Sofias Eltern hatten wieder einmal einen Streit und wie so oft, hatte sich ihr Vater nicht unter Kontrolle. Er schlug immer wieder auf ihre Mutter ein, während Sofia sich unter dem Tisch in der Küche versteckt hatte. Normalerweise ging sie immer in ihr Zimmer, aber dieses Mal hatte sie keine Zeit mehr gehabt. Sie hatte jedes Mal Angst, ihr Vater könnte auch mal so wütend auf sie werden, bisher ist das jedoch noch nie geschehen. Im Gegenteil, nach einem solchen Streit kam er oft in zu ihr Zimmer und nahm sie in den Arm. Er streichelte und Küsste sie und sagte ihr, das er sie Liebe.
Und sie glaubte ihm das auch, aber dennoch hatte sie Angst vor ihm und mochte es nicht, wenn er sie so berührte und küsste. Es schien ihr einfach nicht richtig zu sein.
Heute aber war es anders. Nachdem die Mutter wimmernd auf dem Boden lag, zerrte er sie unter dem Tisch hervor und packte sie am Genick. Er schrie sie an, sie solle ihre Mutter nur gut ansehen und versicherte ihr, dasselbe mit ihr zu tun, wenn sie nicht das tat, was er wollte.
Wieder riss er an ihr herum und befahl ihr, auf ihr Zimmer zu gehen. Er wollte gleich nachkommen und ihr zeigen, was richtige Liebe bedeutete.
Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was genau er damit meinte, wusste sie, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.
Sie rannte in ihr Zimmer und verschloss die Tür hinter sich.
Sie wollte weg. Aber wohin nur?
Da viel ihr Blick auf das Buch auf ihrem Bett.
Ihr Lieblingsbuch.
Es war voller magischer Wesen, Drachen, Zauberern und Hexen. Am liebsten aber mochte sie die Geschichten über Feen und Elfen.
Und so beschloss sie in den Wald zu gehen. Dorthin, wo diese Wesen lebten.
Denn es musste sie einfach geben. Dort wo die Zeit still zu stehen schien und die Luft erfüllt war von Blütenstaub und dem Gesang der Vögel.
Dort wo die Herrlichkeit der Natur noch ihre volle Pracht trug, dort musste es sie geben. Dessen war sie sich sicher. So stand es in all ihren Büchern.
ein solch schöner Ort ohne sie, wäre undenkbar.
Dort wollte sie hin. Weg von ihrer Familie, weg von all dem Ärger, dem Hass. Sie wollte die Wärme und Liebe spüren, nach der sie sich so sehnte.
Schnell zog sie sich eine Jacke über und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Es war zwar recht warm draußen, aber sie hatte gelernt, dass sich das schnell ändern konnte.
Leise schlich sie sich aus dem Zimmer und verließ das Haus.
Erleichtert atmete sie auf, als sie die Haustür langsam zugezogen hatte.
Schnell drehte sie sich um und rannte los.
Sie konnte noch hören, wie ihr Vater nach ihr rief, deshalb beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr.
Sie rannte immer weiter und weiter, bis die Rufe ihres Vaters endgültig verstummt waren.
Langsam näherte sie sich dem dichten Wald und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand ihr gefolgt war, hörte sie auf zu rennen.
Als sie den Wald betrat, spürte sie, wie sie augenblicklich ruhiger wurde.
Große Nadel.- und Blattbäume ragten empor.
Fast unendlich schienen sie in den Himmel zu wachsen.
Die Luft war angenehm warm und feucht. Es hatte in letzter Zeit viel geregnet.
Auf dem Boden und den Baumstämmen breitete sich das weiche Moos unaufhaltsam aus und in den Baumkronen zwitscherten die Vögel.
Die Sonne schien warm und hell durch das reichlich bestückte Blätterdach.
Während sie weiter Wald einwärts marschierte, dachte sie an ihre Bücher. Alle Feen und Elfen lebten immer auf einer wunderschönen Blumenwiese mitten im Wald. Da, wo die Sonne am stärksten zu scheinen schien, bauten sie ihre Häuschen aus Blumen.
Sie entschied sie sich einfach immer Richtung Sonne zu laufen und irgendwann, so war sie sich sicher, würde sie diese Wiese finden.
Sie musste schon ziemlich lange unterwegs gewesen sein, denn die Sonne verschwand immer mehr hinter den Bäumen und es wurde spürbar kälter, doch von der Wiese keine Spur.
Ihre Füße schmerzten so sehr, dass sie sich für einen Augenblick setzten musste.
Ein umgestürzter Baum schien Ideal dafür zu sein. Entkräftet, hungrig und müde ließ sie sich auf den Stamm nieder. Der Mut hatte sie schon eine Weile verlassen und mit der Dunkelheit stieg auch ihre Angst. Sie hatte schon lange keinen Weg mehr gesehen und auch Menschen war sie nicht begegnet.
Während ihr Blick durch den Wald zog, schwirrte etwas Leuchtendes an ihr vorbei.
Sie erschrak und viel vom Stamm.
Als sie sich aufgerappelt hatte, blickte sie vorsichtig in die Richtung, aus der das leuchtende Etwas geflogen war.
Und dann sah sie sie. Einen Elfen. Nicht größer als ihre Hand. Er sah’s bekümmert auf einem kleinen Zweig und schluchzte. Wieso weinte er?
Sofia stand langsam auf, mit weit geöffnetem Mund starrte sie den Elfen an. Noch nie zuvor hatte sie einen echten Elfen gesehen. Schnell rieb sie sich ihre Augen, doch der Elf saß noch immer da.
"Hallo?"
leise sprach sie zu dem Elf.
"Wieso weinst du?"
Betrübt sah der Elf zu ihr auf.
"Ach, das verstehst du sowieso nicht."
war seine Antwort.
" Warum sollte ich es nicht verstehen?"
" Ich muss hier weg. Muss meine Heimat verlassen."
"Wieso das denn?"
Sofia sah den Elf zweifelnd an.
"Weil es hier bald keine Bäume mehr gibt. Die Menschen schlachten sie ab, als wären es keine Lebewesen. Sie trampeln auf unseren Häusern rum und zerstören unser zu Hause. Die Menschen haben vergessen, dass es uns und die Natur noch gibt."
Seufzend legte er seinen Kopf in die Hände und sah zu Boden.
Sofia war entsetzt. Warum sollte die Menschen das tun?
"Wie kommst du da drauf?"
"Sieh doch mal genauer hin. Da vorne. Siehst du das denn nicht?"
Er fuhr mit dem Finger Richtung Wald. Aber sie konnte es nicht sehen.
"Ich sehe nichts!"
So sehr sie sich auch anstrengte, der Wald blieb so schön und dicht, wie er zuvor schon war.
Der Elf sah sie an, und zuckte mit den Schultern.
"Klar kannst du es nicht sehen. Ich hatte es vergessen. Du bist ja auch nur ein Mensch. Aber ich oder besser gesagt wir, können es sehen. Da wo jetzt noch Bäume und Pflanzen sind, stehen schön bald große hässliche Steinklötze. Und hier auf dem Boden wächst kein Gras mehr und keine einzige Blüte wird hier mehr blühen. Hier wird alles sehr bald grau und leer sein.
Sofia musste schlucken. Sie war zwar erst neun Jahre alt, aber sie wusste sehr wohl, was die Steinklötze und der graue Boden bedeuteten. Hier würde man Häuser und Straßen bauen.
Sie hatte Mitleid mit dem kleinen Elf.
Sie wollte ihm helfen, wusste aber nicht wie. Sie konnte nicht verhindern dass hier eine neue Stadt gebaut wird.
Sie konnte die Erwachsenen nicht dazu bringen, an die Natur zu denken und an all die kleinen Bewohner, die es hier gab.
Sie war ratlos.
Langsam ließ sie sich neben dem Elf auf den Boden sinken. Beide sahen sie zu Boden und sie dachte nach.
"Aber wenn ihr einfach zu den Menschen geht und ihnen sagt, dass sie hier nicht bauen können, dann würden sie es bestimmt lassen."
Verwirrt sah der Elf zu ihr.
"Die Menschen können uns nicht sehen. Nur die, die noch an uns glauben, aber die meisten Menschen tun das nicht mehr. Also wär unser Bemühen völlig umsonst"
Darauf wusste sie keine Antwort und sie verstummten beide wieder.
Nach einer langen, schweigsamen Zeit, hatte sie wieder eine Idee.
"Ich kann zwar nicht verhindern, dass sie hier bauen, aber wenn ich groß bin, kauf ich ein großes Haus mit einem großen Garten und einem großen Stück von dem Wald. Da könnt ihr dann leben. In meinem Garten. Da wird euch niemand stören und niemand wird eure Häuser kaputt machen. Das heißt ihr müsst nicht weggehen."
Sie musste grinsen bei der Idee. Sie fand, dass es wirklich eine tolle Idee war.
Doch der Elf zuckte nur wieder mit den Schultern.
"Weißt du, wir wissen schon lange, dass es bald soweit sein würde. Und auch schon vor dir, habe ich Menschenkinder getroffen, die mir versprochen hatten uns zu helfen. Aber niemand hat geholfen. Auch sie hatten uns irgendwann vergessen. Sie wurden alle groß und Erwachsen und haben ihre Häuser gebaut, aber niemand hat und eingeladen und gesagt, dass wir nun kommen dürfen. Den letzten hatte ich sogar besucht, aber er hat mich nicht mehr gesehen. Er hatte völlig vergessen, dass er mal mit mir gesprochen hatte. Warum sollte es bei dir anders sein?"
Er sah sie hoffnungslos an und lies die Schultern hängen.
Wieder wusste sie keine Antwort. Aber sie wusste, dass sie nicht wie all die anderen war. Sie würde die Feen nicht vergessen.
"Wie lange dauert es noch, bis es hier keinen Wald mehr gibt?"
Erwartungsvoll blickte sie zu ihm.
"Vielleicht noch 20 oder 30 Jahre. Genau weiß ich es nicht. Wieso?"
Sie straffte ihre Schultern und stand auf.
"Weil ich wissen wollte, wie lange ich noch Zeit habe um genug Geld zu sparen. Schließlich wird so ein großes Haus mit Garten nicht billig sein."
Einen kurzen Moment konnte sie sehen, wie Hoffnung in seinen Augen aufblitzte. Doch die verschwand gleich darauf und er versank wieder in Selbstmitleid.
"Ach wenn ich es doch nur glauben könnte."
Sie war leicht verärgert. Dachte er wirklich, sie würde lügen und sie im Stich lassen. Niemals würde sie die Elfen und Bäume und die Natur im Stich lassen.
"Hör mal zu du Elf. Wenn ich es dir doch sage. Also pass auf. In genau zwanzig Jahren wirst du mich besuchen kommen und du wirst sehen, ich werde dich nicht vergessen haben"
Er sah sie an und die Hoffnung kehrte nun vollends wieder zurück. Ein leichtes Lächeln machte sich auf seinen Mund breit. Er konnte sehen wie die schlimmen Vorzeichen etwas verblassten.
"Ja du hast Recht, versuchen kann ich es zumindest. Wir haben sowieso nichts mehr zu verlieren. Wo sollten wir auch schon hin gehen."
Nun stand auch er auf und begann mit seinen Flügeln zu schwingen. Immer schneller wurden sie und feiner glitzernder Goldstaub stob davon.
" Ich muss es gleich den anderen Mitteilen."
Er wollte schon davon Fliegen, als ihm Sofia hinterher rief.
"Warte doch bitte kleiner Elf."
Schnell sah er über die Schulter zu ihr. Sie wirkte etwas verloren und eingeschüchtert.
"Was hast du?"
Schnell machte er kehrt und flog zu ihr zurück.
"Ich weiß nicht, wie aus diesem Wald hinaus kommen soll."
Sie trat beschämt auf der Stelle. Sie wollte eigentlich nicht zugeben, dass sie sich verlaufen hatte aber angesichts der Umstände, blieb ihr nichts anderes übrig.
Der Elf grinste sie an.
"Ach das ist leicht. Du musst nur noch ein paar Meter weiter laufen, dann stößt du auf einen Wanderpfad. Dem folgst du dann nach rechts. In 10 Minuten bist du aus dem Wald wieder draußen."
Erleichtert atmete sie auf.
"Danke kleiner Elf. Ich werde dich ganz bestimmt nicht vergessen. Und ich werde dir ganz bestimmt helfen, so wie du mir eben geholfen hast."
Sie lächelten sich beide zum Abschied kurz an.
Nachdem der Elf verschwunden war, machte sich Sofia auf den Weg nach Hause. Sie dachte über ihr Treffen mit ihm nach. Eigentlich hatte sie etwas anderes erwartet. Aber nun gab es wichtigeres zu tun und das wusste sie. Sie musste ihr Leben so hinbekommen, das sie den Elfen später helfen konnte.
Der Elf behielt Recht. Nach nur fünfzehn Minuten konnte sie die ersten Häuser wieder sehen.
Gleich beim ersten Haus, das sie erreichen konnte, machte sie halt und klingelte an der Tür. Eine freundliche ältere Dame öffnete ihr und Sofia erzählte ihr von ihrer Familie und wie sie durch den Wald marschiert war. Nur die Geschichte mit dem Elf behielt sie für sich. Sie wollte nicht, dass noch mehr Menschen auf ihren Häusern herumtrampelten und ihr zuhause zerstörten.
Danach ging alles ganz schnell. Die Dame namens Elsa rief die Polizei. Ihr Vater wurde festgenommen und Sofia kehrte zurück zu ihrer Mutter.
Nach schier endlosen Terminen vor Gericht und beim Anwalt, wurde ihr Vater schließlich endgültig eingesperrt.
Sofia und ihre Mutter zogen in eine andere Stadt und wagten gemeinsam einen Neuanfang. Es war nicht leicht. Für beide nicht. Aber Sofia griff ihrer Mutter so gut es ging unter die Arme.
Von ihrem Vater hörte Sofia nie wieder etwas. Und das war auch gut so.
Auch die Schule musste sie wechseln, was ihr nicht schwer viel. Zu viele dunkle Erinnerungen kamen ihr in der alten Schule auf. Zu oft wurde sie von Lehrern und Mitschüler über ihren Vater und ihre Mutter ausgefragt.
Ihre neue Schule gefiel ihr hingegen ziemlich gut. Hier war alles neu. Auch die Freunde und Lehrer. Niemand wusste von ihrer Vergangenheit und das blieb bis heute so.
Nach ihrem Schulabschluss studierte sie und wurde erfolgreiche Autorin.
Während ihrer Studienzeit lernte auch sie einen netten jungen Mann kennen, der heute ihr Ehemann und der Vater ihrer Kinder Jane und Michael.
Doch auch nach all den Jahren hatte sie das Gespräch mit dem Elfen nie vergessen.
Und so kam es, das der Elf wirklich nach zwanzig Jahren zu ihr flog und sie ihn immer noch sehen konnte.
Der Elf landete auf ihrer Terrasse. Nachdenklich und glücklich sah sie ihn an.
"Hallo, mein kleiner Elf. Wie ist es dir die letzten Jahre ergangen?"
Der Elf war sehr erstaunt und erfreut zugleich.
"Du kannst mich tatsächlich sehen? Und du weißt wirklich noch wer ich bin?"
ungläubig sah er zu ihr auf.
Sie lächelte und ging vor ihm in die Knie.
"Natürlich, wie könnte ich dich je vergessen. Und auch mein Versprechen werde ich halten"
Der Elf sprang auf ihre Handfläche und sie richte sich wieder auf.
" Sie dich nur um, hier steht mein Haus mit dem großen Garten und dem großen Stückchen Wald. Das ist alles meins, und wenn du immer noch möchtest auch eures."
Der Elf wusste nicht, was er sagen sollte.
Er war einfach nur glücklich. Es gab wirklich ein Mensch auf dieser Erde, der noch an sie glaubte und ihnen wirklich helfen wollte.
All die Jahre hatte er so viele Menschen getroffen aber alle hatten die Elfen im Stich gelassen.
Aber dieser hier nicht. Dieser hier hielt wirklich Wort.
"Ja wir werden dein Angebot gerne in Anspruch nehmen. Unser Zuhause wird gerade in diesem Moment platt gemacht. Ich wüsste nicht, wo wir sonst hinsollten."
"Na dann. Willkommen daheim."
Sie beide strahlten sich an.
Sie wusste, dass sie damals ohne die Elfen verloren gewesen wäre und nun war es der Elf, der ohne sie nicht sein konnte.
Es war ein schönes Gefühl für beide.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2011
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