Ist es eine Kunst, Geschichten zu erzählen, den Lauschenden einzufangen, ihn in eine andere Zeit und Welt mit zu nehmen, ihm gar ein unerforschtes, tieferes Bewusstsein zugänglich zu machen, ihn dorthin zu locken?
Letzteres bejahe ich, ist es doch gleichsam getragen von der größten Herausforderung an die Integrität des Erzählers.
Vorahnungen zu begegnen, gehört zu den Grenzerfahrungen, jenen, die an Selbstdarstellung grenzen mögen, wiewohl auch jenen, die zu einem umfassenderen Nachspüren im eigenen Leben - also im Leben des Zuhörers - führen können und möglicherweise eben dazu bestimmt sind.
Es ist faszinierend zu erleben, dass und wie die Erfüllung von Vorahnungen, obwohl grundsätzlich abgelehnt, ihren Lauf nimmt sich in Realität zu verwandeln.
So stehe ich meiner eigenen Geschichte als skeptischer Betrachter gegenüber und gefühlt nicht immer als selbst davon betroffener Mensch.
Sind Wendepunkte im Leben eines Menschen miteinander verknüpft, frage ich mich, unterschiedlich wohl, wie die Netze der Spinnen sich nach ihren Aufgaben sehr wohl unterscheiden, obgleich die Wege ihrer Fäden bereits akribisch vorgegeben sind?
Werden sich diese Netze und im übertragenen Sinne Netze der Wendepunkte, mit Wegen, die wiederum gleichsam Netze anderer Menschen sind, kreuzen und gigantische, geistige Lebensräume schaffen und vertiefen? Nach meiner Erfahrung verhält es sich so.
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Nun liege ich also auf dem kühlen, glatten Operationstisch und spüre grenzenlosen Frieden in mir.
Erlöst. Endlich!
Das Geheimnis trug ich seit Jahren in mir, zweifelnd, beängstigt und verzweifelt um ständige Verneinung bemüht. Nun hat sich ein Teil erfüllt und nichts mehr wird sein, wie es gestern noch war.
Ich merke, mein Pullover wird zerschnitten. Schade, er war besonders schön. Stimmen im Operationssaal, doch ich entgleite, streife nur im Bruchteil von Zeit, oder Bewusstsein in Gedankenblitzen die Gegenwart.
Ich fühle mich befreit. Es gibt keine Vorahnung mehr, die mich ängstigt. Hat sie sich vor wenigen Stunden erfüllt?
Jahre zuvor:
Es ist heller Tag, Sonnenschein, der meine Augen blendet und ich gehe heim. Die Straße ist stark befahren, gerade passiere ich zu meiner Linken eine Ampel, die auf "Rot" gesprungen sein muss.
Fahrzeuge halten und auch eine Straßenbahn, die Linie 7, mit der ich häufig zur Schule fahre, steht dort.
Zu meiner Rechten der Fuhrpark des Bahnbetriebes.
Vertraute Anblicke eigentlich, die mich seit frühesten Erinnerungen begleiten, Eindrücke, mit denen ich aufgewachsen bin nehme ich unbewusst wahr an diesem Mittag, kenne sie, obwohl ich sie mit zusammengekniffenen Augen nicht sehe, blendet das Sonnenlicht doch zu sehr.
An diesem bestimmten Tag bin ich ungefähr zwölf Jahre alt, gehe allein, wenngleich nicht freiwillig, zum Friseur und daher komme ich soeben. Wie immer, unzufrieden mit dem kurzen Haarschnitt, obwohl er meiner Mutter zusagt, hätte ich doch lieber langes Haar wie meine Freundin. Es sei denn, ich dürfte mein Leben tauschen und ein Junge sein. Ach ja, und blondes Haar wäre sowieso viel schöner...
In diesen banalen Gedanken versunken, wie es nur jungen Menschen gegönnt sein mag, schreckt mich etwas auf.
Eine Stimme? Ein Gefühl? Beides ja und doch nein.
Eine Gewissheit vielmehr erfüllt unangekündigt mein Bewusstsein und ein Versprechen danach wird fortan tröstlicher Begleiter und eines Tages unermüdlicher Träger meines Lebenswillens sein.
Doch dahin ist es noch weit.
Ich werde Schweres durchmachen, weiß ich nun seit Sekunden, doch danach werde ich sehr glücklich sein.
Und nichts um mich herum ist anders als es gestern gewesen war. Die Autos stoßen ihren Gestank aus, der üblicherweise abscheulich riecht, den ich jetzt aber seltsam beruhigend empfinde. Ein Teil Welt, wie ich sie kenne.
Es ist alles wie immer und eigentümliche Gedanken tauchen vielleicht einfach aus dem Nichts auf?
Ich fürchte mich. Seit diesen Sekunden sehe ich ein Gewehr auf mich gerichtet und meine, seine Bedrohung direkt auf meinen Kopf gezielt zu spüren.
Wohl wissend noch, diesem nicht entgehen zu können, vermeide ich zunächst tunlichst Wanderungen in Waldgebieten und hamstere Ausreden, um nicht mehr an den gewohnten Ausflügen zum Pilze- und Beerensuchen mit meinen Verwandten teilzunehmen. Der Gedanke an Förster und Jäger ängstigt mich. Es verunsichert und beschämt mich gleichzeitig, denn
obwohl ich es nicht wahr haben will, lässt mich die Gewissheit nicht los, dass eine Wirklichkeit bereits entsteht, die alles verändern wird.
Die Zeit verstreicht und mit jedem Jahr, das wieder ereignislos vergangen ist, erhoffe ich, den Spinnereien meiner jugendlichen Phantasie ein rettendes Stückchen entwachsen zu sein. Jugendliche Phantasie Gespenster, als solche möchte ich die Vorahnung ablegen.
Und doch: Die Bedrohung lebt in mir und es gelingt nicht, sie vollständig zu ersticken.
Ich vertraue indes niemandem dieses Wissen an, nähre statt dessen sorgsamst jegliche Zweifel, als ob sie mich bewahren könnten.
Gehörten diese herbeigesehneten und gestärkten Zweifel zu dem Netz, das gewoben wurde und immer noch gesponnen wird, so frage ich mich heute. Sind sie Teil der Fäden, die das Gespinst fertigten, das die Erinnerung und das Erkennen verschleiern werden?
Eines Tages ist es so weit, dass ich ihr Gespinst nicht mehr beiseite schiebe und vielmehr verdrängt habe, was mich einst ängstigte.
Wir schreiben November 1972.
Erwin hat Geburtstag. Ein lieber Junge, rundlich, blond, mit Sommersprossen. Er ist der Stolz seines alternden Vaters, Seniorchef des Baubetriebes, in dem ich seit drei Monaten als Lohnbuchhalterin beschäftigt bin.
Ein kleiner Betrieb, familiär und freundlich geführt.
Man ißt gemeinsam in dem Haupthaus des Seniorchefs, nutzt in den Pausen den Pool im Garten, ein Stückchen heile Welt, wie sie gern vorgegaukelt wird.
Über die Schattenseiten wird geflissentlich geschwiegen.
,,Nehmen Sie bitte das Paket an, das der Bote heute bringen wird," trägt mein Chef mir morgens auf.
,,Bewahren Sie es bis zur Mittagspause in Ihrem Zimmer, ich will es meinem Jungen nach dem Essen geben. Er darf mich zukünftig zur Jagd begleiten und soll demnächst das Schießen lernen," fügt er nicht ohne Stolz hinzu.
Und so trage ich das lange, schmale Paket wenig später in mein Bürozimmer und verwahre es sorgfältig neben dem Rolladenschrank.
Nein, es beunruhigt mich zu keiner Minute, dass dieses Paket ein Kleinkalibergewehr enthält.
Es ist Erwins Geschenk zu seinem elften Geburtstag, diese Verbindung fügt sich nicht in das Bild der früheren Ängste um die Erfüllung meiner Vorahnung. Hier denke ich nicht an sie. Ich bin erwachsen, obwohl seit drei Wochen verlobt und einem Kopf voller Pläne, ist meine Welt in keiner Weise rund. Probleme gehören dazu, ich bin innerlich zerrissen, stets
darin gefangen, sie zu lösen. Das allein ist mein Ziel und es bleibt kein Platz für meine jugendlichen Phantasie Gespenster.
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Der 7. November ist, so also betrachtet, ein Tag wie jeder andere.
Um 17:00 Uhr hätte ich einen Termin bei meinem Zahnarzt und mein Chef erlaubt mir, das Büro eine halbe Stunde vorzeitig zu verlassen, um einen früheren Bus zu erreichen.
Man wisse ja nie und ich solle doch pünktlich beim Arzt sein können, zwinkert er mir lächelnd zu.
Außerdem habe er selbst mit einem Architekten einen unerwarteten Termin, der sich gerade ergab. Schon ist er mit seinem Auto davon gebraust.
Dass sein Sohn diese Gelegenheit nutzt, den Büroraum seines Vaters heimlich durch einen der Seiteneingänge betritt, bleibt mir verborgen.
Denn ich telefoniere gut gelaunt, hatte ich doch so eben die spontane Eingabe, den Termin bei meinem Zahnarzt abzusagen und auf einen anderen Tag zu verlegen.
16:05 Uhr, ursprünglich wollte ich um 16:10 Uhr in die Stadt zu meinem Doktor fahren.
Obwohl ich den Termin verschob, nehme ich meine Jacke, um den früheren Bus zu erreichen.
,,Haben Sie noch etwas Zeit?" fragt mich ein Kollege nun überraschend.
,,Wäre schön, wenn wir noch rasch die Abrechnungen für die acht Mann hier schreiben könnten."
Er wedelt mit ein paar Zetteln in der Hand.
Ich habe Zeit. Jetzt ja.
Durch das Fenster sehe ich meinen Bus Minuten später vorüberfahren.
Ach, das ist nun unwichtig, ich nehme, wie gewöhnlich, den nächsten Bus...
Diese acht Abrechnungen sind schnell erledigt.
16:30 Uhr ,,Wie hoch war noch die Erschwernis Zulage bei der letzten Abrechnung genau?" fragt er nun.
Mein Kollege sieht gern die Vergleichszahlen und so bemühe ich mich, sie aus der unteren Schublade des Schreibtisches herauszuholen und bücke mich hinunter.
Es dauert einen Moment, gerade diese acht Durchschriften aus der Schublade heraus zu greifen.
Es wird doch später, vermute ich und streiche den Bus um 16:40 Uhr aus meinen Gedanken.
Ich habe ja Zeit an diesem Nachmittag, viel Zeit.
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"Noch einmal das Gewehr in den Händen halten, über das Holz streichen, das kühle Metall spüren ..." mochte Erwin vielleicht gedacht haben, als er sich heimlich in das leere Büro des Vaters geschlichen hatte.
Sein Vater ist Jäger, besitzt ein kleines Jagdgebiet und beim Mittagessen hatte er ihm versprochen, ihn am Wochenende mitzunehmen und mit ihm das Schießen zu üben. Dann sind sie in Vaters Büroraum gegangen, dort hatte er sein Geschenk erhalten.
Sie hatten das Gewehr sorgsam ausgepackt, es geladen, er hatte es bestaunt, nicht fassen können, dass es ihm nun gehören solle, dass sein Vater ihm so viel zutraut, so viel anvertraut, eine nahezu feierliche Stimmung hatte sie umfangen und letztlich hatten sie gemeinsam die Kugeln wieder daraus entfernt. Und es müsste es noch auf dem Schrank im Büro seines Vaters liegen. Dorthin hatte Vater es gelegt. Erwin klettert auf einen Stuhl, und tatsächlich! Sein Gewehr!
Und zack! Da steht er nun.
Einmal nur zielen.
Gegen die Decke... Den Finger am Abzug...
Und plötzlich ist nichts mehr, wie es vorher gewesen war.
16:31 Uhr
Ausgelöschtes Gestern, ausgelöschter Platz im Leben. Ich bin, werde sein, doch wer bin ich fortan?
Ein seltsames Geräusch eigentlich nur, es ist dunkel um mich, meine Nase schmerzt, ich schlug auf die geöffnete Schublade meines Schreibtisches, als ich beim Hinabbücken zu den Abrechnungen des Vormonats von meinem Schreibtischstuhl gefallen bin. In meinen Ohren gluckert es, als sei ich ins Wasser gesprungen.
Ich tauche nicht wieder auf an diesem Ort, es bleibt dunkel um mich, die aufgeregten Stimmen der Kollegen höre ich wohl, doch sie erreichen mich nicht mehr. Ich bin ganz bei mir, fühle mich EINS wie nie, die ganze Welt bleibt draußen.
Erst viel später entdecken sie das kleine Loch in der Scheibe, die die Büroräume trennt. Ein Querschläger, wie spätere Ermittlungen ergeben werden.
Der Transport im Rettungswagen, die Sirenen und wieder das Versinken ins absolute Nichts.
Dann Stimmen, während ich spüre, meine Haare werden rasiert. Endlich hatte ich sie schulterlang getragen.
Es sah so gut aus, eigentlich... Ein Blick zurück ins frühere Leben. Seltsame Gedanken.
,,Hoffentlich war es nicht Schrot," höre ich jemanden sagen, spüre den kühlen, glatten Operationstisch unter mir.
Nein, weiß ich, es ist eine Kugel. Meine, die für mich bestimmt gewesen war. Und ich spüre keine Angst, sondern grenzenlosen Frieden in mir. Es ist "danach"; denn auch das hatte ich vor Jahren wissen sollen:
Ich würde wieder sehr glücklich sein. Trotz allem, was noch kommen wird und wovon ich nichts ahnen kann. Die Kraft der Suggestion "du wirst danach sehr glücklich werden," trägt mich trotz Lähmungen, die mir bevorstehen und vor allem trotz jahrelangem Suchen nach meiner neuen Identität.
Ich weiß in jenem Moment nur Eines und daran klammere ich mich: Ich werde glücklich sein.
Später...
***
Die Untersuchungen der Kriminalpolizei hatten ergeben,
dass eine Kugel in dem Gewehr vermutlich stecken geblieben war, als der Vater es mit seinem Sohn ge- und entladen hatte, weil es zuvor nicht geölt worden war.
Der Querschläger hatte die Scheibe, die unsere Büros
voneinander trennten, durchschlagen und wäre genau neben meinem Schreibtischstuhl eingeschlagen, hätte ich mich nicht in diesem Moment zufällig hinunter gebückt, um die Durchschriften aus der Schublade zu holen.
Texte: Gisela Mach
Bildmaterialien: Gisela Mach
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2013
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