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Micha lehnte ihren Kopf von innen an die Scheibe des Zugs. Sie war müde und draußen begann es gerade erst hell zu werden. Mit ihr waren viele andere so früh auf dem Bahnhof und paradoxerweise war das Treiben in der morgendlichen Dunkelheit umso geschäftiger. Auch Micha war von einer inneren Unruhe erfüllt, aber sie kannte sich nicht anders. Heute kam allerdings ein bisschen Wehmut hinzu. Ein Gefühl, dass sie überraschte. Nie hätte Micha sich träumen lassen, dass es einen Teil von ihr doch schwer fallen würde zu gehen.
Die letzten Pendler hasteten die grauen Treppen hinauf zu den Gleisen und drückten sich in letzter Sekunde in die Züge, bevor die Türen schlossen. Micha betrachtete den Bahnsteig, auf dem jetzt nur noch vereinzelt Anzugträger mit ihren Zeitungen standen. Die Uhr an der großen Digitalanzeige schlug um. Auch wenn sie durch die geschlossenen Fenster das Geräusch nicht wirklich hören konnte, so kam es ihr doch so vor. Zu oft hatte sie schon dort gestanden und sich vorgestellt in diesem Zug zu sitzen. Ein schriller Pfiff ertönte und mit einem Ruck setzte sich der Zug ratternd in Bewegung.
Ein wässriger Film bildete sich in Michas Augen, als sie noch einmal verstohlen den Blick aus dem Fenster richtete. Sie wollte nicht traurig sein. Seit so langer Zeit trug sie den Wunsch in sich genau hier zu sitzen. In diesem Zug. Sie wollte sich befreit fühlen, selbst wenn sie es würde erzwingen müssen. Micha legte die Beine so gut es ging auf ihren großen, grünen, prallgefüllten Rucksack und stellte sich schlafend.
„Is hier noch frei?“ grunzte kurze Zeit später eine seltsam gutgelaunte Stimme. Und noch ehe Micha die Augen geöffnet hatte und ohne eine Antwort abzuwarten plumpste ein massiger, übel riechender Körper auf den Sitz neben ihr. Die Präsenz dieses Menschen erdrückte und beunruhigte sie.
„Sach mal, biste taub oder schläfste, Mädel?“
Ein genauso penetranter wie unangenehmer Charakter, das war Micha sofort klar. Vermutlich würde sie ihn nicht lange ignorieren können. „Jetzt nicht mehr!“
„Aha, bissiges kleines Ding!“ gab der genauso ungepflegt aussehend wie riechende Typ zurück. „Ich bin der Dieter!“
Jetzt wusste sie, dass es eine lange Fahrt werden würde, denn die schwielige Hand mit den abgekauten dreckigen Nägeln, die sich ihr entgegen streckte wirkte entschlossen. Und als sie nicht gleich reagierte, griff Dieter einfach nach der ihren um sie kräftig zu schütteln.
„Hälst wohl nicht viel von Höflichkeiten, wa?“ er grinste und entblößte schiefe, gelbe Zähne und den übelsten Mundgeruch, den sie sich vorstellen konnte. „Bist wohl ein Morgenmuffel. Dann will ich mal versuchen dich aufzuheitern.“
Micha musste sich anstrengen ihr Entsetzen zu verbergen. Ärger wollte sie mit diesem Kerl nun wirklich nicht bekommen.
„Wo fährste denn hin, Mädel? Zur Schule? Mit dem Rucksack? Bei uns früher waren die kleiner.“
„Nein.“ antwortete sie knapp und versuchte direkten Augenkontakt zu vermeiden.
„Aha, verstehe. Schulschwänzer! Ja, das hab ich auch oft gemacht, früher. Allerdings bin ich dann immer lang im Bett geblieben und nicht in aller Herrgottsfrühe mit dem Zug durch die Gegend gefahren. Schwänzt die Schule? Hab ich recht?“
„Ja.“ Antwortete Micha leise, mit leicht genervtem Unterton und nickte unterstützend.
„Hab ich’s doch gleich gesehen. Ist dir irgendwie peinlich!? Oder biste schüchtern, Mädel? Muss dir nicht peinlich sein. Machen doch alle. Wie gesagt, hab ich auch gemacht. Aber lass dir eins gesagt sein. Die Schule war ‘ne gute Zeit. Heut denk ich oft, dass es besser gewesen wär, wenn ich öfter hingegangen wär. Schwänzt du oft?“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Solltest du auch nicht. Lernen ist wichtig. Hab ich früher auch nicht gedacht. Ich weiß auch bis heute nicht, wieso ich all diese alten Bücher gelesen haben soll. Aber anscheinend kann man ohne ja nur an der Kasse im Supermarkt arbeiten. Willste das?“
„Nein.“ Micha hatte kaum Zeit Luft zu holen, da legte Dieter schon wieder los. Seine gelblich grünen Augen glänzten richtig. Und trotzdem wirkten sie irgendwie trüb. Etwas staubig, wie eigentlich alles an ihm.
„Willste wissen, wo ich arbeite? Oder früher gearbeitet habe wohl eher. Ich war mal in der großen Elektrofabrik hier. Aber die hat ja jetzt geschlossen. Jetzt arbeite ich stundenweise bei einer Spedition. Ich belade und entlade LKWs. Aber dauernd diese Kisten schleppen, das geht ganz schön ins Kreuz. Das kann ich auch nicht ewig machen. Bin ja nicht mehr der Jüngste. Sei froh, daste noch jung bist.“
Micha wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Und da sie ohnehin nicht mit diesem Mann reden wollte, beschloss sie zu schweigen und entgegen ihres ursprünglichen Plans doch wieder aus dem Fenster zu sehen.
„schön da draußen, nich Mädel?! Die Sonnenaufgänge hier sind eh die schönsten. Ich weiß gar nicht wieso immer alle von Hawaii oder so reden. Ich kenn sowieso keinen der schon mal da war. Früher sind wir ja immer nach Malle gefahren, meine Kumpels und ich. Aber dann hab ich meine Frau kennengelernt und hab das sein lassen. Wenn man verheiratet ist, dann ändert sich alles. Willste mal heiraten?“
„Ich weiß nicht.“ Das war gelogen.
„Bist ja auch noch jung. Haste denn jemanden zum Heiraten?
Micha schwieg.
„Willste nicht sagen, wa! Auch gut. Ich wollt nie heiraten, aber Frau. Also da war die natürlich noch nicht meine Frau. Für die hätt ich eh alles gemacht. Hab sogar mit dem Trinken aufgehört. Aber dann ist die krank geworden. Krebs.“
„Tut mir leid!“ Ob sie wollte oder nicht. Micha war irgendwie betroffen.
„Muss es nicht, Mädel. Bist ja nicht schuld. An sowas ist keiner schuld. Hat mich aber echt aus der Bahn geworfen als die gestorben ist. Ist jetzt 10 Jahre her, kommt mir aber vor wie gestern. Da hab ich auch wieder mit dem Trinken angefangen. Die haben mich dann sogar in die Klapse gesteckt.“
„Das ist hart!“ Micha hätte am liebsten gesagt er solle ruhig sein, aber jetzt machte er ihr erst recht Angst.
„Ach war nicht so schlimm. Ich mach aus allem immer das Beste. Da hab ich meine jetzige Frau kennengelernt. Also wir sind gar nicht verheiratet, aber ich sag das trotzdem immer so. Die hat mir echt das Leben gerettet. Ich trink jetzt auch nicht mehr so viel. Willste mal en Foto sehn?“ Dieter nestelte an der Brusttasche seiner versifften Jeansjacke und zog ein in der Mitte geknicktes Foto heraus. „Das isse! Hübsch, nich?“
Micha nickte. Wieder eine Lüge.
„Die arbeitet auch nicht mehr. Wegen ihrer Krankheit. Dabei möchte die gerne, die langweilt sich zuhause. Und Freundinnen hat die auch nicht mehr so viele. Aber die hat ja mich und das ist doch auch schon was.“
Plötzlich war es still. Einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Micha war erleichtert, zog ihren Mp3 Player aus der Tasche, steckte die bunten Kopfhörer in die Ohren, lehnte den Kopf wieder ans Fenster und schloss die Augen. Für ein paar Minuten erschien ihr die Welt herrlich friedlich. Abgesehen von Dieters penetrantem Körpergeruch, der mit seinen überaus aufdringlichen Rasierwasser eine gar unerträgliche Mischung bildete.
„Wo fährste denn jetzt hin? Irgendein Ziel musste doch haben. Ich mein der Zug ist mittlerweile in Holland. Und keiner verlässt einfach so aus Spaß das Land. Hab ich dir schon gesagt wo ich hin will?“
„Nein.“ Diesmal versuchte sie gar nicht erst ihre Verärgerung zu verbergen.
„Nach Amsterdam. Ich besuch ‘nen alten Freund. Der wohnt schon seit den 70ern da. Ist immer noch ein Hippie, genau wie früher. Aber das geht da auch. Das passt da hin. Warste schon mal da? Musste unbedingt mal hin! Jetzt hast du mich doch tatsächlich ausgetrickst, eigentlich wollte ich doch wissen wo du hinwillst.“
„Nach Amsterdam.“ Antwortete Micha mit knirschenden Zähnen.
„Na, das is ja mal ein Zufall. Wenn de willst kann ich dir ja ein bisschen die Stadt zeigen. Wie lange bleibste denn? Also ich bleib ja übers Wochenende. Kann dir auch meine Nummer geben, dann kannste mich anrufen. Falls de heute schon was anderes vorhast.“
„Ja, hab ich.“ Log sie und unterbrach zum ersten Mal Dieters Redefluss.
„Na macht ja nix. Ich geb‘ dir mal meine Nummer. Aber du musst versprechen auch anzurufen. Ich find das immer blöd, wenn Leute das nur so sagen.“ Er kritzelte die Nummer auf ein Kaugummipapier. Micha war wirklich froh, dass er nicht wollte, dass sie sie einspeicherte und sie ihn dann gleich zurückrufen musste, damit er ihre Nummer auch hatte. Auch wenn Dieter bisher ganz freundlich war, so machte er ihr doch immer noch Angst. Er ließ sich aber auch einfach nicht abschütteln. Normalerweise war sie gut darin abweisend auf Fremde zu wirken. Aber an sowas schien er sich ja nicht zu stören.
Fährste zu deinem Freund? Ihr jungen Leute lernt euch ja heutzutage alle im Internet kennen. Dann muss man eben schon mal ein ganzes Stück fahren. Aber eigentlich macht das ja Spaß. So ganz ohne Eltern vor allem. Wir haben das ja früher viel öfter gemacht. Also das Rumfahren. Das war da auch noch nicht so gefährlich. Heut würd ich meine Kinder nicht alleine reisen lassen. Aber ich hab ja auch gar keine. Jetzt wird ich wohl auch keine mehr bekommen. Meine Frau is auch schon zu alt dazu. Obwohl so weit wie die Medizin heut is. Nee, das Leben is schon schwer genug. Willste mal Kinder? Na ja du wusstest ja nicht mal, ob du heiraten willst. Aber eigentlich muss man heute ja nicht mehr verheiratet sein um Kinder zu haben. Und die, die’s sind lassen sich eh alle wieder scheiden. Das ist ja eh das Schlimmste, find ich! Sind deine Eltern geschieden? Ich hoffe nicht! Das wünscht man ja keinem. Meine Mutter is tot und mein Vater hat wieder geheiratet. Aber das is fast so, als wär der auch tot. Ich seh den eigentlich nie. Aber wahrscheinlich hab ich da noch Glück. Ich könnt mir das gar nicht leisten, mich um den zu kümmern, wenn der das mal braucht, mein ich. Und ich hab auch keine Geschwister die mir da finanziell helfen könnten…“ mitten im Satz unterbrach Dieter seine Ausführungen und sah in den vorderen Wagon. Plötzlich wurde er nervös. „Ich muss mal weg. Wir reden noch. Zur Not haste ja auch meine Nummer.“ Wieder streckte er Micha seine Hand entgegen. Doch diesmal griff sie beherzt zu. Ihr war alles egal, solange er nur ging, war es ihr recht.
„Fahrkarten, bitte!“ Dröhnte ihr die äußerst tiefe unhöfliche kalte Stimme des Schaffners entgegen. Sie sah zu ihm auf und war überrascht. Der Mann war groß und sehr schlaksig, mit strähnigen Haaren. In keinem Fall passte sein Äußeres zu seiner Stimme. „Hast du keine Fahrkarte?“ fragte er barsch. „Dann sag‘s lieber gleich und verschwende nicht meine Zeit!“
„Doch!“ antwortete Micha nun selbst ein wenig gereizt und hielt ihm die Karte demonstrativ unter die Nase. Er nickte und ging ohne ein weiteres Wort zum nächsten über. „Ihnen auch einen schönen Tag noch, sie Arschloch!“ murmelte Micha vor sich hin, während sie die Fahrkarte wieder in ihrem Rucksack verstaute.
Unvermittelt stand jemand vor ihr und räusperte sich. Eine Sekunde lang fürchtete sie es sei wieder der Schaffner. Vor ihr stand jedoch eine kleine, gebeugte alte Dame mit grauem Haar und braunen, zum altmodisch wirkenden Trenchcoat, passenden Hut. „Entschuldigen sie, Fräullein (so sprach sie es aus), ich wollte nur fragen, ob ich mich zu ihnen setzen darf?“
Micha wunderte sich. Der Zug hatte in der letzten Zeit gar nicht mehr gehalten. Hatte die Frau die ganze Zeit seit dem letzten Halt gestanden? Micha nickte.
„Ich will mich nicht aufdrängen, aber der Herr, der neben ihnen saß war mir etwas unheimlich. Zuerst dachte ich ja, sie würden ihn kennen, aber man hat ihnen ja geradezu angesehen, dass sie sich unwohl fühlten.“
„Mhh, ja ein bisschen schon.“ Antwortete Micha leicht amüsiert.
„Hatte der Mann getrunken? Er sah so aus, wenn sie mich fragen, Fräullein! Heute muss man ja sehr vorsichtig sein mit den Leuten. Man weiß ja nie! Und gerade so ein hübsches junges Mädchen wie sie, das ganz alleine unterwegs ist. Da kann ja Gott-weiß-was passieren! Man liest ja immer die schlimmsten Dinge in der Zeitung. Ich bin ehrlich gesagt auch froh, jetzt neben ihnen sitzen zu können. Ich hab im Zug immer Angst , dass mir jemand die Handtasche klaut.“
„Und vor mir haben sie keine Angst?“
Der alten Dame wich plötzlich alle Farbe aus dem Gesicht und sie sah Micha entgeistert an.
„So habe ich es nicht gemeint.“ Stotterte Micha schnell und bemühte sich die Situation zu entschärfen. „Aber sie sagten ja eben selbst, heute kann man nie wissen!“
„Jetzt bin ich aber beruhigt, Fräullein. Immerhin wollte ich ihnen nur helfen.“
„Das weiß ich, danke sehr.“ Versuchte Micha weiter zu beschwichtigen.
„Eine angenehme Reisegesellschaft ist nämlich nicht zu unterschätzen. „ fuhr die Alte fort. „Ich bin mal mit dem Zug nach Berlin gefahren, aber damals war das noch die Reichsbahn. Da waren fast nur Soldaten im Zug. Als junges Mädchen fand ich das natürlich sehr aufregend. Aber da herrschte ein Umgangston, das können sie sich nicht vorstellen, Fräullein. Nicht schön war das. Mein Bruder war ja auch beim Militär, daher kannte ich das ja ein bisschen. Der ist dann im Krieg gefallen. Aber das ging ja allen so, alle Familien haben irgendwen verloren. Sie haben es dagegen gut heute. Meinem Enkel das ich das auch immer, aber der nimmt mich nicht ernst. Haben sie Geschwister, Fräullein?“
„Nein, nicht mal ein Haustier.“ Antwortete Micha nicht ganz ohne Traurigkeit in der Stimme.
„Ja, ja. Es gibt viele Einzelkinder heute. Früher gab‘s das ja viel weniger. Ist auch viel schöner, wenn man nicht alleine ist, aber sie kennen es ja auch nicht anders… Ich hab zwar meinen Bruder nicht mehr, aber der war verheiratet. Seine Frau lebt hier in Holland. Da fahr ich zwei Mal im Jahr hin. So lang es meine Gesundheit noch erlaubt. Dabei verreise ich doch so gerne. Ich hab schon richtig Angst vor dem Tag, an dem ich das nicht mehr kann.“
„Ich verreise auch gerne. Wenn man immer nur an einem Ort bleibt wird man ja verrückt.“ Das war das erste Mal, dass Micha etwas sagte, ohne vorher explizit gefragt worden zu sein.
„Machen sie das, solange sie noch können. Später bereuen sie es, Fräullein. Es gibt so viele Orte, wo ich gerne mal hingefahren wäre, aber jetzt ist es zu spät- Zu, Glück gibt es ja so schöne Reisesendungen im Fernsehen, dann kann man wenigstens ein bisschen träumen.“
„Die meisten Orte sind vermutlich eh nicht so schön wie sie im Fernsehen aussehen.“ Versuchte Micha die alte Dame zu trösten.
„Da mögen sie recht haben.“ Der Zug ruckte und kam zum Stehen. „Hier muss ich leider raus. Ich wünsche ihnen noch eine angenehme Fahrt. Alles Gute, Fräullein!“
„Für sie auch!“ Micha sah ihr durch das Fenster nach, wie sie ihren kleinen Rollkoffer mühsam hinter sich herzog und auf eine aufgeregt winkende Frau mit Hund zuging.
„Du hast aber heute nur Pech mit deinen Sitznachbarn“ lachte plötzlich jemand neben ihr. Das schien zur Gewohnheit zu werden. Ein mittelgroßer junger Mann, vermutlich in ihrem Alter mit blonden Haaren, leichtem Dreitagebart und gefangen nehmenden blauen Augen grinste sie an.
„Und du willst dafür sorgen, dass das auch so bleibt!?“ fragte Micha ihn schnippig.
„Ah, eine kleine Zicke, ich merke das schon.“
„Nichts merkst du! Wenn ein Mädchen nicht immer brav ja und Amen sagt, dann ist sie immer gleich ‘ne Zicke. Das ist ja sooo einfach.“
Er ließ sich ungefragt in den Sitz neben sie plumpsen: „Dann beweis mir das Gegenteil! Also was ich schon über dich weiß: du schwänzt die Schule um nach Amsterdam zu fahren, hast weder Geschwister noch ein Haustier, aber eine bemerkenswerte Geduld.“
Micha sah ihn mit offenem Mund an.
„Dazu fällt dir jetzt nichts mehr ein?“ fragte er.
„Doch, schon, aber wenn du so gut darin bist andere auszuspionieren, dann hätte dir auch auffallen müssen, dass ich eigentlich nicht reden möchte.“
„Und dennoch hast du es die ganze Zeit getan. Wenn du mit denen reden kannst, kannst du es auch mit mir.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Tag noch schlimmer werden könnte.“
„Sehr charmant bist du. Aber das ignorier ich jetzt einfach mal. Denn ich bin ein angenehmer Gesprächspartner und nachdem, was du Heute erlebt hast ein Glücksfall für dich. Obwohl du so unverschämt zu mir bist, rede ich lieber mit dir, als mit irgend so einer seltsamen Gestalt.“
„Ich scheine keine Wahl zu haben.“
„Das siehst du ganz richtig.“ Er strich sich eine Strähne seiner Haare aus dem Gesicht. Sein Schnitt war extravagant, so wie er, wie es ihr schien. Auch wenn sie es gerne abgestritten hätte, seine Art faszinierte sie.
„Na dann, bringen wir es hinter uns!“
„Ich hoffe das sagst du nicht immer zu Männern.“
„Du hälst dich wohl für besonders witzig.“
„Du bist es jedenfalls nicht, meine Liebe.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich kann ja auch aufstehen und gehen, wenn du nicht mit mir reden magst, aber besser wird’s nicht mehr. Vertrau mir einfach.“
„Wie kann ich jemandem vertrauen, dessen Namen ich nicht mal kenne?“
„Den würdest du kennen, wenn du gefragt hättest.“
„Ok, ich geb‘ auf.“ Micha entspannte sich ein wenig. „Wie heißt du?“
„Lukas.“
„Es tut mir leid, aber jetzt vertraue ich dir auch nicht mehr als eben.“
Er lachte. „Du bist doch lustig.“
„Wie alt bist du?“ fragte sie weiter, selbst überrascht von ihrer Neugier.
„20. Meine Schuhgröße ist 42, ich mag Hunde lieber als Katzen und mein Lieblingsessen ist Pizza. Sonst noch was?“
„Ehrlich gesagt ja. Wo fährst du hin?“
„Willst du den Zielort meiner Reise wissen, oder den Grund?“
Seine Art zu denken gefiel Micha. „Wenn ich ehrlich bin ist mir der Grund lieber.“
„Lieber?“
„Na ja, den Grund finde ich interessanter.“
„Ich will meine Freundin besuchen. Bist du jetzt enttäuscht?“
„Enttäuscht, weil du ne Freundin hast? Nein. Du hast mich angequatscht, schon vergessen?“ im ersten Moment war sie enttäuscht, aber weniger weil Micha Interesse an ihm entwickelt hätte, als vielmehr, weil er anscheinend keines an ihr hatte.
„Das ist wahr. Aber reden ist ja nicht verboten, oder?“
„Nein, sicher nicht.“
„Hast du einen Freund?“ jetzt war wieder er neugierig.
„Nö.“
„Männer sind auch sehr anstrengend. Das siehst du ja an mir.“
„Ich hab nichts gegen Männer.“
„Jetzt klingst du wieder zickig. Das war doch kein Vorwurf an dich. Du nimmst die Dinge schon schnell persönlich.“
„Wie lange bist du schon mit deiner Freundin zusammen?“ sie wollte nur ablenken vom Thema, wie war ihr egal.
„Drei Jahre. Aber damals wohnte sie noch in der Nachbarschaft. Aber das Thema ist doch wirklich nicht so spannend. Wo willst du denn hin?“
„Das weiß ich nicht.“ Gab Micha wahrheitsgetreu zu.
„Wie kann man das nicht wissen?“ Lukas schien ernsthaft verwundert.
„Ich wollte einfach nur weg.“
„Das Gefühl kennt wohl jeder. Hast du denn vor zurück zu fahren, oder haust du ab?“
Er schien sie zu durchschauen. „Ich will nur weg, weiter habe ich noch nicht gedacht, aber ich fahre wohl auch wieder zurück.“
„Ist vermutlich auch besser so. Einfach abhauen ist doch keine Lösung. Man muss sich seinen Problemen stellen. Finde ich. Mach ich aber auch nicht immer.“
„Du hast recht.“ Sie nickte. „Aber heute will ich einfach nur weg.“
„Das ist ja ok. Woanders kann man manchmal besser nachdenken. Weil man ein bisschen Abstand hat.“
„Ja, so in etwa ist mein Plan. Obwohl ich eigentlich keinen habe.“ Seltsamerweise fühlte sie sich wirklich wohl in diesem Gespräch. Manchmal war es vielleicht wirklich leichter mit Fremden über Dinge zu reden, die einen bewegten. Vor allem konnte man ehrlich zu ihnen sein. Sie begann zu verstehen, wieso sie heute schon 2 Lebensgeschichten zu hören bekommen hatte.
„Willst du mir erzählen, worüber du nachdenken musst?“ fragte Lukas weiter.
„Über mich, eigentlich. Kennst du das, wenn du morgens aufwachst und nicht so genau weißt, wer du bist. Und diese Person, die du morgens im Spiegel siehst auch nicht besonders gerne magst?“ plötzlich war ihr egal, wie er über sie urteilen würde.
„Ja, nur zu gut. So geht es doch jedem Mal.“ Sein Verständnis erschien ihr nicht geheuchelt.
„Mir geht es jeden Tag so. Und das liegt an mir. Heute morgen habe ich das erkannt, dass es nur an mir liegt und nicht an anderen. Und deswegen wollte ich… ich weiß nicht…“
„Zeit mit dir selbst verbringen?“
„Ja, genau. Du bist gut.“ Micha musste lachen.
„Ich weiß.“
„Und gar nicht eingebildet.“
„Oh, Ironie. Tut mir leid, dass wir dieses Gespräch jetzt nicht fortführen können, aber hier muss ich raus.“
„Eigentlich schade.“
„Hab ich dir das nicht gesagt?“ Lukas schien sehr zufrieden mit sich.
„Ja, ich sagte ja, dass du gut bist. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“
„Dir auch. Ich hoffe du findest raus, wo DU aussteigen musst.“
„Ich bin zuversichtlich.“ Durch dieses Gespräch hatte sich Michas Laune schlagartig gebessert.
Lukas nickte ihr zu, schulterte seinen Rucksack und ging den Gang hinunter.
Sie ließ sich in den Sitz zurückfallen, nahm ein Buch zur Hand und sah nicht mehr aus dem Fenster.
So verbrachte Micha den Tag, ohne Ziel. Und doch war es genau das, was sie gebraucht hatte. Ungewollte, seltsame und episodenhafte Begegnungen mit Menschen, die sie nie wieder sehen würde.

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Tag der Veröffentlichung: 08.06.2009

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