuniversität diese ganze Plackerei tatsächlich wert war. Ihr fehlte ihre Großmutter oder überhaupt irgendein Mensch, mit dem sie ihre Nöte und Sorgen teilen konnte. Doch sie konnte jetzt nicht aufgeben. Das war sie Major Jones – und damit irgendwie auch ihrem Vater – schließlich schuldig.

Also bereitete sie sich weiter auf die Abschlussprüfungen vor, lernte in jeder freien Minute und hielt sich von den meisten Freizeitangeboten fern. Sie hatte keine Freunde, man ließ sie in Ruhe, und da sie das Alleinsein durchaus gewöhnt war, akzeptierte sie diesen Zustand. Hilfreich und beinahe euphorisierend war eine Entdeckung gewesen, die sie erst im letzten Monat gemacht hatte und die ihre Leistungen und ihre Effizienz beim Lernen sprunghaft ansteigen ließ. Wenn sie früher Probleme mit einer Aufgabe gehabt hatte, hatte sie dazu tendiert, sich so lange darin zu verbeißen, bis sie zu einer Lösung gekommen war. Da sie häufig zu stolz war, einen Lehrer oder Tutor um Hilfe zu bitten, hatte sie das manchmal Stunden oder Tage, vor allem aber Schlaf gekostet. Nach einer dieser Nächte, die sie in stundenlang unveränderter Körperhaltung am Schreibtisch verbracht hatte, hatte sie das unstillbare Bedürfnis überkommen, sich zu bewegen. Also war sie steif in ihren Trainingsanzug und ihre Laufschuhe geschlüpft und in der frühen Dämmerung hinaus auf das noch menschenleere Gelände gelaufen. Eine große Runde um den See hatte ihr noch nicht gereicht, also war sie eine zweite gelaufen. Vollkommen übermüdet und beinahe in Trance hatte sie die Matheaufgabe vor sich gesehen, an der sie die ganze Nacht gesessen war. Und plötzlich wusste sie die Lösung. Schwer atmend war sie zunächst stehen geblieben, dann zurück in ihr Zimmer gerannt und hatte ihre neue Idee überprüft, an der rein gar nichts auszusetzen gewesen war.

Seit diesem Tag ersetzte sie stundenlanges und sinnloses Brüten, wann immer möglich, durch Laufen und sie konnte schon längst nicht mehr zählen, wie viele Erkenntnisse ihr dabei bereits gekommen waren.

Auch an diesem Samstag war sie mittags zunächst in die Bibliothek gegangen und danach hatte sie sich, angefüllt mit neuem Wissen, das verarbeitet werden wollte, auf den Weg in den Park gemacht. Sie war mehrere Stunden unterwegs gewesen und hatte erst kurz nach sechs, als sie zum Abendessen gehen wollte, von den aufregenden Ereignissen im Internat erfahren. Da die Lehrer jegliche Auskunft verweigerten, war die Gerüchteküche bereits hochgekocht. Kathrins Zimmernachbarin berichtete von einem tätlichen Angriff auf Linda Ivory, bei dem Jason ihr das Manuskript aus der Hand gerissen und anschließend verbrannt hatte.
„Und als sie ihn festgenommen haben, hat er immer noch gegrinst. Zum Glück hat Noah Fields das Ganze beobachtet, sonst könnte man Jason gar nichts nachweisen!“
„Noah Fields?“, hakte Kathrin skeptisch nach.
„Ja, ich glaube, er ist sogar von Jason bedroht worden und hat trotzdem ausgesagt. Das finde ich wirklich mutig!“
Kathrins Stimme spiegelte ihr Unverständnis. „Warum in aller Welt sollte Jason Lindas Hausarbeit zerstören?“
„Was weiß ich, der kommt doch immer auf so verrückte Ideen. Doch dieses Mal ist er zu weit gegangen.“

Kathrin hörte sich noch ein paar andere Versionen an, die in ihren Ohren alle gleichermaßen unsinnig klangen. Sie hätte später nicht mehr sagen können, wann genau sie die Entscheidung traf, in dieser Sache Partei zu ergreifen. Und ob es tatsächlich nur ihr, zugegebenermaßen ausgeprägter, Gerechtigkeitssinn war, der dazu Ausschlag gab.

****



Nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass sich Jasons Stimmung verändert hatte. Er saß immer noch vornüber gebeugt und starrte den Boden an. Doch sein Gesichtsausdruck hatte sich gewandelt – resignierte Wut war gespannter Konzentration gewichen. Kathrins letzter Satz hatte ihn endlich begreifen lassen, was geschehen war. Wenn er den Lehrern die ganze Geschichte erzählte, würde zumindest Mr Keats ihm glauben und er würde keine Strafe auf sich nehmen müssen, die ihm gar nicht zustand.
Trotzdem zögerte er. Er versuchte zu hören, was hinter der Tür vor sich ging, hatte aber keinen Erfolg. Er warf einen kurzen Blick zu Ryan, der zuckte nur mit den Schultern, konnte sich auch nicht vorstellen, was Kathrin mitzuteilen hatte und auf welche Weise es hilfreich sein würde.

Es dauerte ein paar Minuten, dann öffnete sich die Tür erneut. Mr Keats erschien und winkte Jason herein. Die Lehrer standen nahezu unverändert auf ihren Positionen, Kathrin befand sich links von ihm, ob als Anklägerin oder Verteidigerin würde sich wohl gleich herausstellen. Der stellvertretende Direktor ergriff das Wort: „Jason, würden Sie uns bitte noch einmal erläutern, wo Sie die Zeit zwischen Viertel vor und zwanzig nach vier verbracht haben?“
„Das habe ich schon getan. Ich wüsste nicht, warum …“
„Es ist okay, Jason. Du brauchst mich nicht zu schützen, ich habe ihnen schon gesagt, dass wir am See waren.“
Wäre sie nicht das einzige Mädchen im Raum gewesen, er hätte nicht geglaubt, dass diese Stimme zu der Kathrin gehörte, mit der er am Pavillon gesprochen hatte. Er unterdrückte den ersten Impuls, ihr ins Gesicht zu starren, blickte weiter zu Boden und versuchte zu verstehen, was genau sie vorhatte und welche Rolle er dabei spielen sollte.
„Jason?“, sein Hauslehrer baute ihm erneut eine Brücke. „Ist das wahr? Warst du mit Kathrin am See?“
Jason atmete tief. „Ja, Sir.“

Mr Sacking war noch nicht zufrieden. „Und warum haben Sie uns das vorhin nicht gesagt?“
Erneut sprang Kathrin ein. „Weil ich ihn darum gebeten habe, Sir. Meine Großmutter sieht es nicht gerne, wenn ich mich … na ja, mit Jungen treffe. Sie sagt, der Abschluss sei wichtiger.“
„Eine weise Frau, Ihre Großmutter. Nun?“, fragte Mr Keats und blickte den stellvertretenden Direktor an. Der war der Entwicklung der Ereignisse nicht abgeneigt, musste allerdings auch an den Ruf seiner Schule denken.
„Nun haben wir einen Zeugen, der Sullivan an der Turnhalle gesehen hat und eine Zeugin, die mit ihm am See gewesen sein will. Woher wissen wir, was wahr ist?“
„Der Sohn vom Hausmeister hat uns beobachtet.“
Dieses Mal schaffte Jason nicht, sich zu beherrschen und starrte Kathrin an, worauf sie mit sorgloser Stimme fortfuhr: „Du hast ihn wahrscheinlich nicht bemerkt, weil du immerzu auf das Wasser geschaut hast. Er hat im Garten bei den Beeten gearbeitet.“
„Nun, das lässt sich ja leicht feststellen“, bemerkte der stellvertretende Direktor. „Oliver!“ Der Vertrauensschüler, an den Jason überhaupt nicht mehr gedacht hatte, kam aus dem Schatten des Bücherregals hervor. „Hole den Jungen vom Hausmeister her. Und sieh nach, ob an den Beeten etwas gemacht worden ist.“

Wie sich herausstellte, waren die Beete frisch umgegraben und Henry Bowers bestätigte, er wäre den ganzen Nachmittag damit beschäftigt gewesen. Daher hätte er auch genau beobachten können, wie Kathrin und Jason vom Mädchenhaus zum See gelaufen waren.
„Und anschließend ist Jason zum Pavillon gegangen und jemand hat ihm in der Zwischenzeit das Manuskript in die Tasche gesteckt. Das klingt doch plausibel. Auf jeden Fall haben wir nun zwei Zeugen mit einer stimmigen Geschichte, im Gegensatz zu der etwas vagen Aussage Ihres

Zeugen, Mr Norris.“ Mr Keats Betonung verdeutlichte, wie wenig ihn diese Variante von Beginn an überzeugt hatte.
„Trotz allem haben wir einen Diebstahl. Und möglicherweise auch noch eine falsche Verdächtigung“, warf der stellvertretende Direktor ein.
„Mag sein. Aber das muss in Ruhe geklärt werden. Ich gehe davon aus, wir können Jason entlassen. Und Mr Sacking kann sich inzwischen dem Manuskript widmen, das ja glücklicherweise wieder aufgetaucht ist.“
Der stellvertretende Direktor, der immer noch an mögliche Konsequenzen für die Schule dachte, nickte nach einer angemessenen Pause und forderte die Schüler mit einer Handbewegung auf, das Büro zu verlassen.

Ryan hatte sich von seinem Stuhl erhoben und kam den beiden entgegen. „Und? Was ist jetzt?“, fragte er brennend vor Neugierde.
Kathrin sagte kein Wort und Jason hatte selbst zu viele Fragen, die nach einer Antwort verlangten. Er drückte Ryan seine Tasche in die Hand und sagte: „Alles in Ordnung, so wie es aussieht. Geh schon zum Pavillon. Ich komme gleich nach und erzähle dir alles.“
Dann wandte er sich an Kathrin: „Und du … komm bitte mal mit.“
Ohne sich zu versichern, ob sie ihm folgte, ging er den Gang entlang, durch den Seitenflügel die Treppen hinunter, bis sie zur Küche und den Versorgungsräumen kamen. Dort bog er noch einmal um die Ecke und öffnete eine kleine, kaum mannshohe Holztür, die zu den Gärten führte. Nun drehte er sich um und nachdem Kathrin die Türe wieder geschlossen hatte, zündete er beiden eine Zigarette an.

Er lief auf und ab, um seine Anspannung zu mildern und konnte erst jetzt die für ihn wichtigste Frage loswerden. „Warum hast du das gemacht?“
„Willst du eine ehrliche Antwort?“, erkundigte sie sich. Wenigstens hatte ihre Stimme wieder den gewohnten Klang.
„Ich bitte darum.“
„Ich weiß es nicht. Ich habe erst beim Abendessen mitbekommen, was geschehen ist. Ich habe dir die Sache einfach nicht zugetraut. Außerdem hatte Fields seine Finger im Spiel.“
„Fields!“, Jasons Schritte wurden fester. „Ich bin gespannt, was ich mit ihm anstelle, wenn er mir unter die Finger kommt.“
„Am besten gar nichts“, erwiderte sie mit einem unschuldigen Blick.
Irgendwie nahm er ihr diese Seid-doch-bitte-nett-zueinander-Nummer nicht ab, deswegen schaute er sie nur fragend an.
„Nun ja, er wird darauf gefasst sein, dass du dich rächst und dann vielleicht mit einer noch härteren Geschichte aufwarten. Wenn du ihn allerdings ignorierst und so tust, als wäre nichts geschehen, wird er das für Taktik halten und permanent auf irgendeine Aktion von dir lauern. Was sich möglicherweise nicht besonders förderlich auf seine Noten auswirken wird.“
Jason war ernsthaft verblüfft. „Wow. Wo hast du gelernt, so gehässig zu sein?“
„Hier, zum größten Teil. Den Rest habe ich wahrscheinlich von meiner Mutter.“

Kathrin hätte sich in ihrer Haut weitaus wohler gefühlt, wenn sie nicht selbst so erstaunt über ihre Worte gewesen wäre. Jason überging die Bitterkeit in ihrer Stimme, nicht aber ihre Offenheit. „Dann hat sie dir wenigstens ein paar Talente vererbt. Das Einzige, was ich von meiner Familie gelernt habe, ist, wie man sich fühlt, wenn man ständig zum Sündenbock gemacht wird.“
Kathrin nickte einige Male und erklärte: „Sieht so aus als müssten wir beide lernen, unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.“
„Ja, so sieht es wohl aus.“ Jason hatte aufgehört herumzulaufen. Ihm fiel noch eine Frage ein. „Was war eigentlich mit Bowers?“
Kathrin zuckte mit den Schultern. „Ich habe letzte Woche den größten Teil seines Französisch-Aufsatzes für ihn geschrieben.“
Jason konnte sich weder ein bewunderndes Lächeln noch ein Kopfschütteln verkneifen. Er überlegte kurz und deutete auf eine Stelle in Richtung des Sees. „Warst du schon mal beim alten Labyrinth?“
Kathrin verneinte. Der Vertrauensschüler, der ihr an ihrem ersten Tag das Gelände gezeigt hatte, hatte sie auf dieses gartenbauliche Experiment des letzten Jahrhunderts hingewiesen und betont, es sei absolut verboten, sich zwischen den zugewucherten Hecken herum zu treiben.
„Da gibt es einen steinernen Torbogen mit Bänken, ganz netter Platz. Ryan und ich treffen uns dort oft abends, bevor sie die Häuser zumachen. Man kann ihn von den anderen Gebäuden aus nicht einsehen. Und diese Tür hier ist eigentlich immer offen.“

Die Schüler wurden angehalten, sich unter der Woche nach dem Abendessen nur noch in ihren Zimmern oder den Gemeinschaftsräumen aufzuhalten, nicht mehr am Pavillon oder anderswo im Park. Um neun Uhr wurde das Mädchenhaus abgeschlossen, eine Stunde später die Jungenhäuser. Am Wochenende durften sie sich länger draußen aufhalten, aber beinahe jeden Ort musste man mit anderen teilen, was ein weiterer Grund dafür war, warum sich Kathrin so oft in die Bibliothek oder in den Park zurückzog. Einen zusätzlichen Ort der Ruhe zu haben, erschien ihr ausgesprochen reizvoll.


Kapitel 3



Wie Kathrin vorausgesagt hatte, machte es Jason in den kommenden Wochen wesentlich mehr Freude, mit Fields und seinen Ängsten zu spielen als konkrete Pläne gegen ihn zu schmieden. Ryan entwickelte eine bewundernswerte Perfektion darin, Noah in unregelmäßigen Abständen bei Begegnungen im Treppenhaus oder Speisesaal ein spöttisches Lächeln zuzuwerfen oder ihm einfach nur zuzunicken, als wollte er sagen: „Denke bloß nicht, wir hätten dich vergessen. Wir warten nur auf die passende Gelegenheit.“
Fields beschwerte sich bei seinem Hauslehrer und dem stellvertretenden Direktor, da Lächeln und Nicken jedoch nur schwer als Belästigung oder gar als tätlicher Angriff interpretiert werden konnten, erreichte er damit lediglich, dass seine Glaubwürdigkeit bei den Lehrern und seine Beliebtheit bei den Mitschülern endgültig den Bach hinuntergingen.

Einige Tage nach dem Gespräch mit Jason machte Kathrin während einer ihrer Laufrunden einen Abstecher zu den Resten des Labyrinths, das zu seinen besten Zeiten bestimmt einen Hektar umfasst hatte. Ein großer Teil der Hecken war inzwischen herausgerissen worden, die übrig gebliebenen waren mannshoch und verwachsen, viele Wege waren schon nicht mehr begehbar. Mit einem leicht mulmigen und gleichzeitig erregenden Gefühl begab sie sich in den Schatten der Pflanzen und fand den von Jason beschriebenen Ort erstaunlich schnell. Niemand war dort, doch der Torbogen, die steinernen Bänke und die Hecken gaben ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Die Geräusche vom Haupthaus klangen nur noch gedämpft herüber und tatsächlich konnte man diesen Platz nicht einsehen. Sie blieb länger als sie vorgehabt hatte.

Als sie ein paar Tage später nach dem Abendessen erneut zum Labyrinth ging, hörte sie schon aus der Entfernung die Stimmen von Jason und Ryan. Sie zögerte zunächst und gab sich dann doch einen Ruck. Die jungen Männer hatten nicht mit ihrem Erscheinen gerechnet, sprangen auf und verstummten. Alle drei standen einen Moment verunsichert da, Kathrin war innerlich bereits dabei, wieder umzukehren, als Ryan sie begrüßte. „Hallo, wir haben uns schon gefragt, wann du mal vorbeikommst.“
Er bot ihr eine Zigarette an und Jason zauberte aus den Hecken eine Flasche Ginger Ale hervor. Beides nahm sie schweigend in Empfang. Sie redeten überhaupt nicht viel bei diesem ersten Treffen. Kathrin bewunderte den Platz, sie sprachen kurz über Fields, der letzte Ball zum Frühlingserwachen und natürlich die Prüfungen.
Ryan empörte sich darüber, warum sich ein ganzes Land mit einer so ungeheuer unlogischen und komplizierten Sprache wie Französisch herumschlug. „Wobei mir das ja vollkommen egal wäre, sollen sie sich doch ihre Zungen verknoten. Nur warum muss ich als Engländer mir das antun?“
Jason lehnte sich gegen den Torbogen. „Weil du dadurch nicht mehr auf mittelmäßige Übersetzungen angewiesen bist und in den außerordentlichen Genuss kommen kannst, Baudelaire oder Sartre im Original zu lesen.“
„Und wer außer dir ist so verrückt, darin einen Genuss zu sehen?“
„Nun ja“, wandte Kathrin zögernd ein, „ich habe zumindest schon Baudelaire gelesen und fand ihn ganz interessant.“
„So.“ Ryan musste sich den Wind in seinen Segeln erst wieder suchen. „Und so etwas wie das französische Partizip Perfekt findest du auch ganz interessant?“
„Nicht wirklich. Aber ich kann es dir erklären, wenn du möchtest.“
Ryan seufzte tief. „Ryan Abott, Sohn des britischen Innenministers, verbringt seine Freizeit mit dem vollkommen verrückten Sohn der Sullivans und lässt sich seit Neustem auch noch Nachhilfe von einem Mädchen geben. Das sind ja rosige Aussichten.“
„Weißt du was, Kumpel?“, Jason grinste und klopfte ihm derb-freundschaftlich auf die Schulter. „Wenn du erst deine Empfehlungsschreiben in der Tasche hast, fragt dich kein Mensch mehr, wie du dazu gekommen bist. Ihr könnt euch ja hier zum Lernen treffen, dann kriegt es niemand mit.“

Sie trafen sich so oft es möglich war, obwohl ihnen das verregnete Frühjahr recht häufig einen Strich durch die Rechnung machte, sodass Kathrin sich alternative Strategien ausdenken musste. Sie war selbst ein wenig verblüfft darüber, mit welchem Eifer und welcher Freude sie sich die Aufgabe zu eigen machte, Ryan durch die Französischprüfung zu bringen. Sie entwarf Aufgabenblätter mit Grammatikübungen oder Übersetzungen, die sie Ryan mittags im Studienkreis unauffällig zukommen ließ und abends ebenso unauffällig in der Bibliothek wieder in Empfang nahm und korrigierte. Man verständigte sich mit Blicken oder Hinweisen auf kleinen Zetteln und Jason erhöhte die Spannung, indem er hin und wieder eine dieser Botschaften aus Ryans Schuluniform fischte und öffentlich bekannt machte. "Heute, 17 Uhr am Bogen. Konjunktiv!

Na, was heißt das denn jetzt? Eine heimliche Verabredung, aber nur im Konjunktiv?"
Er erzielte damit nicht ganz die Aufmerksamkeit, die er sich erhoffte. Scherze dieser Art von Jason waren ein alter Hut und weckten nur noch bei wenigen ihrer Freunde Interesse. Außerdem war Ryan niemand, auf dessen Kosten man sich lustig machte. Er genoss weitaus mehr Respekt unter seinen Mitschülern, als ihm selbst bewusst war und in Oakfield wurde, auch unter den Lehrern, viel darüber diskutiert, warum ausgerechnet er und Jason so eng befreundet waren.
Man hielt Ryan für einen im allgemeinen besonnenen und aufrichtigen jungen Mann, höflich im Umgang und von tadelloser Herkunft. Schulisch war er vielleicht nicht über die Maßen talentiert, doch man ging davon aus, er würde seinem Vater in die Politik folgen und hielt seine anderen Qualitäten für wesentlich wertvoller. Kaum jemand ahnte, wie sehr ihm die Rolle des netten Jungen aus gutem Hause zu schaffen machte und wie wenig sie dem tatsächlichen Reichtum seines Charakters gerecht wurde.

Er und Jason hatten sich kennengelernt, als sie zwölf gewesen waren und die Familie Abott einen Teil des Sommers auf dem Landsitz der Sullivans verbracht hatte. Ryan hatte bei seinen ersten zaghaften Versuchen, Croquet zu spielen, einer steinernen Aphrodite den Kopf abgeschossen, aus Angst diese Missetat jedoch zunächst verschwiegen. Als die enthauptete Statue entdeckt worden war, hatte man wie üblich Jason dafür verantwortlich gemacht, doch das hatte Ryan nicht akzeptieren können. Sein spontanes Geständnis hatte Jason die unverdiente Strafe erspart und den Grundstein zu ihrer Freundschaft gelegt.

All das und die Tatsache, dass er Jason besser kannte als jeder andere auf der Welt, ließ ihn über den Spott seines Freundes nur milde lächeln. Er schnappte sich den Zettel, steckte ihn wieder ein und entgegnete: „Tja, Kumpel, ich habe

wenigstens eine Verabredung heute Abend. Glaube bloß nicht, ich würde dich mitnehmen!“

Zwei Stunden später saßen Kathrin und Ryan auf der einen Bank und setzen sich mit dem französischen Konjunktiv auseinander, während Jason auf der anderen Bank lag und sich mit Freuds Theorie des Ödipuskomplexes beschäftigte.
„Also“, wollte Kathrin gerade wissen. „Man könnte etwas hören. Heißt?“
„On entendrait quelque chose. Das ist ja kein Problem. Aber hier: Der Baum würde verdorren. Was heißt verdorren?“
„Dessécher“, kam gelangweilt von der anderen Bank.
Ryan seufzte. „Jason? Wolltest du etwas sagen?“
„Wusstet ihr schon, Freud war ein richtiges Mamasöhnchen. Wenn meine Mutter kaum älter wäre als ich selbst und dazu noch so gut aussehen würde, hätte ich bestimmt auch Lust, meinen Vater umzubringen.“
Ryan verdrehte die Augen. „Bitte, wovon redest du?“
„Nicht so wichtig“, feixte Jason. „Wie heißt der nächste Satz?“
Ryan seufzte. „Eigentlich wollten wir lernen und nicht vorgesagt bekommen. Mag sein, dass dich das langweilt. Ich weiß, du liest ein Buch einmal durch und schreibst danach eine erschöpfende Abhandlung darüber, doch wir Normalsterblichen müssen uns auf Prüfungen eben vorbereiten.“
„Wenn du das alles nur für die Prüfung lernst, kannst du es gleich bleiben lassen.“
„Wieso?“, schaltete Kathrin sich ernsthaft interessiert ein. „Wie machst du es?“
Jason zuckte mit den Schultern. „Ganz einfach. Im Prinzip kann sich in jedem Buch die Lösung für alles verbergen und genau so lese ich es. Sofern ich nicht nach zwei Seiten feststelle, dass es purer Nonsens ist.“
„Das machst du selbst mit einer französischen Grammatik?“
„Klar. Irgendeinen Grund wird es geben, warum sie so reden, wie sie reden.“
„Ja“, sagte Ryan, dem es bei solchen Themen immer ein wenig mulmig wurde, „Jason hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als noch zu Lebzeiten den Sinn des Lebens zu entdecken.“
Jason blieb ruhig. „Immer noch besser, als mich auf eine politische Karriere vorzubereiten, die mich nicht die Bohne interessiert.“
Ryan seufzte erneut. „Das ist meine Sache, Jason. Es wäre nett, wenn du dich da heraushalten würdest. Ich schreibe dir auch nicht vor, was du machen sollst.“
Sicherheitshalber wechselte er das Thema. „Kathrin, was willst du eigentlich studieren?“
Kathrin hatte den Wortwechsel der beiden sehr genau verfolgt und dachte noch über das nach, was nicht laut gesagt worden war. „Hm. Wenn ich es schaffe, würde ich gerne Medizin studieren.“
Ryan nickte anerkennend. „Dann verstehe ich, warum du so gute Noten brauchst. Warum ausgerechnet Medizin?“
„Zum einen, weil ich es unglaublich faszinierend finde, wie alles im Körper zusammenhängt. Außerdem gibt es wohl kaum etwas Wichtigeres als Krankheiten zu heilen, oder nicht?“
„Das Mamasöhnchen würde jetzt wahrscheinlich sagen, du willst unbewusst deinen Vater retten.“
Kathrin schaute Jason verwirrt an: „Mein Vater ist seit achtzehn Jahren tot, wie soll ich ihn da retten?“
Ryan legte ihr die Hand auf den Arm. „Manchmal ist es sinnvoll, einfach nicht hinzuhören. Vor vier Wochen hat er noch Vorträge über moralisches Handeln gehalten, im Moment scheint die Psychoanalyse im Vordergrund zu stehen. Schade nur, dass er damit nicht bei sich selbst anfängt.“
„Glaube mir, Kumpel“, erwiderte Jason, stand auf und streckte sich, „du würdest gar nicht wissen wollen, was dabei herauskäme. Um mal wieder zum Konjunktiv zurückzukommen.“

Etwa eine Woche vor den Prüfungen saßen Ryan und Jason auf ihren Bänken und läuteten mit einigen Flaschen Newcastle Beer

, die sich Jason für teures Geld aus der Küche hatte schmuggeln lassen, das Wochenende ein, als Kathrin vollkommen atemlos zwischen den Hecken erschien. Sie war verschwitzt, trug ihren Trainingsanzug, der mehrere dunkle Flecken aufwies, ihr Haar war wirr und ihre Augen funkelten vor Erregung. Sie hatte vorgehabt, nach dem Mittagessen noch einige Runden zu laufen, um sich intensiv mit dem Indian Independence Act

auseinanderzusetzen. Vorher war sie noch zur Postausgabe gegangen und hatte einen unerwarteten Brief in Empfang genommen, der nun zerknittert in ihrer zur Faust geballten Hand lag. Aus den geplanten zwei oder drei Runden war ein Langstrecken-Geländelauf geworden und an Britische Geschichte war nicht zu denken gewesen. So sehr wie heute hatte sie noch nie gehofft, die beiden Jungs im Labyrinth anzutreffen. So sehr hatte sie noch nie das Bedürfnis gehabt, mit ihnen zu reden.

„Ihr werdet nicht glauben, was passiert ist.“
Ryan und Jason waren einigermaßen überrascht über Kathrins Zustand, deuteten ihn aber zutreffend als wütend und nicht als ängstlich oder erschüttert. Daher tippte Jason recht gelassen: „Tasking nimmt keine Mädchen mehr auf?“
„Nein, viel schlimmer. Der ist von meiner Großmutter.“ Sie hielt die Überreste des Briefes in die Höhe und pfefferte ihn auf die Bank. „Sie will eine Kreuzfahrt

machen!“
Die beiden jungen Männer konnten an dieser Nachricht nichts Dramatisches entdecken. „Ist doch schön für sie.“
„Schön? Sie ist vierundsiebzig! Und hat mit einem Gymnasialrat aus meiner ehemaligen Schule angebandelt. Der ist fünf Jahre jünger als sie und hat sie offenbar eingeladen, schaut euch das doch an!“
Jason tat ihr den Gefallen, holte den Brief aus dem Umschlag und las willkürlich einige Zeilen vor: „Weißt Du, Liebes, ich habe die drei Männer, die mir nahestanden, meinen Vater, meinen Mann und meinen Sohn, in diesen verfluchten Kriegen verloren, vielleicht musste ich erst sicher gehen, dass der nächste Verehrer von so etwas nicht mehr betroffen sein wird. Außerdem warst und bist natürlich Du das Wichtigste in meinem Leben. Aber nun, da Du Deinen Weg so tapfer gehst, kam alles ganz plötzlich und mit der Reise hat er mich auf eine so nette Art überrumpelt, ich konnte gar nicht anders als Ja zu sagen. Auch wenn es bereits in zwei Wochen losgeht, wir beide uns also erst am Ende der Ferien sehen werden …“


„In zwei Wochen! Sie hätte das ganze Jahr über Urlaub machen können, warum ausgerechnet jetzt?“
„Na ja“, auch Ryan war von der ganzen Situation eher erheitert als entrüstet, „Kreuzfahrten im Winter sollen im Allgemeinen etwas ungemütlich sein.“
Kathrin ging nicht auf ihn ein. „Und wisst ihr, was das Allerbeste ist? Sie hat mit ihrer Schwester Agatha gesprochen, ich soll zu ihr in den Ferien. Tante Agatha! Die ist so etwas von pingelig, bei der muss man im Haus Filzschuhe tragen und darf die Tassen nur mit den Fingerspitzen anfassen. Da bringen mich keine zehn Pferde hin, lieber bleibe ich den Sommer über hier!“
„Das könnte schwierig werden, schließlich machst du gerade Abschlussprüfungen“, stellte Ryan fest.
„Es gibt aber sonst nur noch eine Möglichkeit, und bevor ich da hingehe, verpatze ich lieber die Prüfungen und bleibe ein Jahr länger.“
„Jetzt sei nicht albern“, schaltete Jason sich ein. „Warum kommst du nicht mit zu uns?“
Kathrin hatte sich so in Rage geredet, es dauerte einen Moment bis Jasons Worte an der richtigen Stelle in ihrem Verstand ankamen. „Zu euch?“
„Natürlich. Platz dürfte genug sein und für Unterhaltung ist auch gesorgt, mein Bruder wird einundzwanzig und gibt eine große Feier. Ryan kommt auch, hoffe ich doch.“ Ryan nickte bestätigend, Jason fuhr fort: „Außerdem gehe ich davon aus, dass wir alle hervorragende Prüfungen abliefern und von daher auch gleich gemeinsam nach Tasking aufbrechen können. Falls deine Großmutter trotzdem Einwände hat, kann meine Mutter ihr ja schreiben, was für liebe Jungs wir sind.“
Jason vergaß zu erwähnen, welch enorme Erleichterung es für ihn selbst wäre, wenn er die kommenden zwei Monate nicht allein mit seiner Familie verbringen müsste. Doch Kathrin hatte schon einen Entschluss gefasst. „Wenn sie Einwände hat oder sich Sorgen macht, soll sie gefälligst zu Hause bleiben. Wenn sie einfach so entscheidet, wo sie ihren Sommer verbringt, mache ich das auch. Genauso werde ich ihr das sagen.“

Genau das tat Kathrin natürlich nicht, sie rief ihre Großmutter allerdings noch am selben Abend an, wohl wissend, dass das Telefon ein Kommunikationsgerät war, mit dem sich Victoria McEvans nach wie vor nur ungern auseinandersetzte. Beim schrillen Klingeln des Apparates zuckte sie selbst nach all den Jahren noch erschrocken zusammen. Kathrin hielt sich bedeckt und ging kaum auf den Brief ihrer Großmutter ein. Sie forderte keine Erklärungen, erkundigte sich nur beiläufig, ob sie damit einverstanden wäre, wenn sie die Ferien bei den Sullivans verbrächte. „Und bitte sei dir gewiss, ich werde weder zu Agatha noch zu meiner Mutter gehen!“, fügte sie sicherheitshalber hinzu.
Da wenig gegen die Sullivans, jedoch einiges gegen die anderen Alternativen sprach und Victoria außerdem genau wusste, von wem ihre Enkelin die Sturheit geerbt hatte, stimmte sie ohne längere Debatten zu. Auch Jasons Mutter wurde angerufen und eher über den Feriengast informiert als um Erlaubnis gefragt. Sie reagierte unterkühlt als sie erfuhr, um wen es sich handelte, sagte aber immerhin zu, sich mit Kathrins Großmutter in Verbindung zu setzen.

Während der Prüfungswochen machten sie sich keine Gedanken mehr darüber, aus welchen Gründen sie ihre Ferien an welchen Ort verbringen würden. Kathrin war nach beinahe jeder Prüfung felsenfest davon überzeugt, sie sei durchgefallen und stellte erst bei den anschließenden Diskussionen fest, wie gut sie sich offenbar geschlagen hatte. Jason kam lediglich während der Geschichtsprüfung ein paar Mal ins Schwitzen. Diese fiel ausgerechnet auf seinen zwanzigsten Geburtstag und da er es sich nicht hatte nehmen lassen, nachts mit einigen Mitschülern in seinen Geburtstag hinein zu feiern, war er entsprechend angeschlagen. Ryan hingegen meisterte Französisch souverän und konnte abgeben, bevor die Zeit abgelaufen war.

Zwei Wochen lang hatten sie keine anderen Themen als schulische. Da ihnen alles andere zu aufwändig erschien, lernten sie inzwischen auch gemeinsam im Studierzimmer oder in der Bibliothek und scherten sich nicht um Blicke oder Kommentare der Anderen. Ihren letzten Abend verbrachten sie noch einmal im Labyrinth, eher abgekämpft als siegessicher, ohne viele Worte und mit einer Wehmut, die sich erstaunlich in Grenzen hielt.

Am nächsten Tag wurde Ryan von einem Wagen des Ministeriums abgeholt. Jason und Kathrin fuhren mit Albert, dem Butler der Sullivans, der sehr gerne auch einmal Chauffeurdienste übernahm. Da sie wussten, sie würden Ryan in gut zwei Wochen wiedersehen, verlief der Abschied wenig spektakulär, trotzdem hinterließ das Bild der abfahrenden Limousine bei Kathrin ein seltsames Gefühl. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, welche Stabilität, welche Sicherheit Ryan in ihrem Freundschaftsdreieck repräsentierte. Wie oft hätte sie sich mit Jason getroffen, wie oft wäre sie zum Labyrinth gekommen, hätte es da nicht den Vorwand oder den Auftrag des gemeinsamen Lernens gegeben? Es war immer so leicht gewesen, sich mit Ryan zu unterhalten oder über seine Scherze zu lachen. Natürlich hatte auch Jason immer wieder wirklich lustige oder interessante Dinge von sich gegeben. Aber oft genug auch Sachen, die sie nicht richtig verstanden hatte. Und im Grunde, so wurde ihr in diesem Augenblick klar, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen würde. Dass sich Jasons Familie nicht gerade vor Begeisterung über ihre Anwesenheit überschlagen würde, wusste sie und machte ihr am wenigsten Sorgen. Doch was war mit Jason? Wie würden sie die Tage verbringen? War er zu Hause ein anderer als in Oakfield? Nun, sie hatte eine bewährte Strategie mit Dingen umzugehen, die sie sich noch nicht erklären konnte. Sie würde abwarten, beobachten, ihre Schlüsse ziehen und dann entscheiden, wie zu reagieren wäre.

Jason war nicht unglücklich darüber, dass Kathrin beinahe die ganze Fahrt über gedankenverloren aus dem Fenster blickte, verspürte er doch selbst keinerlei Bedürfnis nach Unterhaltung. Nach Hause zu kommen, machte ihn alles andere als gesprächig. Nach Hause zu kommen, hieß für ihn, sich mit Unverständnis, Wut, Enttäuschungen und Erwartungen auseinanderzusetzen, die ihm die Luft zum Leben und zum Atmen abschnürten. In die Rolle, die er spielte, egal ob zu Hause oder im Internat, war er hineingepresst worden, seit er denken konnte. Und bis heute versuchte er verzweifelt zu begreifen, warum man ihm dafür auch noch die Verantwortung zuschob. Zwischen dem Haus seiner Eltern und dem Internat gab es nur einen wesentlichen Unterschied: Die eine Sache, die er wirklich beherrschte – mit Worten und Wissen umzugehen – wurde hier als „besserwisserisch“ bezeichnet, während sie ihm dort Empfehlungsschreiben einbrachte.

Mr Keats hatte ihn an diesem Morgen zum letzten Mal in sein Büro rufen lassen und ihm zum Abschied mitgeteilt, er hätte noch nie einen so außergewöhnlichen und begabten Schüler gehabt. Es wäre ihm eine Ehre, wenn Jason ihm eines Tages seine Doktorarbeit in Philosophie oder Literatur vorlegen würde. Die Zeiten würden schließlich liberaler werden, Veränderungen lägen in der Luft, auch unkonventionelle Gedanken würden bald Eingang in die ehrenwerten Wissenschaften finden. Wäre er, Jason, nur ein klein wenig besser in der Lage, sein Temperament zu zügeln, stünde seiner Karriere nichts mehr im Wege.
Jason hatte sich bedankt und die Hand des ersten und einzigen Mentors geschüttelt, den er an dieser Schule gehabt hatte. Und während er genau wie Kathrin die vorbeiziehende Landschaft betrachtete, fragte er sich nicht zum ersten Mal, ob Mr Keats jemals erkennen würde, was er mit seiner Abhandlung über den kategorischen Imperativ letztlich ausgesagt hatte … nämlich dass er Kant für einen vollkommenen Idioten hielt.

Erst als feine Kiesel rhythmisch gegen den Boden des Wagens zu schlagen begannen und ankündigten, dass sie sich bereits in der Auffahrt zum Haupthaus des Sullivanschen Landsitzes befanden, regten sich die beiden jungen Leute. Sie mussten sich kurz orientieren und wandten sich gleichzeitig einander zu. Sie blickten sich in die Augen und Jason hatte eine Sekunde lang das seltsame Gefühl, sie wären in den letzten zwei Stunden denselben Gedanken nachgehangen. Er erwiderte Kathrins Lächeln und als der Wagen zum Stehen kam, noch bevor Albert ihnen die Wagentür öffnete, verkündete er: „Willkommen in Fenshire. Erwarte nicht allzu viel Herzlichkeit.“


Kapitel 4



Kathrin bemühte sich, ihre Erwartungen möglichst niedrig zu halten, war dann allerdings doch verblüfft, mit welch formvollendeter Nichtbeachtung Jasons Mutter sie strafte, als sie die Ankömmlinge in der Halle in Empfang nahm. „Jason. Was ist mit deinen Haaren passiert? Gibt es keine Friseure mehr in Oakfield?“
„Doch, ich hatte nur keine Zeit, wir hatten schließlich Prüfungen. Darf ich dir …“
„Das können wir keinesfalls so lassen! Lord Everton kommt heute Abend zum Dinner. Ich werde Jacob fragen …“
„Mutter. Ich werde mir ganz sicher heute nicht mehr die Haare schneiden lassen und kann gerne bei Maggie essen, wenn du damit Schwierigkeiten hast. Das ist Kathrin McEvans. Ich glaube, du kanntest ihren Vater.“
„Nun. Ja. Ich bin ihm wohl einmal begegnet.“
Zögernd und mit offensichtlicher Herablassung hielt sie Kathrin ihre Hand hin. Die berührte nur ihre Fingerspitzen, machte einen Knicks und zeigte, was sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. „Mrs Sullivan, ich bin so unendlich dankbar, von Ihnen aufgenommen zu werden. Schließlich ist es für jemanden wie mich nicht selbstverständlich, in einem so wunderschönen Haus Gast sein zu dürfen. Und das Wetter scheint hier auch viel angenehmer zu sein als in Oakfield, nicht wahr?“
Mrs Sullivan hob ihre rechte Augenbraue, was nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, Geringschätzung, sondern viel eher Erstaunen ausdrückte. So katastrophal die Herkunft dieses Mädchens auch sein mochte, schien sie doch immerhin über ein gewisses Maß an Manieren zu verfügen. Jason hatte derweil beide Augenbrauen gehoben, und zwar aus Überraschung und einer gehörigen Portion Bewunderung dafür, wie Kathrin seine Mutter quasi zu einer Antwort nötigte. „Nun … Oakfield liegt höher, möglicherweise ist es deswegen weniger mild dort. Jason, du wirst das andere Thema bitte mit deinem Vater klären. Er ist in seinem Arbeitszimmer. Dein Bruder kommt später zum Tee. Bitte entschuldige mich jetzt, ich muss mich zurückziehen. Albert wird unserem Gast das Zimmer zeigen. Miss McEvans.“

Amanda Sullivan verließ die Halle, die sie für einen kurzen Augenblick in eine Bühne verwandelt hatte. Kathrin seufzte. Sie hatte einen ersten Eindruck von dem Stück erhalten, in dem sie in den nächsten Wochen mitwirken würde. Vor allem hatte sie eine erste Ahnung bekommen, in welches Drama Jason schon sein Leben lang verwickelt zu sein schien. Der schüttelte über die gewohnten Absonderlichkeiten nur kurz den Kopf, sah Kathrin an und fragte: „Erst das Zimmer, dann das Haus, dann mein Vater?“, als wollte er ihnen vor der nächsten wichtigen Begegnung noch ein wenig Luft verschaffen.
Kathrin nickte und ging hinter ihm die Treppen hoch, gefolgt vom Butler und einem Burschen, der ihre Koffer trug. Als Jason im zweiten Stock nach links in den Trakt einbiegen wollte, in dem in der Regel die Gäste untergebracht wurden, räusperte sich Albert. „Mr Sullivan. Entschuldigung, wir müssen noch weiter nach oben.“
Jason kniff die Augen zusammen. „Nach oben? Wohin denn?“
„In den Ostflügel, Sir.“
„In den Ostflügel? Sie hat sie im Ostflügel untergebracht? Womöglich noch unter dem Dach?“
„So ungefähr, Sir.“
Jason kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Kathrin entdeckte eine gewisse Komik in der ganzen Situation. „Wer wohnt denn unter dem Dach im Ostflügel? Ungeliebte Verwandtschaft? Steuereintreiber? Leichengräber?“
Jason schnaubte. „Nicht ganz so schlimm. Aber auch nicht sehr weit davon entfernt. Maggie sagt, da oben spukt es. Und sie kennt das Haus besser als jeder andere.“
„Ich habe keine Angst vor Gespenstern“, entgegnete Kathrin fest.
„Mag sein. Doch du musst vor Sonnenaufgang aufstehen, falls du rechtzeitig zum Frühstück unten sein willst. Und wenn du nach dem Mittagessen auf dein Zimmer gehst, schaffst du es garantiert nicht pünktlich zum Tee.“
„Du weißt doch, ich bin eine gute Läuferin.“
Jason lachte auf. „Vor allem hast du ziemlich gute Nerven. Bist du dir ganz sicher, dass du nicht doch zu deiner Tante willst?“
„Ja, bin ich.“
„Gut.“ Er überlegte einen Moment, sah sich um, deutete wahllos auf eine der Türen zu seiner Linken und fragte Albert: „Was ist das für ein Zimmer?“
„Ich glaube, eines von denen im griechischen Stil, Sir.“
„Griechisch? Gut. Gibt es da ein Bett? Wohnt da gerade jemand?“
„Nein, dort wohnt niemand. Und ein Bett steht sicherlich darin“, antwortete Albert, während der Anflug eines Lächelns seine Lippen zucken ließ.
„Sehr gut. Kathrin, dein Zimmer.“
Albert wollte etwas erwidern, doch Jason hob beschwichtigend die Hand. „Ich kläre das mit meiner Mutter. Lass es bitte erst einmal herrichten. Derweil können wir beide uns die Gespenster anschauen gehen.“

Sie schafften es lange vor dem Tee, nicht nur den Ostflügel, sondern auch die meisten anderen Teile des Hauses zu besichtigen. Kathrin war angemessen beeindruckt, fühlte sich in der Umgebung jedoch weit weniger fremd als sie es Mrs Sullivan gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. Die meisten Adeligen dieser Tage konnten ihre Häuser nur unterhalten, indem sie sie für zahlende Gäste öffneten. Und da ihre Großmutter zum einen auf eine umfassende Bildung bedacht und zum anderen immer schon reisefreudig gewesen war, hatten sie zahllose Wochenenden damit verbracht, sich die Häuser praktisch aller südenglischen Adelsfamilien anzuschauen. Voller Stolz hatte sie Kathrin bis ins Detail berichtet, wann ihr Vater wo und zu welcher Gelegenheit zu Gast gewesen war. Manchmal hatte einer der Hausherren eine kleine Anekdote beigesteuert oder es hatten sich Fotos ihres Vaters gefunden, herausgeputzt zum Ball oder leger mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und Reitstiefeln neben Lord und Lady auf der Terrasse.

So knapp daneben, dachte Kathrin bei sich, während sie Jason folgte. Hätte ihre Mutter nicht auch aus einem dieser Häuser stammen können? Hätte ihr Vater mit seiner kleinen Affäre nicht wenigstens bis nach dem Ritterschlag warten können? Das Allermindeste wäre wohl gewesen, sich nicht von einem dummen Deutschen abschießen zu lassen, während seine schwangere Frau auf ihn wartete. Hätte er seinen Ruf und den seiner Tochter wiederherstellen können, wenn er zurückgekommen wäre? Und wäre all das tatsächlich erstrebenswert gewesen? Seit der Begegnung mit Jasons Mutter war sie sich da längst nicht mehr so sicher.

Der Landsitz der Sullivans unterschied sich nur insofern von den anderen großen Häusern dieser Gegend, da er den tatsächlich vorhandenen Reichtum der Familie und nicht nur einen vorgetäuschten widerspiegelte. Es schienen große Kunstliebhaber und -kenner hier zu wohnen und gewohnt zu haben, der Stil war traditionell, nahezu viktorianisch. Das Fernsehgerät in einem kleineren Salon und die Telefonapparate wirkten in diesem Ambiente beinahe futuristisch.

Sie hielten sich lange in der Bibliothek auf, allerdings nicht annähernd lange genug um sich einen vollständigen Überblick über die Bücherreihen zu verschaffen, die sich die Wände entlang bis an die Decke zogen.
„Einer der wenigen wirklich brauchbaren Räume in diesem Haus“, kommentierte Jason.
„Das glaube ich“, schmunzelte Kathrin. „Hast du alles gelesen?“
„Leider besticht sie vor allem durch Quantität. Die gesammelten Werke von Austen, Dickens oder Stevenson zum Beispiel, immer wieder gerne zu Familienfeierlichkeiten von meiner Mutter zum Besten gegeben.“
„Du magst keine Belletristik?“, fragte Kathrin und war ein wenig erstaunt.
Jason schaute sie ernst an. „Ehrlich gesagt sehe ich keinen Grund, warum ich mich mit den Problemen fiktiver Personen herumschlagen soll, wenn ich genug eigene habe.“
Kathrin hätte ihm dazu einige Vorschläge unterbreiten können, doch sie schwieg und er setzte seine Führung fort. „Hier sind die ganzen Klassiker, mein Vater besitzt einige wertvolle Ausgaben von Shakespeare und Keats. Und dann gibt es die Ecke da hinten, wo die Sachen stehen, die niemand lesen will. Ich glaube ich war sieben, als ich dort etwas von Edgar Allan Poe gefunden und zum Tee vorgelesen habe. Seitdem heißt sie ‚Jasons Ecke’ und meine Mutter versucht verzweifelt herauszufinden, wo zwischen Genie und Wahnsinn sie mich einordnen soll.“

Jason konnte sich noch sehr genau an diesen Nachmittag erinnern. Auf erschreckende Art und Weise hatte Der Untergang des Hauses Usher

damals den Untergang der heilen und geordneten Familienfassade der Sullivans nicht nur eingeläutet, sondern in Jasons dunkleren Phantasien auch mehr oder weniger verursacht. Obwohl die Vorboten dafür schon Jahre vorher zu spüren gewesen waren.

****



Amanda Sullivan war sich schon sehr bald über die außergewöhnlichen Fähigkeiten ihres jüngsten Sohnes klar geworden. Er begann mit dem Sprechen zwar etwas später als seine Brüder, übersprang allerdings fast gänzlich das übliche Gebrabbel eines Kleinkinds und sprach von Anfang an in nahezu vollständigen Sätzen. Lesen lernte er praktisch gleichzeitig mit seinem knapp ein Jahr älteren Bruder Richard, wandte sich jedoch sehr schnell von den Abenteuergeschichten und Wild-West-Romanen ab, die den Älteren so fesselten. Bereits mit fünf brachte ihn ein totes Kaninchen, das er eines Morgens vor der Küchentür entdeckt hatte und dessen lebende Verwandte in Horden die Ländereien bevölkerten, dazu, das Bild eines liebenden, gestrengen aber doch nachsichtigen Gottes, das in der Familie vermittelt wurde, infrage zu stellen.

Würde man Amanda heute fragen und sehr genau auf ihre Formulierungen achten, so könnte man möglicherweise einen Anflug von Selbstkritik heraushören. Weil sie sich nicht angemessen um Jasons Anlagen gekümmert und es möglicherweise versäumt hatte, sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Doch wie hätte sie die Zeit dafür finden sollen? Es war ihr eine solche Freude gewesen, als sie neun Jahre nach der Geburt ihres ersten Sohnes Edward noch einmal schwanger geworden war, trotz der Strapazen des Krieges und ihres reifen Alters von Anfang dreißig. Richard war ein so süßes und hilfloses Baby gewesen um das sie sich, erwachsen geworden und reicher an Erfahrung als bei ihrem ersten Kind, nun hingebungsvoll kümmern wollte. Edwards Erziehung hatte sie schon frühzeitig aus der Hand gegeben, schließlich sollte er eines Tages die Firma übernehmen und optimal darauf vorbereitet werden. Und dann, Richard war noch nicht entwöhnt, die Nachricht ihrer erneuten Schwangerschaft. Es war ihr wie ein Hohn vorgekommen. Wie hätte sie beiden Kindern gerecht werden sollen?

Erschwerend war hinzugekommen, dass Richard in jungen Jahren an heftigen Anfällen von Pseudo-Krupp gelitten und sie mehrmals Sorge gehabt hatten, er würde es nicht überleben. Er hatte Jahre gebraucht, um wieder vollständig gesund zu werden. Amanda hatte sich bemüht, die beiden Kinder voneinander fernzuhalten und sie hatte mehrere Wochen im Jahr mit Richard im Seebad Brighton verbracht, damit er sich erholen konnte. Die Familie war auch häufig in Norfolk in ihrem Ferienhaus gewesen. Später, als der Umgang mit Jason immer schwieriger wurde, hatte Amanda ihn meistens in der Obhut ihrer Haushälterin Maggie gelassen und war mit Richard allein gefahren.

Als der siebenjährige Jason an jenem Nachmittag angeboten hatte, zum Tee etwas zu lesen, war sie zunächst erfreut und erleichtert gewesen. Sie hatte es als eine Art Entschuldigung gedeutet

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Katja Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: Geli Amman
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2012
ISBN: 978-3-86479-399-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
„How do you love in a house without feelings? How do you turn what was savage tame? I’ve been looking for someone to believe in. To love me again and again.” Razorlight - Wire to Wire (aus dem Album Slipway Fires) „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Theodor W. Adorno

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