„Scheiße“ Mein Eis flog durch die Luft und landete auf dem grünen Rasen. Na wenigstens nicht auf einem fremden Handtuch. Beinahe war ich erleichtert. „Kannst du nicht aufpassen?“
„Sorry, hab dich nicht gesehen. Alles in Ordnung?“
Oh mein Gott. Jetzt schon. Ich starrte ihn an. Und schüttelte gleich darauf vehement den Kopf. Wie hatte ich so etwas denken können. Wegen dem Idioten hatte mein Eis dran glauben müssen. Die einzige Freude dieses Tages. Aber niedlich ist... Nein Nein
„Ich bin Ben. Also Benjamin.“ Er schien irgendwie verlegen. „Kann ich das irgendwie wieder gut machen?“
Ich konnte ihn nur mit großen, wohl überraschten und auch wütenden Augen ansehen. „Katrin.“
„Wie wär`s wenn ich dir ein neues Eis kaufe? Sind wir dann quitt?“ Er sah mich aus seinen tiefblauen Augen an.
„Das ist doch nicht nötig! Schon gut.“
„Nein, nein. Auf keinen Fall!“ Er lächelte. Ich hätte ja auch besser aufpassen können. Also komm!“ Er griff nach meinem Arm und zog mich sanft in Richtung Kiosk.
„Ganz alleine hier?“ fragte er und schleckte an seinem Eis.
„Nee, meine Freunde sind da hinten, aber ich brauchte mal ne Auszeit.“
Er sah mich aufmerksam an. Es interessierte ihn tatsächlich. Er schien nicht nur aus Höflichkeit gefragt zu haben.
„ Und Eis essen ich für mein Leben gern!“
„Siehst aber nicht so aus.“ Er grinste und dabei sah ich zum ersten mal seine Grübchen.
„Hmmmm. Danke.“
„Ich kann das verstehen, habe mich auch mal abgesetzt.“ Er machte eine Pause, blieb stehen und sah mich an. „Also Katrin, hast du Lust mir noch etwas Gesellschaft zu leisten? Ich muss doch garantieren, dass nicht wieder irgendso ein Rüpel kommt und dich umrennt!“
Ich musste lachen. „Ja sehr gerne, Ben!“
Wir setzten uns auf die Wiese in. Ich lehnte mich zurück und sah in den sonnigen Himmel dieses schönen Sommertages.
„Warte mal.“ Meinte Benjamin und sprang hastig auf. „Hier! Damit du nicht direkt im Gras sitzen musst.“ Er nahm das Handtuch, das bis gerade über seinen Schultern gehangen hatte und versuchte es etwas ungeschickt auf der Wiese auszubreiten.
Ich musste lachen. „Soll ich mal dein Eis halten?“ Ich stand auf und nahm es ihm ab.
„So!“ er klang zufrieden und ließ mich erneut Platz nehmen. „Ist zwar nicht wirklich bequem, aber wenigstens sauber:“
Jetzt wo das Handtuch unter mir auf der Erde lag hatte es den Blick auf seinen braungebrannten Oberkörper und die ziemlich breiten, wenn auch nicht sonderlich muskulösen Schultern frei gegeben. Er sah wirklich gut aus, auch wenn das Freibad groß war, konnte ich mir kaum erklären, wie ich diesen Kerl hatte übersehen können. „Kommst du oft hierher?“ fragte ich schließlich.
„Nee, offen gestanden nicht. Und du?“ Ohne mich jedoch antworten zulassen, sprach er weiter. Als hätte er nur meine Reaktion austesten wollen. „Mein Cousin hat mich mitgeschleppt:“
„Ach so.“ antwortete ich und bemühte mich nicht allzu enttäuscht zu klingen.
„Kommst du öfter her?“ fragte er ein zweites Mal und lächelte mich an.
„Eigentlich schon, also...ja manchmal.“ Ich musste lachen.
„Sehr präzise klingt das aber nicht.“
„Ja, stimmt. Meine Freunde kommen öfter. Ich eigentlich nicht.“ Antwortete ich während ich genüsslich an meinem Eis leckte.
„Du also nicht!? Magst du keine Freibäder?“ er zog den Holzstiel seines Eises aus dem Mund und legte ihn neben sich in die Wiese.
„Weiß nicht. Ist halt immer so voll.“ Was sollte ich bitte darauf antworten? Egal was ich sagte, er würde ja ohnehin denken ich sei eine furchtbare Zicke. „Wieso gehst du denn nie ins Freibad?“
„Das hab ich doch gar nicht gesagt. Ich geh doch ins Freibad.“ Sagte er schnippisch legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme unter seinem Kopf.
Ich sah verständnislos auf ihn runter. „Ist ja auch egal.“ War meine fast schon pampige Antwort. Ich war im Begriff aufzustehen.
„Ich wohne nicht hier.“ Meinte er plötzlich ganz unvermittelt. „Bin nur zu Besuch. Schade eigentlich.“
Was sollte denn das jetzt wieder heißen? Auf jeden Fall schaffte diese Bemerkung es, dass ich nicht mehr gehen wollte. Könnte ja noch interessant werden. Es sah wirklich niedlich aus, wie er sich so eine Strähne seines glänzenden dunklen Haares aus den Augen pustete und zu mir rauf guckte.
„Stimmt was nicht?“
„Hähhh?“
„Na mit deinem Eis?“ Er klang leicht verunsichert.
„Nein, alles in Ordnung. Wie kommst du darauf?“
„Du hältst es ziemlich lustlos in der Hand und vor lauter Trauer begeht es gerade Selbstmord.“
Er hatte recht, mein Eis verabschiedete sich Tropfen für Tropfen auf das Handtuch beziehungsweise auf die Wiese. „Sorry.“ Ich hob es schnell an, um ein weiteres Beschmutzen seines Handtuchs zu vermeiden.
„Ach das ist nicht so schlimm!“ wiegelte er ab. „Aber wenn es dir nicht schmeckt, hätte ich dir auch ein anderes kaufen können.“ Er setzte sich wieder auf und runzelte die Stirn. „Ist es denn nicht das gleiche, was du auch vorher hattest. So gut war das ja nach meiner Attacke nicht mehr zu erkennen.“
„Doch, doch.“ Wie schaffte er es nur mich immer wieder verlegen zu machen? „Es ist nur schon mein drittes Eis heute.“
„Dein drittes?“ Benjamin sah mich ungläubig an.
„Ja, mir war langweilig. Magst du das aufessen?“
„Klar doch!“ Benjamin griff nach dem Eis und unsere Hände berührten sich. Ich konnte von Glück sagen, dass ich bereits auf dem Boden saß, sonst hätte ich mit Sicherheit weiche Knie bekommen. Doch auch er sah etwas verlegen zu Boden und verschlang dann schnell den kläglichen Rest, meiner geschmolzenen Abkühlung.
„Wo ich mich jetzt so vollgekleckert habe könnte ich eine kleine Abkühlung vertragen.“ Er stand auf und streckte sich. „Was ist kommst du mit?“
„Ach ich weiß nicht!“ Allein der Gedanke an das überfüllte Becken sorgte für reichlich Unbehagen bei mir.
„Na gut. Du musst ja nicht.“ Er hielt mir seine Hand hin und sah mich traurig an.
Ich griff danach und stand auf. „Ich setz mich einfach da vorne in den Schatten.“ Ich zeigte auf einen Baum unweit des großen Sprungturms. „Und wenn du Lust hast, kannst du ja gleich wieder zu mir kommen und ich leiste dir beim Sonnentrocknen Gesellschaft.“
„Hmmm.“ Meinte er und war schon weg.
Schade, war doch wieder klar, dass du das vermasselst. Sein Handtuch hatte er allerdings liegen lassen. Ein gutes Zeichen, so hoffte ich zumindest, nahm es und setzte mich an besagte Stelle.
Trotz erheblicher Bemühungen war es mir nicht wirklich möglich Benjamin zwischen den vielen johlenden Menschen im Wasser auszumachen. Um besser liegen zu können platzierte ich meine große Haarspange also neben mich auf den Boden und machte es mir bequem.So konnte ich also nur warten und hoffen, dass er wiederkam. Diese Hoffnung sollte allerdings nicht enttäuscht werden.
„Ahhhhhh!“ Kühles Wasser spritzte auf mich herab und weckte mich unsanft aus meinem Nickerchen.
„Da bin ich wieder!“ Rief er triumphierend mit einem unverschämten Grinsen auf den Lippen und schüttelte sich erneut wie ein Hund. „Ich begebe mich da draußen in Lebensgefahr und du schläfst einfach ein.“
„So bin ich nun mal! Aber wo warst du denn bitte in Lebensgefahr?“
„Das kannst du ja gar nicht beurteilen, wenn du schläfst, Katrin.“ Benjamin zog eine Schnute. „Ich habe mich todesmutig von diesem Turm gestürzt.“
„Jetzt kannst du mir viel erzählen.“ Grinste ich ihn an. „Vom Einmeter Brett bist du gesprungen, gib es zu!“
Er ließ sich neben mich ins Gras plumpsen und seufzte. „Vermissen dich deine Freunde nicht langsam?“
„Wohl kaum. Aber sag mal willst du mich loswerden?“ fragte ich entrüstet und stemmte die Hände in die Hüften.
„I-wo! Ich wollte nur sichergehen, dass die nicht mittlerweile die Polizei gerufen haben.“ Er machte eine kurze Pause und begann sich ausgiebig mit seinem Handtuch abzurubbeln. „Also ich hätte es getan, wenn jemand wie du mir verloren gegangen wäre.“
„Schleimer!“ Ich lehnte mich gegen den Stamm des Baumes und sah ihm bei den Bemühungen zu das Handtuch so an seinen Ästen aufzuhängen, dass es in der Sonne trocknen konnte.
„Ihr habt hier noch länger Sommerferien, oder?“ er hatte sich neben mich gesetzt.
„Ja, noch zwei Wochen, wieso?“
„Ach nur so, für mich ist das das letzte Wochenende. Am Montag geht es wieder los.“
„Wo kommst du denn her?“
„Berlin!“ antwortete er und kratze sich am Kopf.
„Ost oder West?“ ich hätte mir wirklich nie träumen lassen diese Frage mal zu stellen, aber es war mir einfach so rausgerutscht.
„Ist das wichtig?“ Benjamin kniff die Augen zusammen.
„Nee, denk nicht.“
„West.“ Sagte er dann ganz beiläufig. „Meine Mutter schickt mich jetzt seit zwei Jahren zu meiner Tante hierher. Seit meine Eltern geschieden sind halt.“
Ich schwieg. Benjamin tat mir leid. Er klang wirklich alles andere als glücklich mit dieser Situation.
„Sommerurlaub kann sie sich nicht mehr leisten und mit meinem Vater und seiner Familie will ich nicht wegfahren.“
„Tut mir leid.“ Ich wusste wirklich nicht was ich darauf sagen sollte. Wieso erzählte er mir das? „Das mit deinen Eltern meine ich.“
„Ach muss es nicht.“ Er winkte ab. „In Berlin würde ich jetzt nicht so schön mit dir in der Sonne sitzen.“
„Nicht mit mir vielleicht, aber mit sonst jemandem.“ Toll, was dümmeres hätte ich nicht sagen können. Zum Glück schien Benjamin es nicht gehört zu haben, er schlummerte plötzlich friedlich vor sich hin.
Kurze Zeit sah ich auf die große Uhr, die über dem Nichtschwimmerbecken am Haus mit den Umkleidekabinen hing. Noch etwas mehr als eine Stunde, dann würden meine Freunde wohl verschwinden. Und spätestens dann würden sie mich suchen. Ich musste mich wohl verabschieden.
„Wo willst du hin?“ fragte Benjamin und hob den Kopf.
„Ich muss so langsam wirklich gehen!“
„Ich lass dich auf keinen Fall gehen, bevor du nicht wenigstens eine Runde mit mir geschwommen bist!“ Blitzschnell war er auf den Beinen und stellte sich mir in den Weg.
Ich war völlig perplex.
„Also was ist jetzt, Katrin? Ich pass auch auf dich auf!“
„Na gut.“ Ich konnte einfach nicht anders.
Wir schlenderten über die Wiese auf das Becken zu, kaum dort angekommen verpasste er mir einen kräftigen Schubs und ich fiel mit einem großen Platscher ins Wasser.
„Ben!“ schrie ich wütend, während er behände mit einem Kopfsprung hinterher kam. „Das gibt Rache.“
Benjamin lachte. „Tut mir leid. Aber ich konnte einfach nicht wiederstehen.“
Doch ehe er sich zuende entschuldigen konnte, drückte ich ihn mit aller Kraft unter Wasser. Prustend kam er wieder hoch und schwamm auf mich zu. Das sah nicht gut für mich aus. Wenn er richtig loslegte hatte ich keine Chance. Also entschied ich mich dafür lieber reis aus zu nehmen.
„Hab ich dich!“ Seine Hände ergriffen mich von hinten und zogen mich näher an ihn.
„Tja, du scheinst gewonnen zu haben.“ Ich drehte mich um und strahlte ihm entgegen.
„Du ergibst dich also!“ fragte er, machte jedoch keine Anstalten mich loszulassen.
„Ja, ich denke schon.
Übermütig beugte er sich zu mir vor und gab mir einen Kuss. Grinsend ließ er mich los tauchte unter und verschwand irgendwo zwischen den Menschen.
Ich war wie vom Blitz getroffen. Nicht, dass ich mich nicht gefreut hätte, aber wirklich damit gerechnet hatte ich wohl kaum. Da war er wider. Ich sah ihn deutlich, wie er den Leiter zum Zehnmeter-Turm hinaufkletterte.
„Katrin!“ Die Stimme hinter mir klang wütend. „Da bist du ja. Wie haben dich schon überall gesucht!“
Tina stand am Rand des Beckens und hatte mein Handtuch und meinen Rucksack bereits in der Hand. „Komm schon, wir wollen doch noch ins Kino!“
Ich schwamm zum Rand des Beckens versuchte dabei jedoch Benjamin auf dem Sprungturm nicht aus den Augen zu verlieren.
Tina ergriff meinen Arm und zog mich quer über die Wiese in Richtung Ausgang.
„Halt!“ schrie ich sie an und riss mich los. „Ich bin ja nicht mal angezogen, außerdem...“ Benjamin hatte ich mittlerweile aus den Augen verloren, er musste wohl schon gesprungen sein.
„Anziehen kannst du dich draußen! Die anderen warten schon. Wir haben dich gesucht! Du wolltest dir doch nur ein Eis holen.“ Sie drückte mir meine jeans und mein T-Shirt in die Hand. „Ach das kannst du mir ja später erzählen.“
Ehe ich mich versah stand ich klatschnass draußen vor dem Freibad umringt von meinem Freunden, die alle mehr oder weniger wütend waren.
„Da bist du ja!“ Sie schienen zufrieden und gingen los in Richtung Bushaltestelle.
Ich war mir durchaus bewusst, dass sie das Recht hatten sauer auf mich zu sein, also schwieg ich auch während der Busfahrt und keiner fragte mehr, wo ich im Laufe des nachmittags gewesen war.
Die Zeit vergeht so schnell, dass man kaum gucken kann. Ich konnte mich an den letzten Sommer noch erinnern, als wäre es gestern gewesen, dabei war jetzt schon wieder ein ganzes Jahr rum.
Und wer dachte, der Sommer des letzten Jahres kenne keine Steigerung, der hatte sich in mehr, als nur einer Hinsicht verschätzt.
Ich stand in meinem Zimmer vor dem Spiegel und war unzufrieden. Meine Haare wollten mal wieder nicht so, wie ich. Eigentlich mochte ich sie ja, aber in ihnen spiegelte sich eindeutig mein Charakter wieder. Widerspenstig und unzähmbar. Ich musste lachen. Heute Abend wollten meine Freunde und ich in die neue Disko und darauf freute ich mich schon ganz besonders. Wir hatten in den letzten Wochen wirklich nicht viel Zeit füreinander gehabt. Die Schule und einiges andere, waren immer wieder dazwischen gekommen. Und jetzt, wo wir endlich alle achtzehn waren, schien die Welt soviel interessanter für uns. Endlich keine Ausgangssperre mehr, keine Vorschriften.
Nach endlosen Versuchen, meine Haare wenigstens halbwegs glatt zu bekommen, gab ich es auf. Ein Pferdeschwanz musste es auch tun und Kalla, ja dem gefiel mein Hals eh so gut, sagte er immer. Kalla. Das war der zweite Grund, wieso ich aufgeregt war. Mein Freund. Das klang noch völlig ungewohnt. Und so richtig offiziell war es ja noch nicht. Es war nach den Weihnachtsferien neu in unsere Klasse gekommen und eine gewisse angeborene Attraktivität konnte man ihm nicht absprechen. Er hieß eigentlich Karl-Heinz. Ein ziemlich blöder Name für einen siebzehnjährigen, fand er zumindest. Das war der Grund für seine zahlreichen Spitznamen. Einige nannten ihn Charlie, doch dabei musste ich immer an diesen Kerl mit seinen Engeln denken, den man nie zu Gesicht bekam. Und Kalle klang wie der ewig besoffene Stammtischbruder. Kalla war eigentlich völlig gleichgültig, wie man ihn nannte, Hauptsache nicht Karl-Heinz und das hatten auch die Lehrer schnell verstanden. Er war überhaupt ein Fan von Spitznamen. Mich nannte er immer Katinka. Am Anfang sagte er das, meiner Meinung nach, um mich zu ärgern und das hatte er auch geschafft, aber irgendwie blieb er dann halt dabei . Und ich muss zugeben, mittlerweile finde ich es ganz süß. Richtig kennen gelernt habe ich ihn dann eigentlich erst durch eine eher unangenehme Situation. Wir waren die einzigen beiden aus unserer Klasse, die Spanisch belegt hatten und als Leidesgenossen war es klar, dass wir zusammenhielten. Er kannte sowieso noch keinen aus der Stufe, auch wenn sich das durch seine positiv einnehmende Art schnell änderte. Und ich, ich war froh endlich nicht mehr die einzige aus meiner Klasse zu sein. Natürlich waren die anderen super nett, aber bisher hatte ich in der Schule eigentlich immer mit meiner besten Freundin zusammengesteckt. Das lag schon daran, dass wir beide auf das Inda-Gymnasium und all unsere anderen Freunde aus der Nachbarschaft, oder früheren Tagen andere Schulen besuchten. So kam es halt, dass sich Kalla einfach frech neben mich setzte und Stefanie, die diesen Platz bisher besetzt hatte, umziehen musste. So sehr ich dieses Fach auch hasste, umso mehr freute ich mich doch darauf neben Kalla zu sitzen. Ich kann nicht mal genau sagen, wann es gefunkt hat, aber es war so heftig, dass es einfach nicht mehr zu leugnen war. Von dem Tag an begleitete er mich immer nach Hause und so kam halt eins zum anderen.
Und heute Abend ist es endlich soweit, wir gehen aus. Richtig aus und alle meine Freunde werden dabei sein. Irgendwie machte mir das wirklich Angst. Hoffentlich würden sie sich benehmen. Nicht, dass er es sich noch anders überlegte. Hoffentlich würde er sich benehmen. Hoffentlich würden sie ihn mögen. „Arrrg!“ Ich schmiss mich auf mein Bett. Es war zum Haare raufen. Ich war jetzt schon so oft mit ihm alleine gewesen, dennoch schien es ein mittlerer Supergau zu sein, ihn mit meinen Freunden zusammenzubringen. Ich vergrub das Gesicht in meinem Kissen und wünschte mir plötzlich, dass ich mich niemals auf diesen Abend eingelassen hätte.
„Katrin!“ Die Stimme meines Vaters drang die Treppe hinauf in mein Zimmer. „Katrin! Da wartet jemand auf dich!“
„Oh mein Gott!“ ich sprang auf und rannte zum Spiegel. Das müsste gehen, ich durfte keine Zeit verlieren. Nicht auszudenken, was mein Vater anstellen konnte, wenn er erst mal anfing auf meinen Freund einzureden. Ich hastete den Flur im ersten Stock entlang zur Treppe, wo ich abrupt abbremste um möglichst graziös meinen Weg nach untern zu finden.
„Hi!“ er stand in der Tür und lächelte mich an. Mein Vater schien so umsichtig gewesen zu sein, dass er sich bereits zurückgezogen hatte. „Er scheint nett zu sein.“
„Wer?“ fragte ich verblüfft.
„Na dein Vater, Katinka!“ er grinste und gab mir einen Kuss. „Bereit?“
„Voll und ganz!“
„Lust auf eine kleine Spritztour?“ er fuhr sich mit den Fingern durch die dunkelbraunen Haare und streckte mir einen Helm entgegen. „Hast du Angst?“ fragte er verunsichert, als ich nicht sofort antwortete. „Brauchst du nämlich nicht, ich habe nicht vor dich umzubringen.“
„Oh wie freundlich.“ Lächelte ich. „Nein, ich hab keine Angst, aber seit wann hast du denn ein Motorrad?“
„Cool, oder? Hab ich von meinem Onkel bekommen. Ich glaube, der will wirklich, dass ich mal in seiner Werkstatt anfange.“
„Na gegen eine solche Bestechung ist doch nichts einzuwenden.“ Ich war beeindruckt. Setzte den Helm auf und machte es mir hinter ihm bequem. Konnte es etwas schöneres geben, als eng an einen süßen Jungen gekuschelt durch eine laue Sommernacht zu brausen?
„Mach dir mal keine Sorgen, ich kann mich auch benehmen!“ meinte Kalla und zwinkerte mir zu, während er sein Motorrad verschloss.
„Wie meinst du das?“ ich stellte mich dumm. Es wäre ja nicht gerade freundlich gewesen, zu sagen, dass ich mir tatsächlich Gedanken machte, wie er auf meine Freunde wirken könnte. Natürlich kannten sie ihn. Aber halt nur aus der Schule und er war soviel anders, als er sich dort gab. Klar, er blieb vorlaut und frech, aber auf eine unglaublich charmante und niedliche Art und Weise. Hoffentlich rutschte mir niemals raus, dass ich ihn niedlich fand. Er würde nie mehr ein Wort mit mir reden. Und dabei mochte ich ihn wirklich. Mehr als jemals einen anderen zuvor. Wir kannten uns halt einfach so gut.
„Träumst du?“ er klang beinah ein wenig verärgert.
„Nein.“ Versicherte ich ihm und griff nach seiner Hand. „Nicht wirklich!“
„Wir sind doch hier um Spass zu haben. Also lächele mal für mich und lass uns reingehen.“
„Prima Idee.“ Meine Stimmung hellte sich merklich auf. Es würde ein guter Abend. Die Disko war groß, wenn irgendwer meinen Freund nicht mochte, konnte ich ja immer noch woanders hingehen.
„Katrin!“ Tina stand vor dem DJ Pult und winkte. Sie hatte gute Laune, das konnte ich gleich sehen, sogar aus einer größeren Entfernung. Wenn sie schlecht gelaunt war, trug sie immer Weiß. Wieso hab ich auch nie verstanden. Tina war halt so. Und vielleicht mochte ich sie auch deswegen so gerne. Heute war nichts, aber auch gar nichts weißes an ihr. Ein wirklich gutes Vorzeichen.
Kalla ging vor und bahnte uns einen Weg durch die Menge. Obwohl es noch relativ früh war, waren schon eine ganze Menge Leute hier. Und die Stimmung war super.
„Hallo, Katrin!“ Tina begrüßte mich mit einem Küsschen. „Hallo, Charly!“ Sie lächelte ihn an.
„Hi Tina.“ Ich war ernsthaft erleichtert, sie schien ihn zu mögen.
„N`Abend.“ Nickte mein Freund ihr zu.
„Da seid ihr ja endlich.“ Sie drehte sich bereits um und führte uns zu den anderen. „Wir haben schon auf euch gewartet. Na ja, aber jetzt seid ihr ja da.“
Der Abend verlief wirklich sehr lustig. Kalla verstand sich bestens mit meinem Nachbar und Kindergarten Freund Frank und dessen Kumpel Lukas. Und auch Tina und Jelena, reagierten positiver als erwartet. Ich fühlte mich sicher und entschied mich meinen Weg in Richtung Klo zu suchen. „Warte! Wir kommen mit!“ Jelena war schon hinter mir und packte meine Hand. Forsch und selbstbewusst wie immer schob sie mich durch die tanzenden Menschen.
„Endlich können wir ungestört reden!“ atmete Tina durch und lehnte sich im Mädchenklo gegen eine Wand. „Ich muss schon sagen, Katrin...“
„Was?“ fragte ich. „Und war mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob sie so begeistert von meinem Begleiter war.
„Wie schön man dich immer verunsichern kann.“ kicherte Tina.
Doch ich konnte mir einen bösen Blick nicht verkneifen.
„Was sie meint...“ ergänzte Jelena schnell. „...ist, dass du dir da ne ganz schöne Sahneschnitte geangelt hast!“
„Danke!“ ich klang überrascht, kein Wunder, denn ich war es auch. „Ich dachte immer, ihr fändet ihn nicht so toll.“
„Spinnst du?“ warf Tina ein. „Charly ist doch ne Wucht.“
„Ne Wucht? Musst du das so sagen?“ Was war bloß in die beiden gefahren?
„Er sieht gut aus, ist lustig.“ Jelena bekam einen ganz verträumten Blick.
„Du sei mal still.“ Unterbrach sie Tina. „Du hast deinen Jens. Aber im Ernst Katrin, so wie er dich ansieht scheint er dich wirklich zu mögen.“
„Ich mag ihn auch.“
„Das solltest du ja wohl auch!“ Tina schüttelte den Kopf.
„Ist das wirklich nötig?“ fragte Jelena und zog sich ihren Lidstrich nach.
„Nein, natürlich nicht, wenn der Kerl so aussieht wie Charly.“ Tina warf ihr einen gespielt tadelnden Blick zu.
„Ihr tut ja gerade so, als ob ich mit Brad Pitt ausgehen würde.“
„Also Katrin.“ Jelena war fertig und baute sich vor mir auf. „Dir gefällt er also nicht, dann kann ich ja...ähhhh...Tina kann ihn dann ja haben.“
„Nee Mädels, tut mir leid. Nicht, dass ich ihn euch nicht gönnen würde...“ Ich grinste und machte eine dramatische Pause. „Nein, ich gönn ihn euch nicht.“
„Sag mal, habt ihr schon...“ Jelena brach den Satz ab, als ein Schwarm kichernder Mädchen das Klo betrat.
„Also, Jelena. Die sind doch erst seit ein paar Wochen zusammen.“
Na und? Dachte ich, sonst war sie doch auch nicht so, aber seit sie mit Daniel dem Schulsprecher Schluss gemacht hatte, schien sie zum Moralapostel zu werden.
„Woher willst du das eigentlich wissen, Tina?“ fragte Jelena und sah mich von der Seite an. „Das könnte schon seit gut einem halben Jahr so gehen.“
„Du glaubst doch nicht, dass sie das vor mir hätte verheimlichen können.“ Tina legte mir die Hand auf die Schulter. „Und selbst wenn ich nichts gemerkt hätte, Frank hätte es doch mitbekommen müssen!“
Frank hatte es auch mitbekommen, aber da ich von meinem Fenster aus auch alles sehen konnte, was er so in seinem Zimmer veranstaltete (und Frank zog nie die Vorhänge zu), hatte er mir versprechen müssen kein Wort über Kalla zu verlieren. Und er hatte keine Wahl.
„Na gut, damit Tina nicht rot wird.“ Lenkte Jelena ein. „Kann er denn küssen?“
„Auf einer Skala von eins bis zehn?“ fragte ich zurück. Ja, er konnte. Aber gegen die meisten Vergleiche, die ich hatte hätte fast jeder gewonnen. Franks ekliger Cousin und der besoffene Freund von Jens. Nein danke, daran wollte ich gar nicht mehr denken. Es gab nur einen Kuss, denn auch Kalla nicht aus meinem Gedächtnis hatte verdrängen können und so wollte es der Zufall, dass ich an diesem Abend, seit langem zum ersten mal wieder an Benjamin dachte.
„Kann er nun?“ wurde Jelena ungeduldig.
„Hmmm.“ Machte ich und verließ die Toilette.
Ich stellte mich an die Bar. Jetzt brauchte ich dringend etwas zu Trinken. Ich wollte heute Abend Spass haben und zwar mit meinen Freund, komme was wolle.
„Ein Bier bitte!“
„Kommt sofort.“ Der Barkeeper drehte sich um. „Aber würde zu einer Süßen wie dir nicht eher ein leckerer Cocktail passen?“
„Nein danke. Wirklich nicht.“
„Vielleicht überlegst du es dir noch mal.“ Er stütze sich auf die Bar und lächelte mir zu. „Geht auch auf`s Haus.“
„Gut! Geht in Ordnung.“ So ein Angebot konnte ich einfach nicht ausschlagen. „Wenn ich mein Bier dann später trotzdem bekommen!“
„Aber sicher doch!“ zielstrebig begann der junge Mann hinter der Bar lustige bunte Flüssigkeiten zusammenzuschütten. „Du leistest mir doch noch etwas Gesellschaft?“
Eigentlich hätte ich ja nein gesagt, aber was man nicht alles für einen kostenlosen Cocktail tut. „Ja!“
Gott sei Dank war genug los, als dass mir der Barmann nicht die ganze Zeit auf den Nerv fiel. Ich schlürfte gedankenverloren an meinem Cocktail. Schmeckte wirklich, na nennen wir es mal lustig. Auf jeden Fall war es mir unmöglich herauszufinden was genau er da reingemischt hatte. Es war mir aber auch egal. Und so dauerte es nicht lange, bis ich das Glas ausgetrunken hatte und bei seiner Kollegin, da er zum Glück beschäftigt war, mein Bier bestellen konnte. Damit machte ich mich dann auf den Weg zurück zu meinen Freunden.
„Katrin?“
Ich drehte mich um. Konnte da wirklich ich gemeint sein?
„Katrin!“
Wer konnte das sein? Woher kannte ich diese Stimme?
„Erkennst du mich nicht mehr?“ Er packte mich an die Schulter und lächelte mich an.
Ich war mehr als nur überrascht. „Benjamin?“ Er hatte sich verändert. Obwohl es nur ein Jahr her war, seit wir uns getroffen hatten. Seine Haare waren nicht mehr so dunkel wie früher, viele kleine blonde Strähnen erleuchteten seine wilde Frisur. In der Badehose war das ja nicht so gut zu sehen gewesen, aber er schien durchaus Modebewusstsein zu haben. Neben einer Stone-washed Jeans trug er einen beigen Strick-Cardigan, der wunderbar zu der Farbe seiner Haare passte.
„Ja!“ Er strahlte mich an. „Das ist vielleicht ein Zufall.“
Ich konnte nichts sagen, starrte ihn nur ungläubig an.
„Scheinst dich ja nicht zu freuen, mich zu sehen.“ Er schien enttäuscht. „Ach übrigens, ich hab noch deine Haarspange.“
„Immer noch?“ ich musste ein Gesicht gemacht haben wie ein Auto.
„Ja sicher!“ antwortete Benjamin wie selbstverständlich.
Und jetzt brachte er auch mich zum Lachen. Er war noch immer genauso süß wie damals.
„Darf ich dich auf einen Drink einladen?“ er sah mich fragend an und entdecke dann das Bierglas in meiner Hand. „Na ja, du hast ja schon was!“
„Sieht ganz so aus!“ Eine dümmere Antwort hätte ich gar nicht geben können, am liebsten hätte ich mir die Zunge abgebissen.
„Ich bin jetzt eine ganze Woche hier. Wir könnten uns ja mal treffen.“ Als ich nicht gleich antwortete fügte er hinzu: „Damit ich dir deine Spange zurückgeben kann. Die hast du doch sicher schon vermisst.“ Er snippste mit den Fingern gegen meinen Pferdeschwanz.
„Irgendwie schon.“ Grinste ich und hatte meine Fassung halbwegs wiedererlangt. „Aber wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich sie nicht bei dir vermutet.“
„Ach hast du an dem Tag noch mehr Jungen den Kopf verdreht?“
Oh mein Gott. Ich wurde rot und sah zu Boden.
Er lachte griff meine Hand und zog mich zurück zur Bar.
„Ein Bier bitte!“
„Da bist du ja wieder!“ frotzelte der Barkeeper. „Kannst wohl gar nicht genug von mir bekommen.“
„Ähham!“ Benjamin räusperte sich. „Ein Bier bitte!“
„Ist das dein Freund.“ Der Kerl hinter der Bar verzog das Gesicht. „Hättest mir ruhig sagen können, dass das Bier für deinen Freund war!“
„Kennst du den?“ Benjamin schien irgendwie angeekelt.
„Nee.“ sagte ich leise. „Nicht wirklich!“
„Irgendwie hatte ich wirklich gehofft dich hier wiederzutreffen.“
„In der Disko?“ fragte ich und nahm einen tiefen Schluck von meinem Bier.
„Nö.“ Benjamin lachte. „In der Stadt, meinte ich.“
„Ach so.“
„Du warst auch schon mal ein interessanterer Gesprächspartner.“ Stellte er fest.
„Tut mir leid. Bin bloß überrascht dich zu treffen.“ Irgendwie stimmte das ja auch.
„Positiv überrascht hoffe ich doch.“ Ich konnte wirklich froh sein, dass er meine Antwort gar nicht erst abwartete. „Ich hab mich damals echt geärgert, dass ich nicht nach deiner Nummer gefragt habe.“
Nie hätte ich gedacht, dass mich diese Aussage immer noch so freuen würde. Es war irgendwie, als wäre der Tag im Freibad erst gestern gewesen. „Ging halt alles so schnell!“
„Ja, das kannst du wohl laut sagen.“ Er kramte in seiner Hosentasche. „Ich dachte ja, dass ich noch etwas Zeit dazu hätte. Aber dann warst du plötzlich einfach weg!“
„Meine Freunde haben mich gefunden und raus...ach ist ja auch egal.“ Ich senkte den Blick. „Ist wirklich blöd gelaufen. Tut mir leid!“
„Schon gut.“ Er legte seine Hand auf meine. „Ich hätte einfach besser auf dich aufpassen sollen. Aber das passiert mir nicht noch mal.“
„Wie meinst du das?“ fragte ich, langsam doch leicht verwirrt.
„Ganz einfach.“ Er lächelte entwaffnend. „Gibst du mir deine Telefonnummer?“ Schon hatte er sein Handy voll Erwartung in der Hand.
Und ohne lang nachzudenken gab ich sie ihm.
„Jetzt verlieren wir uns hoffentlich nicht mehr aus den Augen.“ Er steckte sein Mobiltelefon wieder ein. „Und wenn doch, kann ich dich ja anrufen.“
Ich lächelte.
„Was machst du eigentlich so?“ fragte er interessiert.
„Ich geh immer noch zur Schule, Benjamin. Also noch etwa ein Jahr.“
„Dann bist du ja jünger als ich.“ Er grinste. „Ich bin jetzt schon fertig. Na ja, reden wir nicht drüber. Aber Abi ist Abi.“
„Dann musst du also nicht in der Werkstatt arbeiten?“
„Müssen nicht. Zur Zeit mach ich quasi ein Jahr blau und halt mich mit Jobs so über Wasser. Und nächstes Jahr will ich dann vielleicht studieren. Irgendwo hier im Rheinland.“
„Und wieso nicht Berlin? Ist doch schön da.“ Mir war es unverständlich, wie man freiwillig aus der Hauptstadt weggehen konnte.
„Ja, aber du bist hier!“
Ich verschluckte mich und begann laut zu husten.
Benjamin klopfte mir auf den Rücken und zum Glück war damit alle Romantik, die dieser Augenblick gehabt hatte verschwunden.
„Alles in Ordnung?“ Er sah wirklich besorgt aus.
„Ja. Ja danke.“ Irgendwie musste ich die Fassung bewahren.
„Tanzt du mit mir?“ Benjamin stand auf und hielt mir seine Hand hin. „Irgendwie bist du mir das schuldig, wo du doch damals so einfach abgehauen bist.“
Scheiße, das warf ein Argument, gegen das ich einfach nichts zu sagen hatte.
„Komm!“
„Nein!“ sagte ich zaghaft und mehr zu mir selbst.
Benjamin schien mir überhaupt nicht zuzuhören. Er griff meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Und ehe ich mich versah tanzte ich schon mit ihm.
„Benjamin!“
Es war so laut, dass er mich kaum hören konnte.
„Benjamin!“ ich schrie ihn beinahe an und blieb abrupt stehen.
„Was ist denn los?“ Benjamin war sichtlich verwirrt.
„Ich will nicht mit dir tanzen!“
„Was?“ er klang mehr als nur empört.
„Ich meine, ich kann nicht mit dir tanzen!“
„Also ehrlich Katrin. Ich verstehe nicht recht.“ (dich nicht)
Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen. Lang genug hatte ich mir überlegt, was werden könnte, wenn ich an dem Tag das Freibad nicht einfach verlassen hätte. Doch so einfach war das nicht mehr.
„Katinka, da bist du ja!“ Kalla stand plötzlich neben mir.
„Katinka?“ Benjamin sprach diesen Namen so ironisch aus, dass seine Stimme fast hysterisch klang.
„Sag mal wer ist denn das?“ Mein Freund legte den Arm um mich.
„Ach, ein alter Bekannter.“
„Na dann ist ja gut.“ Er drehte sich zu Benjamin. „Hallo ich bin Charly.“ Es schien ihn jedoch reichlich wenig zu interessieren, wem er da gegenüber stand. Und wieder an mich gerichtet fügte er hinzu. „Kannst du dich jetzt vielleicht losreißen?“
„Sicher, ich komme sofort.“
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand wieder.
Ich atmete erleichtert (durch) auf.
„Was war denn das für ein Vogel?“ äffte Benjamin.
„Das war kein Vogel!“ plötzlich wurde ich wütend. „Das war mein Freund!“
Benjamin blieb der Mund offen stehen.
„Es tut mir leid, Ben!“ Ich begann zu stammeln. „Es tut mir wirklich leid!“
„Tja, irgendwie...irgendwie hätte ich mir das denken müssen!“
„Ich...ich...“
„Schlechtes Timing.“ Er trat von einem Fuß auf den anderen. „Schon gut!“
Es tat mir wirklich leid. Aber ich war einfach nicht zu haben.
„Dann geh mal zurück zu deinem Freund!“
„Du kannst mich ja mal anrufen.“ Sagte ich mehr höflichkeitshalber.
„Ja, ja das mache ich.“ Benjamin klang plötzlich wieder selbstbewusster. „Wir können uns ja im Laufe der Woche noch mal treffen. Dann haben wir etwas Zeit für uns alleine.“
„Also...Benjamin, ich glaube da hast du was falsch verstanden.“ Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich es ihm erklären konnte, ohne ihm weh zu tun. „Ich muss jetzt wirklich gehen. Tut mir leid!“
„Das hast du heute Abend verdammt oft gesagt.“ Rief er mir hinter her, doch ich konnte mich einfach nicht umdrehen und ihm ins Gesicht sehen. Wenn ich noch länger Zeit gehabt hätte, wären mir vielleicht noch die Tränen gekommen. Aber zum Glück erreichte ich den Tisch, an dem meine Freunde standen.
„Sag mal, wo warst du denn so lange?“ Tina schlürfte an ihrem Cocktail. Wahrscheinlich der fünfte heute Abend. Es war unglaublich wie viel sie vertrug, ohne auch nur das kleinste Anzeichen von einem Schwipps zu zeigen.
„Sie hat jemanden getroffen, dass habe ich euch doch schon gesagt.“ Kalla schüttelte den Kopf und lächelte mir zu. Er schien sich tatsächlich keine Gedanken darüber gemacht zu haben, mich mit Benjamin alleine zu lassen.
„Du kannst doch deinen Freund nicht einfach hier alleine lassen, nur weil du irgendwen triffst.“ Jelena bewies mal wieder eine Menge Fingerspitzengefühl.
„Jelena!“ Tina ermahnte sie. Irgendwie schien sie zu spüren, dass dies kein gutes Thema war, und das, obwohl ich mit ihr nie über Benjamin gesprochen hatte.
„Kalla? Könnten wir vielleicht...könnten wir...“ ich musste schlucken.
„Willst du gehen?“ Wie konnte jemand nur so verständnisvoll sein? „Gut gehen wir!“
„Aber es ist doch noch nicht mal eins!“ Jelena und Tina sahen mich vorwurfsvoll an.
„Es tut mir leid!“ Und langsam ging es mir selbst auf den Geist, dass ich das dauernd sagte.
Kalla nahm meine Hand und zog mich nach draußen.
„Danke.“ Sagte ich und blieb stehen. Ich sah auf seine Hand und drückte sie.
„Wofür denn?“ er lachte laut.
„Einfach dafür, dass du bist, wie du bist!“
„So nett es auch klingt, aus deinem Mund, aber dafür kann ich nun wirklich nichts.“
Jetzt musste auch ich lachen. Langsam legte ich meine Arme um seinen Hals und küsste ihn.
„Hat es dich gar nicht gestört, dass ich so lange weg war?“
„Ich hab mich ja gut unterhalten. Und solange du mir nicht wegläufst...“
„Nein das tue ich nicht.“
„Andererseits würde es mich aber schon mal interessieren, wer das war.“ Er hob die rechte Augenbraue und sah mich schräg an.
„Nur ein alter Bekannter, den ich lange nicht mehr gesehen hatte.“
„Dann glaube ich dir das mal. Jelena redet eh oft Unsinn!“
„Jelena? Was hat die denn gesagt?“ Tja, das wäre ja auch zu einfach gewesen.
„Sie meinte du würdest gerne mal flirten und ich solle aufpassen.“
„Ohhhh!“
„Du denkst doch nicht, dass ich das glaube.“ Er zog mich näher zu sich heran. „Ich glaube wirklich, dass du klug genug bist, um mich nicht mitzunehmen, wenn du jemanden aufreißen willst.“
„Da muss ich dir Recht geben.“ So ganz ehrlich konnte ich das allerdings nicht sagen und senkte den Blick.
„Was stimmt denn nicht mit dir, Katinka?“ Er hob mein Kinn an und sah mir in die Augen. Wie sollte ich diesen Augen wiederstehen können. Sie waren wie die des treusten Hundes.
„Lass uns fahren!“
In dieser Nacht blieb ich bei ihm. Ich konnte einfach nicht nach Hause. Und noch weniger konnte ich alleine sein.
***
Es ist schon seltsam wo einen das Leben hinführt. Ich saß in der Mensa, über meinen Büchern und kaute verträumt auf meinem Bleistift. Irgendwie hatte ich es tatsächlich geschafft die Schule hinter mich zu bringen, und das, obwohl ich im letzten Jahr nun wirklich nicht das war, was man bei der Sache nennen würde. Und dann war auch noch ausgerechnet im letzten Semester vor meinem Abitur der juristische Lehrstuhl in der Nachbarstadt geschlossen worden. Wieso ausgerechnet Jura? So genau wusste ich das auch nicht, ich war halt eines Morgens aufgewacht und hielt es plötzlich für eine gute Idee. Eine solide Sache, für die meine Noten tatsächlich zu reichen schienen. Etwas das mich interessierte, das Berufschancen bot und, was viel wichtiger war, für das ich nicht allzu weit weg musste. In letzter Minute zerplatzte dieser schöne Traum dann genau vor meiner Nase. Wie ich es dann doch noch geschafft hatte mich zu überwinden an eine Uni zu gehen, die Jura anbot auch wenn es weit weg war. Das war so schnell gegangen, dass ich es selbst immer noch nicht fassen konnte. Mein Vater hatte eines Tages beim gemeinsamen Familienmittagessen, was eigentlich ihn, Kalla und mich beinhaltete, Berlin erwähnt. Die Hauptstadt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen so weit weg zu gehen, aber es war der Vorschlag meines Vaters und auch das überraschte mich. Er wollte mich gehen lassen, nicht im Traum hätte ich das gedacht, wo ich doch noch immer sein kleines Mädchen war. Doch Kalla hatte er ebenso erstaunlicherweise nicht nur schnell akzeptiert, sondern regelrecht in die Familie aufgenommen. Ich hatte nur noch einen ernsthaften Einwand. Kalla. Es lief so gut zwischen uns und auch wenn es gar nicht meine Art war, und seine, wie ich immer dachte auch nicht, sah ich eine Zukunft für uns. Und zwar eine gemeinsame. Berlin stellte in meinem Kopf für diese Zukunft in Zweisamkeit eine ernsthafte Gefahr dar und das machte mir Angst. Als ich dann eine Woche vor Ende der Einschreibungszeit immer noch nichts unternommen hatte, wurde ich zum zweiten Mal überrascht.
Ich saß an meinem Schreibtisch über meinen Papieren und starrte sie wieder einmal sinnlos an. Es würde sich wohl kaum etwas ändern, wenn ich Löcher in die Kopie meines Abiturzeugnisses glotzte. Kalla saß auf dem Bett und spielte mit Papierkügelchen und meinem Mülleimer Basketball. „Katinka?!“
Ich fuhr aus meinen Gedanken hoch. „Hmmmm...“
„Du willst doch eigentlich nach Berlin.“ Er unterbrach sein Spiel und schaute irgendwie nervös auf seine Schuhe.
„Nein.“ Sagte ich leise. „Nein, da haben wir doch schon durchgekaut.“
„Ich glaube dir aber nicht!“ Er klang mindestens so unsicher wie ich.
„Dann eben nicht.“ Ich begann den Stifthalter auf meinem Tisch von rechst nach links und wieder zurückzustellen.
„Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt.“ Er stand auf und trat hinter mich.
„Bin ich nicht.“ War meine patzige Antwort.
„Schau mich an!“ Er drehte meinen Stuhl um und kniete sich vor mich. „Du musst mir nichts vormachen...und du kannst es auch gar nicht.“ Als er seine Hand vorsichtig auf mein Knie legte, spürte ich deutlich, dass er zitterte. „Du willst da hin.“
„Mag sein, aber ich muss halt wissen, was mir wichtiger ist.“ Ich fand meine Stimme langsam wieder. „Und du bist mir nun mal wichtig!“
„Und wenn genau das falsch ist?“ er legte wie ein Hund den Kopf zur Seite und sah mich an.
„Was soll das bitte heißen?“ Das Gespräch entwickelte sich in eine unangenehme Richtung.
„Ich will nicht, dass du es mal bereust.“
„Das werde ich nicht, Kalla.“
„Du tust das jetzt nur für mich. Nachher hasst du mich mal dafür.“
„Ich tu das nicht für dich.“ Empörte ich mich und versuchte aufzustehen, doch er drückte mich sanft zurück in den Stuhl. „Ich tu das für uns!“
„Was wenn es mal kein uns mehr gibt?“ er sagte (es) dies, als sei dieser Gedanke keineswegs neu für ihn, doch mich traf er wie ein Schlag ins Gesicht.
„Willst du mit mir Schluss machen, oder worauf soll das hinaus laufen?“ es fiel mir schwer meine Enttäuschung nicht zu zeigen.
„Nein!“ antwortete er schnell lächelte mich aufmunternd an. „Nein, auf keinen Fall, Katinka.“ Kalla seufzte und fuhr sich durch die Haare. Das tat er immer, wenn er nachdachte. Wie sollte ich nur darauf verzichten können? „Aber das könnte doch passieren...“
„Wenn du so anfängst, darfst du auch nicht mehr aus dem Haus gehen, denn du könntest ja vom Blitz getroffen werden.“
„Ich glaub du nimmst mich nicht ernst!“ Diesen Tonfall kannte ich bei ihm gar nicht. Für ihn war immer alles ein Heidenspaß gewesen. Hauptsache man nimmt die Dinge nicht zu ernst. Und jetzt so was.
„Doch!“ gab ich kleinlaut zurück.
„Ich will dir nur die Möglichkeiten aufzeigen.“
„Du willst mir sagen, dass das mit uns keine Zukunft hat und ich deswegen lieber gehen soll, bevor ich es bereue.“
„Hast du mir überhaupt zugehört?“ Er schien zu verzweifeln. „Ich liebe dich wirklich und das letzte was ich will, ist dich unglücklich zu machen.“
„Ach, und wenn du mich wegschickst, soll mich das glücklich machen?“ ich verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich will dich nicht wegschicken!“ Auch wenn ich immer noch nicht verstand, worauf er eigentlich hinauswollte, so sah ich doch, dass es ihm wichtig war und dass er (wegen) für dieses Gespräch(es) wohl lange mit sich gerungen hatte.
„Was willst du dann?“ Ich fühlte mich schrecklich. Wieso war ich nicht in der Lage ihn zu verstehen?
„Ich will das Richtige tun!“ er machte eine Pause, nahm mein Kinn vorsichtig zwischen seine Finger und küsste mich. „Wenn du mich so gern hast, dass du für mich...für uns hier bleiben würdest...“ er atmete tief durch. „Wieso reicht es dann nicht, um zu gehen?“
„Was wird denn dann aus uns?“ ich spürte deutlich, wie der Klos in meinem Hals immer dicker wurde.
„Glaubst du nicht, dass das klappen könnte?“ plötzlich schien er seiner Sache nicht mehr so sicher. Er wagte es kaum mir in die Augen zu sehen.
„Du meinst, ich dort und du hier?“ Mir war klar, dass er darauf hinauswollte, doch ich war so froh einen wie ihn gefunden zu haben, wieso hätte ich ihn da verlassen sollen?
„Du verlässt mich ja nicht! Zumindest hoffe ich das.“
Ich musste lachen.
Und auch er lächelte, wenn auch sehr gequält.
„Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“ fragte ich resigniert.
„Doch!“ war seine überraschende Antwort. „Die könnte es geben.“
Ich sah ihn erwartungsvoll an, was wiederum ihn zum Lachen brachte. „Schau mich nicht an, als wäre ich der Messias!“
„Hmmm.“
Er küsste mich erneut. „Wenn du mich genug liebst um hier zu bleiben.“
„Das tue ich!“
„Danke.“ Kalla verbeugte sich, als hätte er soeben den Oskar erhalten. „Und ich dich genug liebe um dich gehen zu lassen.“
Ich sah ihn eindringlich an.
„Und das tue ich.“ Wieder lachten wir beide. „Dann denke ich, könnten wir auch zusammen gehen...“
Uff. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem Angebot. Komischerweise hatte ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht.
„Natürlich nur, wenn du das willst.“ Er stand auf. Mein Schweigen schien ihn doch ziemlich zu verunsichern.
„Es kommt bloß so überraschend.“
„Ich hab schon länger darüber nachgedacht, Katrin.“
Hatte er mich da gerade Katrin genannt, das hatte er schon ewig nicht mehr getan. Oder vielleicht noch nie.
„Da ich ja noch nicht weiß was ich machen will, kann ich das auch in Berlin tun.“ Er sah mich an, mit diesem Blick, der einem durch und durch gehen kann. „Also?“
„Ja. Ja, ja! Sicher.“ Ich fiel ihm um den Hals, so dass er rückwärts stolperte und der Länge nach hinfiel.
„Langsam, langsam. Wenn du mich jetzt umbringst, musst du doch alleine fahren.“
Ich war jetzt also seit sechs Monaten in Berlin und studierte Jura. Mit Kalla! Also er studierte nicht. Er machte lieber ein Praktikum in den Fernsehstudios von Babelsberg. Und da es ihm so gut gefiel und er anscheinend, was mich natürlich nicht wunderte, so gute Arbeit leistete, würden die ihn Ende des Monats übernehmen. Aber auch mit zwei Gehältern würde es wohl kaum für eine größere Wohnung reichen. Das wo wir lebten, konnte man eigentlich auch nicht als Wohnung bezeichnen. Es war ein Zimmer, gleichzeitig Schlafzimmer, Küche und Wohnraum und das Bad befand sich im Hausflur. In Zukunft würde sich das ändern, wenn ich mal mit dem Studium fertig war, oder Kalla mit der dann jetzt folgenden Ausbildung. Und wir wünschten uns eben beide eine gemeinsame Zukunft. Ich hätte glücklicher nicht sein können. Alles war besser, als ich es mir jemals erträumt hätte und jeden Abend neben dem Mann einzuschlafen, den man liebt und morgens auch wieder neben ihm aufzuwachen entschädigte mich für die Bücher und Pizzaschachteln, über die ich fiel, wenn ich mir vom Bett meinen Weg in die Küche bahnte um den Schlüssel für das Badezimmer zu suchen und mir dann im Hausflur eine Erkältung einzufangen. Wie gesagt, alles lief super, bis auf die Tatsache, dass ich meinen Bleistift zerbiss, doch dann kam er durch die Tür.
Meine erste Reaktion war wohl das Kindischste, das ich jemals im Leben getan hatte, abgesehen davon, Mikey-Maus-Socken zu einem Kostüm zu tragen, aber das war auch schon fast zwei Jahre her. Ich verschwand so schnell es ging unter dem Tisch. Er schien mich nicht gesehen zu haben und ging schnurstracks durch den Raum auf den Getränkeautomaten zu. Was er sich dort holte, konnte ich allerdings nicht erkennen, schließlich saß ich auf dem Fußboden und hatte genug damit zu tun, seine Schuhe zwischen den ganzen anderen Füßen nicht aus den Augen zu verlieren. Doch wie nicht anders zu erwarten gelang mir dies nicht und so passierte das Unvermeidliche.
„Katrin?“
Die Schuhe tauchten ganz unvermittelt genau vor meiner Nase auf. Ziemlich schöne Schuhe um genau zu sein. Bestimmt nicht billig und echtes Leder.
„Bist du das?“ Er klang leicht verwirrt. „Was machst du da unten?“
„Benjamin.“ Flötete ich unter dem Tisch hervor. „Ähm. Ähm.“ Ja was machte ich hier unten eigentlich?
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ Er beugte sich zu mir.
„Nein! Ich hab...ich hab nur meinen Bleistift gesucht, war runtergefallen.“ Ich stand auf. „Aber hier ist er. Siehst du!“ Ich wedelte ihm damit vor der Nase herum und Benjamin musste lachen.
„Wirklich schön dich zu sehen, darf ich mich setzen?“ Noch ehe ich antworten konnte fügte er hinzu: „Oder störe ich?“
„Nein. Nein. Nur zu!“ Mein herz klopfte bis zum Hals. Obwohl ich diesen Kerl gar nicht richtig kannte schaffte er es doch immer wieder mich völlig aus dem Konzept zu bringen.
„Was studierst du denn da?“ Er drehte eins meiner Bücher um, so dass er es lesen konnte.
„Gerade im Moment?“
„Ja ich hoffe doch, dass du immer das gleiche studierst und nicht jeden Tag was neues.“
Zum Affen machen war gar kein Ausdruck für den Tanz, den ich aufführte. „Hmmm. Jura!“
„Ich hab dich nicht angerufen.“ Sagte er plötzlich ganz unvermittelt.
„Ja, das habe ich gemerkt.“
Er lächelte. „Das dachte ich mir, sollte auch mehr der Ansatz zu einer Erklärung sein.
„Das musst du mir wirklich nicht erklären!“ Mir war es immer noch peinlich, wie unsere letzte Begegnung verlaufen war und das, obwohl ich mir sicher war, dass ich im Endeffekt nichts falsch gemacht hatte.
„Will ich aber, außerdem hatte ich versprochen dir deine Haarspange wiederzugeben.“
„Die hast du immer noch?“ Ich sah ihn ungläubig an.
„Ja sicher.“ Kam seine Antwort, als sei es das natürlichste auf der Welt. Er öffnete seine Coladose, die bisher unbeachtet auf dem Tisch gestanden hatte, nahm einen Schluck und sprach weiter. „Ich studiere hier Mathe, also werden wir uns wohl öfter begegnen. Außerdem hab ich ja noch deine Nummer und diesmal ruf ich bestimmt an.“
„Ich hab deine aber immer noch nicht.“ Grinste ich und spielte mit meinen Haaren.
„Das stimmt wohl. Willst du sie denn haben?“
„Hmmm. Nein!“ flachste ich. „Sicher, sonst hätte ich doch nicht gefragt.“
Er nahm meinen Bleistift und schrieb sie schön säuberlich vorne auf meinen College-Block. Eine wirklich leserliche Schrift für einen Mann, das musste man ihm lassen. „Du kannst mich jederzeit anrufen.
„Vielleicht tu ich das auch.“
„Nur vielleicht?“ er stand auf. „Das bist du mir schuldig. „Ich muss jetzt weg, hab noch Vorlesung. Aber spätestens wenn wir wieder Hunger bekommen treffen wir uns bestimmt.“ Er beugte sich vor uns küsste mich. Kein Abschiedskuss auf die Wange. Nein mitten auf die Lippen. Ich war jedoch so perplex, dass ich nicht in der Lage war zu reagieren. Ich konnte ihm lediglich hinterher schauen. „Ruf mich an, Katrin!“ Und weg war er wieder.
Nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte stand ich auf und machte mich auf den Weg nach Hause. Das war genug Aufregung für einen Tag. Die Nachmittagsvorlesung würde ich wohl ausfallen lassen.
„Katinka.“ Kalla fuhr überrascht auf, als ich die Wohnung betrat. „Was machst du denn schon hier.“ Ertappt und erstarrt stand er vor mir. „Hattest du nicht Vorlesung?“
„Das Selbe könnte ich dich fragen.“ Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich ließ meine Tasche zu Boden gleiten, während ich die Bücher und meine Aufzeichnungen achtlos auf den Tisch fallen ließ.
„Ich studiere nicht.“ Schnell hob er den Pizzakarton auf, der aufgefaltet auf dem Boden lag, bevor ich darüber stolpern konnte.
„Machst du dich über mich lustig?“ Ich wollte ihn nicht anfrotzeln, doch irgendwie war ich angefressen. Die Begegnung mit Benjamin saß mir noch in den Knochen und auch die Tatsache, dass ich Kalla in meinem Kopf so einfach beiseite geschoben hatte.
„Stimmt was nicht?“ Er fuhr sich durch die Haare und sah mich mit durchdringendem Blick an.
„Wieso bist du zuhause?“ Ich schob eine Packung Chips beiseite und ließ mich auf das kleine Sofa plumpsen.
„Ich hab zuerst gefragt, Katinka!“
„Na gut, damit das jetzt nicht ewig so weiter geht...“ Ich war leicht genervt. „Ich habe meine Vorlesung geschwänzt. Hatte keine Lust. Was ist deine Entschuldigung?“
„Muss ich mich jetzt in meiner eigenen Wohnung rechtfertigen?“ Er wurde richtig laut und stand auf.
„Also ersten war das nur eine einfache Frage und kein Grund sich gleich aufzuregen und zweitens zahle ich hier genauso Miete.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Aber gut, wenn du nicht mit mir reden willst... ich dachte ja nur, du wärst vielleicht krank.“
„Nein, bin ich nicht.“
„Du siehst auch nicht so aus.“ Gab ich zurück. „Es war aber auch überhaupt nicht meine Absicht dich auszufragen. Eigentlich hatte ich mich gefreut sich zu sehen.“
„Wieso tust du es dann? Und was soll eigentlich heißen?“ Er trat unruhig von einem Bein aufs andere.
„Das soll heißen, dass ich mich jetzt nicht mehr so freue.“ So sehr mir der Gedanke auch zuwider war, so wahrscheinlicher wurde er jedoch, je länger dieses Gespräch dauerte. Kalla verheimlichte mir etwas.
„Dann halt nicht.“ Antwortete er trotzig und ging in Richtung Türe.
„Wo willst du hin?“ fuhr ich ihn an, ohne jemals vorgehabt zu haben ihn anzuschreien.
„Hier bin ich ja anscheinend nicht erwünscht.“
„Das ist Quatsch, Kalla. Und das weißt du auch.“ Tief in mir breitete sich unaufhaltsam eine beißende Verzweiflung aus. „Was ist bloß los mit dir?“
„Das interessiert dich doch sonst auch nicht!“
Ich war baff. Wie konnte er so was sagen? Die Worte blieben mir im Hals stecken und alles was mir möglich war, war ihn anzustarren, so wie er da stand, mit dem Rücken zu mir.
„Lass das!“ sagte er leise und klang dabei wieder normal.
„Was?“ ich war den Tränen nah.
Er drehte sich um und machte vorsichtig ein paar Schritte auf mich zu. „Starr mich nicht so an.“ Sein Lächeln war wieder einmal entwaffnend. „Da kann einem ja Angst und Bange werden, wenn du einem so Löcher in den Rücken starrst.“
Ich stand noch immer da, wie vom Blitz getroffen und wusste nicht, was ich ihm antworten sollte.
„Darf ich zu dir kommen, oder schlägst du mich dann?“ Er grinste mehr oder weniger fröhlich, als hätte unser ganzer Streit eben nicht stattgefunden.
„Klar.“ Flüsterte ich und sank in seine Arme. Auch wenn in mir immer noch die Frage bohrte, was er vor mir versteckte. Ich musste ihm vertrauen, irgendwie war ich ihm das ja auch schuldig.
Er lockerte seine Umarmung ein wenig. „Ich würde ja sagen wir gehen was Essen, aber...“ Er deutete auf die leere Pizzaschachtel. „...ich habe ja schon gegessen.“
„Ich auch!“ antwortete ich knapp. Außerdem hatte ich eh keinen Hunger.
„Hast du Lust auf Kino, oder sollen wir sonst was unternehmen?“
„Nee.“ Grinste ich ihn an. Eigentlich würde ich lieber hier bleiben. Wenn du verstehst, was ich meine...“
Er verstand, denn ehe ich mich versah landete ich sanft in den Kissen unseres Bettes.
„Das war weitaus besser als Streiten.“ Grunzte er vor sich hin.
Ich musste lachen. Aber das musste ich immer, wenn er diese Art von Geräuschen von sich gab. Wie ein zufrieden schnurrendes Kätzchen.
„Machst du dich über mich lustig?“ er kroch unter der Decke hervor und beugte sich über mich.
„Nein!“ kicherte ich. „Wie käme ich dazu?“
„Hätte ich dir auch nicht geraten, Katinka.“ Er zog sich an und stand auf.
„Wo willst du hin?“ Gab ich etwas müde und motzig von mir.
„Aufräumen.“ Sagte er knapp und begab sich in die Richtung des Müllbergs, der sich zwischen Tisch und Sofa aufgetürmt hatte. „Und abspülen muss man auch mal wieder.“
„Können wir das nicht später machen?“ Ich hatte absolut keinen Antrieb mich zu erheben und es wäre mir bedeutend lieber gewesen, er hätte es auch nicht getan.
„Wenn ich es jetzt nicht tue, musst du es nachher machen, Liebes. Und das willst du doch sicher nicht.“ Er räumte die leeren Tüten und die Essensreste zusammen und machte sich dann daran Ordnung in das Chaos meiner sorglos abgelegten Uni-Aufzeichnungen zu bringen. Ich achtete gar nicht weiter darauf, sondern lehnte mich entspannt in dem weichen, warmen Plumeau zurück. Doch diese himmlische Ruhe sollte mir nicht lange vergönnt sein.
„Was ist das für eine Nummer?“ Zuerst realisierte ich weder, dass er mit mir redete, aber es war ja sonst leider niemand im Raum, noch wovon er eigentlich sprach.
„Was?“
„Was das hier für eine Telefonnummer ist?“ Kalla hielt mir meinen College-Block demonstrativ vor die Nase.
Benjamin. Fuhr es mir durch den Kopf und schlagartig war ich wieder völlig wach.
„Katrin, hast du gehört, dass ich mit dir spreche?“
„Die...ist von einem Kommilitonen.“ Langsam fand ich meine Fassung wieder.
„Ach so.“ Sagte er ironisch und betrachtete die zahlen misstrauisch.
„Er wollte für mich mitschreiben..heute.“ Wo hatte ich bloß gelernt so zu lügen. „Und dann muss ich ihn ja irgendwie erreichen können?“
„Und weibliche Kommilitonen hast du nicht?“ empörte er sich.
„Was soll der Aufstand?“ Ich wurde wütend.
„Was der Aufstand soll?“ Ihm schien es keineswegs anders zu gehen. „Hör auf die Nummern von irgendwelchen Männern zu sammeln, dann mach ich auch keinen Aufstand.“
„Er ist nicht irgendein Mann!“
„Ach.“ Schnaubte Kalla. „Wird ja immer besser!“
„So habe ich das nicht gemeint.“ Ich schlug mir die Bettdecke um den Körper und stand auf.
„So hast du es aber gesagt!“ fauchte er mir entgegen und fuchtelte mit den Armen.
„Du spinnst doch! Und jetzt gib das Ding her, es gehört mir.“
„Wenn es nur irgendein Kerl wäre, würdest du nicht so einen Aufstand machen. Du widersprichst dir, Mädchen.“
„Jetzt werd nicht unverschämt, Kalla!“ ich hatte den Block hinters Bett geschmissen, so dass er vorerst aus seiner reihweite war. „Wenn du nicht in meinen Sachen wühlen würdest, könnten solche Missverständnisse auch gar nicht entstehen.“
„Missverständnis.“ Äffte er mich nach. „Wenn du keine Geheimnisse vor mir hättest, würde das auch nicht passieren.“
„Das musst du gerade sagen.“ Schrie ich ihm ins Gesicht. „Du verheimlichst mir doch auch was. Wenn du denkst dein kleines Ablenkungsmanöver von eben, hätte mich dazu gebracht, zu vergessen, dass ich dich gefragt hatte, wieso du schon hier bist, hast du dich geschnitten.“
Doch anstatt mir zu antworten oder sich weiter mit mir zu streiten, drehte er sich um und verließ wortlos die Wohnung.
Ich sank auf dem Bett zusammen und begann zu weinen. Ich war so wütend und gleichzeitig verzweifelt. Was war bloß los mit uns? Wir hatten uns doch immer bestens verstanden. Konnten über alles reden und jetzt das. Nicht, dass wir uns nicht schon vorher gestritten hätten, aber es war nie so gewesen, dass man es nicht hätte ausdiskutieren können. Streit ließ sich gar nicht vermeiden, wenn man auf so engem Raum ständig aufeinander hing. Außerdem hatten wir eigentlich nur uns beide. Natürlich gab es mittlerweile ein paar lockere Bekanntschaften, Leute mit denen man sich gut verstand, aber unsere Freunde, hatten wir beide zuhause zurück gelassen. Und wenn man die ganze Zeit mit arbeiten beschäftigt ist, bleibt wenig Zeit um Freundschaften zu schließen, wenn man nebenbei noch etwas Zeit zu zweit verbringen wollte. Doch egal wie sehr wir uns in die Haare bekommen hatten, am Ende mussten wir stets beide darüber lachen. Wenn wir uns nicht auf einen Kinofilm einigen konnten gingen wir halt gar nicht ins Kino. Zuhause war es eh viel gemütlicher und in der Videothek gab es genügend Filme, die weitaus billiger waren. Dann holte man sich zwei, so dass jeder zufrieden war und am Ende gab man beide zurück, ohne sie wirklich gesehen zu haben.
An diesem Tag war es anders. Er war gegangen und meine Lügen, sowie sein Schweigen boten nicht die beste Basis für eine Versöhnung. Je länger er weg war, desto klarer wurde mir eins. Ich musste ihm die Wahrheit über Benjamin sagen, um weitere Missverständnisse zu vermeiden. Doch so lange ich auch wartete, Kalla kam nicht zurück und irgendwann schlief ich enttäuscht und völlig verheult ein.
Ich wurde von der Wohnungstüre geweckt, als diese ins Schloss fiel.
„Kalla!“ Ich fuhr hoch.
„Hmmm.“ Kam es vom Eingang.
Ich sah auf die Uhr. Es war acht Uhr morgens. Er war die ganze Nacht weg gewesen.
„Ich hab Brötchen mitgebracht.“
Ich stand auf, ging auf ihn zu und schlang von hinten meine Arme um ihn. Sein Körper entspannte sich schnell und kuschelte sich an mich. So gerne ich es mir auch verkniffen hätte, ich musste es einfach wissen. „Wo warst du die ganze Zeit?“ fragte ich leise.
„Kannst du es nicht einfach gut sein lassen?“ murmelte er.
„Ich hab mir Sorgen gemacht.“
„Du hast doch geschlafen!“
Schlagartig ließ ich ihn los. „Soll das heißen, erst wenn ich die ganze Nacht wachgeblieben wäre, um auf dich zu warten, mache ich mir Sorgen?“
„Nein. Nein. Es...“ Er stammelte und drehte sich zu mir um.
Mit den Händen in die Hüften gestemmt stand ich vor ihm. Das letzte was ich wollte war ein neuer Streit, aber er regte mich einfach auf. „Was?“ fragte ich aggressiv.
„Ich wollte mich nicht wieder streiten.“
„Und deswegen bleibst du die ganze Nacht weg?!“
„Es tut mir leid, Ok? Es kommt nicht wieder vor.“ Zärtlich strich er mir über die Wange. „Frühstück, bevor du in die Uni gehst?“
Ich hatte keine Kraft mehr mich zu streiten, auch wenn aus meiner Sicht längst nicht alles aus der Welt war. „Ja, ich geh bloß schnell duschen.“ Ich packte meine Sachen und verließ die Wohnung, in der Hoffnung es würde wieder alles normal, wenn ich nur frisch geduscht und somit weitaus entspannter wiederkäme. Doch weit gefehlt!
„Da hat ein Benjamin angerufen.“ Sagte Kalla in einem scharfen Ton und sog dabei Luft zwischen die Zähne ein.
Wie angerufen? Dachte ich. Der hat doch gar nicht diese Nummer. Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, das nicht laut gesagt zu haben. Fragend sah ich meinen Freund an.
„Na dein Handy hat geklingelt und da bin ich halt ran gegangen.“
„Seit wann gehst du an mein Handy?“ ich sah ihn ärgerlich an und nahm es ihm aus der Hand.
„Normalerweise tu ich das auch nicht, aber irgendwie hatte ich wohl den richtigen Instinkt.“
„Was soll denn das jetzt wieder heißen?“
„Ich dachte er sei der Kerl, der für dich die Vorlesungen mitschreibt. Also hab ich gesagt, dass er dir die Unterlagen ja in die Uni mitbringen kann.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Der wusste nur nichts von irgendwelchen Jura-Vorlesungen. Der studiert nämlich gar kein Jura.“
„Hab ich das behauptete?“ fragte ich halb, weil ich wütend darüber war, dass er mir nachspionierte, halb, um mich rauszureden.
„Lüg mich nicht an. Die Nummer von ihm, war die von deinem Block.“
Ich war zu überrascht um zu antworten.
„Soviel also dazu, dass es ein Kommilitone von dir ist.“ Er stand vom Tisch auf. „Mir ist der Appetit vergangen und spar dir deine Ausreden.“
„Kalla!“ Irgendwie fühlte ich mich durchaus ertappt. „So ist es nicht.“
„Ich will es gar nicht wissen, mir ist schon schlecht!“ Er ging zur Türe. „Viel Spass in der Uni.“ Krachend fiel diese ins Schloss.
Scheiße. Ich ließ mich aufs Sofa fallen. Hätten wir uns gestern nicht gestritten, er wäre bestimmt nicht ans Telefon gegangen. Und wieso rief Benjamin der Idiot mich eigentlich früh morgens an?
Ich ging durch den Hausflur die Treppe herunter und trat auf die Straße. Mir war schon wieder zum Heulen zumute, dabei hatte ich doch sonst nicht so nah am Wasser gebaut. Eigentlich stand mir der Sinn heute nicht nach Menschen und die Uni brachte leider immer mit sich, dass man einer Menge Menschen begegnete. Aber die Zwischenprüfungen standen in etwas weniger als einem Monat an und ich wollte nicht jetzt schon versagen. Und weder Tina noch Jelena waren um diese zeit telefonisch zu erreichen. Tina machte eine Ausbildung zur Erzieherin und war somit in ihrem Kindergarten. Da war ihr Handy natürlich abgeschaltet und selbst wenn nicht, bei dem Lärm, den die Monster veranstalteten, hätte sie es ohnehin nicht gehört. Jelena war ein Jahr in die USA gegangen und der Himmel weiß, wie viel Uhr die da gerade hatten. Dann bliebe mir theoretisch nur noch Frank. Aber Frank war ein Kerl und nachher würde er mir noch einreden, dass die Schuld bei mir lag. Diese Annahme war natürlich komplett unsinnig und völlig falsch. Frank wäre für mich durchs Feuer gegangen ,so wie ich für ihn und er hätte niemals irgendwelche Schuld bei mir gesucht, selbst dann nicht wenn ich schuldig gewesen wäre. Aber in meiner völligen Verwirrung und inneren Aufgelöstheit, war es mir nichtein mal möglich diese einfachsten Zusammenhänge zu erkennen und mich einfach auf den ältesten Freund, den ich hatte zu verlassen.
Wenn man alleine ist, oder sich alleine fühlt kann Berlin die größte und einsamste Stadt der Welt werden. Diese Erfahrung machte ich zumindest. Und ich fühlte mich allein, als plötzlich mein Handy klingelte, das dumme Ding. Doch anstatt es in den nächsten Papierkorb zu werfen ging ich lieber ran.
„Hi!“ flötete es am anderen Ende der Leitung. „Hier ist noch mal Ben!“
„Benjamin.“ Seufzte ich halb enttäuscht, halb resigniert.
„Kennst du noch mehr, die so heißen und heut schon mal angerufen haben? Du weißt doch, dass ich schon mal angerufen habe, oder?“
Nur zu gut. „Ja, ja.“
„Hat dir dein Mitbewohner das also ausgerichtet?“
Mein Mitbewohner? Im ersten Moment war ich völlig perplex, aber das soll keine Entschuldigung dafür sein, dass ich es nicht gleich richtig stellte. „Hmm.“
„Ich wollte fragen, ob wir heute zusammen Mittagessen?“
„Hmmm.“
„Heißt das ja?“ ich antwortete nicht.
„Sag mal stimmt was nicht mit dir Katrin?“
„Nee schon gut, bin bloß noch müde.“
„Ach so, der Kerl eben muss auch noch müde gewesen sein. Der hat was von Aufzeichnungen für Vorlesung gefaselt und besonders freundlich klang der auch nicht.“
„Welcher Kerl?“ fragte ich mit den Gedanken woanders.
„Na, dein Mitbewohner!“ Benjamin lachte kehlig. „Du bist aber wirklich ziemlich daneben, Süße! Aber da kann ich Abhilfe schaffen.“
„Ach ja?“
„Sag mal, stör ich dich bei irgendwas?“
„Nein, Benjamin. Bin nur grad auf dem Weg zur Uni.“
„Tja, da muss ich heute erst später hin, deswegen bin ich jetzt auch ganz am anderen Ende der Stadt, aber heut Mittag sehen wir uns doch, oder?“
„Hmmm.“
„Ich nehme das jetzt einfach nicht persönlich. Bis dann!“ Und schon hatte er aufgelegt.
Ich hätte sicherlich besser daran getan, diesen Mittag zuhause zu Essen, aber da hätten mich keine zehn Pferde mehr hingebracht, ein dritter Streit dieser größer innerhalb von vierundzwanzig Stunden war eindeutig zu viel für mich.
„Da bist du ja!“ Benjamin hatte ansteckend gute Laune. „Ich habe mir herausgenommen schon mal was zu essen zu besorgen.“ Er deutete auf den Tisch, an dem er eben noch gesessen hatte. „Und Getränke natürlich. Da ich aber nicht wusste, was du trinken willst...“
„Hast du einfach mal alles Verfügbare geholt?!“ ich musste lachen, da war ja kaum noch Platz auf dem kleinen Tisch, vor lauter Becher, Dosen und Tassen.
„Du sagst es.“ Er rückte mir den Stuhl zurecht und ich setzte mich. „Bekomm ich keinen Begrüßungskuss?“
Zum zweiten mal, an diesem Tag machte er mich sprachlos. Ich sah ihn bloß verwirrt an.
So beugte sich Benjamin über den Tisch und wollte mich Küssen, ich drehte ihm meine Wange zu und nun war er anscheinend an der reihe verwirrt zu sein, doch er gab sich zufrieden. „Wie lang wohnst du schon hier?“
„Seit Beginn des Semesters.“
„Eigentlich logisch.“ Er nahm einen großen Biss von einem Sandwich in Übergröße. „Komisch, dass wir uns da nie begegnet sind.“
„Ich bin nicht oft hier.“
„Wieso nicht? Schmeckt es dir nicht?“
„Jetzt?“
„Jetzt und allgemein.“
„Jetzt habe ich bloß keinen richtigen Hunger!“ Essen war wirklich das letzte, was ich jetzt wollte. „Und sonst hab ich meist um die Zeit gearbeitet.“
„Gearbeitet? Als was arbeitest du denn?“
„Ich hab in einem Café gearbeitet, aber die Bezahlung war zu schlecht, dafür, dass mein ganzer Mittag draufging und die Trinkgelder waren mies.“
„Und jetzt bist du also arbeitslos?“ Er hatte das wohl eher als Witz gemeint, doch es kratze an meinem Selbstbewusstsein.
„Nein!“
„Schon gut.“ Lachte er. „War nicht so gemeint!“
„Ja, ich weiß, sorry. Bin heut etwas angefressen.“
„Was machst du denn jetzt?“
„Immer noch Bedienung, aber in einer Kneipe und abends, das bringt eindeutig bessere Trinkgelder. Betrunkene zahlen mehr, als Rentner, die Kuchen essen. Und was machst du so?“
„Nichts.“ Er rümpfte die Nase. „Mein Vater zahlt alles, und da seh ich es gar nicht ein auch nur einen Finger krumm zu machen. Der kann ruhig tief in die Tasche greifen.“
Mir wäre nie eingefallen mich von meinem Vater aushalten zu lassen, aber bei Benjamin lag die Situation wohl anders. Das Verhältnis zu seinem Vater schien wirklich mies und so wechselten wir das Thema.
„Sag mal, hättest du nicht Lust auf eine Party heute Abend?“
„Ich muss arbeiten!“
„Die ganze Nacht?“ fragte er ungläubig.
„Nee!“
„Also nach der Arbeit. Ich rechne fest mit dir!“ er schmiss mir einen Zettel auf den Tisch und verschwand. Wie schaffte er es nur immer wieder, dass man keine Einwände erheben konnte.
Kalla war nicht zuhause, als ich von der Uni kam und ich hatte auch keine Zeit auf ihn zu warten. Vermutlich war auch er bei der Arbeit. Obwohl... ich sah auf die Uhr. Schon recht spät. In meinem Herzen pochte plötzlich wieder unaufhörlich die Frage, was er wohl vor mir geheim hielt. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fraß ein grausiger Verdacht mich von Innen auf. Er war nie ein eifersüchtiger Typ gewesen, wieso also jetzt dieser Aufstand? Wie kam er bloß darauf? Vielleicht, weil er selbst nicht so ganz... ich wollte das nicht wirklich zu Ende denken, also packte ich meine Tasche und ging. Nach der Arbeit noch auf Benjamins Party vorbeizuschauen konnte sicher nicht schaden und wenn es mir nicht gefiel konnte ich ja immer noch gehen.
Nachdem ich meine vierstündige Schicht hinter mich gebracht hatte schaute ich zum wiederholten Male auf den kleinen Zettel mit der Adresse. Sollte ich wirklich? Aber ich brauchte Ablenkung, und was war da besser als laute Musik und viele Menschen?
„Da bist du ja endlich.“ Er strahlte mich bis über beide Ohren an. „Dachte schon du kommst nicht mehr!“
Benjamin stand in einer Ecke der ziemlich großen Wohnung, die, wie das Türschild verriet, ihm zu gehören schien.
„Bist verdammt spät dran, Katrin. Musstest du wirklich so lange arbeiten?“
„Hmm...“ Keine Ahnung wie oft ich dieses dumme Geräusch in den letzten achtundvierzig Stunden gemacht hatte, aber ich begann mir damit selber gehörig auf den nerv zu gehen.
„Na, egal!“ er wiegelte ab. „Ich stell dich erst mal ein paar Leuten vor.“ Und schon zog er mich quer durch den Raum von einer Menschentraube zur anderen. Ich hab mir nicht die Hälfte der Namen gemerkt und wiedererkennen würde ich wohl auch nur eine Handvoll der Gäste. Woran ich mich überhaupt noch erinnere ist schnell gesagt. Benjamin hatte Bier. Mehrere Fässer. Glaube ich zumindest und was wäre besser geeignet um miese Laune, Angst vor vielen fremden Menschen und die Annäherungsversuche eines wirklich süßen Typen zu vernebeln. Vernebelt hat es dann auch ziemlich gut, bis zu einem bestimmten Punkt. Meine Erinnerung setzt da wieder ein, wo die Musik plötzlich leiser wurde und die Wohnung sich merklich geleert hatte.
„Die sind ja alle weg!“ sagte ich, als Benjamin sich neben mich aufs das lange Ledersofa fallen ließ.
„Sieht ganz so aus.“ Er rückte näher und legte den Arm um mich.
„Ich hab gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.“
„Ist das jetzt ein Kompliment?“
„Irgendwie schon, Ben!“
„Für mich, oder für die Party?“ er grinste und nahm mir meinen, seit mindestens zwanzig Minuten leeren Bierbecher aus der Hand.
Nachdem ich nichts mehr zum Festhalten hatte, antwortete ich nach kurzem Überlegen: „Irgendwie für beides.“
Benjamin beugte sich vor und küsste mich. Und wie jedes Mal, wenn er das tat bekam ich weiche Knie und mein Hirn setzte aus. Etwas in mir hatte sich seit dem ersten Mal, wo wir uns begegnet waren gewünscht ihn genauso zu küssen. Und genau das tat ich. Lang und ausführlich. Ich war seelig. Dieses Gefühl verschwand erst langsam, als ich wenige Stunden später leicht verkatert neben einem schlafenden Benjamin wieder aufwachte. Oh mein Gott. Das war alles, was ich noch denken konnte. Was hatte ich nur getan? Ich sah auf die Uhr und stellte voll Schreck fest, dass es schon Morgen war. Ich war die ganze Nacht bei ihm gewesen.
Neben mir drehte sich Benjamin von der einen auf die andere Seite. Er sah so lieb aus, wenn er schlief, aber war das, was ich wollte? Ich musste mich anziehen und dann so schnell wie möglich weg von hier.
„Stimmt was nicht, Katinka?“ grinste Benjamin mich an und stützte seinen zersausten Kopf auf seine Hand.
Katinka? Mein Herz zog sich zusammen. „Nenn mich nicht so!“ schrie ich ihn an.
„Ist ja gut.“ Versuchte er mich zu beschwichtigen. „Der Kerl in der Disco damals hat dich auch so genannt, wusste ja nicht, dass andere das nicht dürfen.“ (Ich dachte, deine Freunde nennen dich so)
„Ich muss weg!“ Wie von der Tarantel gestochen verließ ich die Wohnung, obwohl ich nicht mal richtig angezogen war. Pullover und Schuhe hatte ich in der Hand. Aber auch wenn es um diese Jahreszeit schon ziemlich kalt war, so lief ich doch lieber ein Stück barfuss, als noch länger dort zu bleiben.
„Katrin!“ rief mir Benjamin mehrmals aus dem Fenster nach, während ich hastig die Strasse runter lief. „Katrin! Warte!“
Doch ich wollte nicht warten, ich konnte nicht warten und ich durfte auch nicht warten.
Völlig abgehetzt und mit einem schlechten gewissen, dass sicherlich überall die Goldmedaille gewonnen hätte, kam ich zuhause an.
„Da bist du ja.“ Kalla saß auf dem Sofa und drehte sich nicht mal um, als ich den Raum betrat. „Jetzt habe ICH mir Sorgen gemacht.“ Er klang seltsam.
„Es...es...es tut mir leid!“ sagte ich leise und wollte mich neben ihn setzen.
„Was tut dir leid?“ fragte er in einem bedrohlichen Unterton und rückte ein großes Stück von mir weg. „Dass du die ganze Nacht weg warst und ich mir Sorgen gemacht habe... dass...“
„Ja , ja!!!“
„Lass mich gefälligst ausreden!“ fuhr er mich an. „Dass du bei diesem Benjamin warst, oder bloß, dass ich es gemerkt habe?“
„Was?“
„Jetzt tu doch nicht so! Der Klügste mag ich nicht sein, aber ich bin doch nicht komplett blöde!“
„Ich hab nie gesagt, dass du blöde wärst.“ Schnell war mir klar, dass das das Falscheste war, was ich hatte antworten können. So ziemlich das Falscheste.
„Du bist unmöglich. Ich....“ er suchte nach Worten. „Ich... ich kann es nicht glauben, warst du schon immer so?“
Ich antwortete lieber nicht.
„Wie lange geht das schon?“
„Es ist nicht...“
„Ja, ja es ist nicht wie ich denke und wahrscheinlich ist alles am Ende noch meine Schuld. „
Er brauchte seine Frage nicht zu wiederholen, ich wusste durchaus, dass sie noch unbeantwortet im Raum stand und auch nicht verschwinden würde.
„Hast du mir gar nichts zu sagen? Du willst also nicht leugnen, dass du bei diesem Benjamin warst?!“
Ich konnte nicht antworten und ich konnte ihn nicht anlügen. Was er auch dachte, es war falsch, aber heute Nacht war ich weg gewesen und was das betraf, so hatte er recht.
„Ich dachte wenigstens du versuchst noch was zu retten.“ Kalla schluckte. „Ich ziehe aus!“ Er nahm seine Tasche und drehte sich um.
„Kalla.“ Flehte ich ihn an.
Und tatsächlich er blieb stehen.
„Wo willst du denn hin?“
„Nach Hause.“ Sagte er knapp, ohne mich anzusehen.
„Und was ist mit deinem Job?“
„Was für ein Job? Ich hab schon lange keinen Job mehr!“
„Aber...“ Mit allem hätte ich gerechnet, nur damit nicht. „Dann war es das, was du mir verheimlicht hast!“
„Was dachtest du denn?“ Er schüttelte den Kopf. „Dass ich ne andere hab?“
Wenn ich ehrlich war, so hatte ich darüber nachgedacht. Dieser Gedanke lag mir auf jeden Fall näher, als die Wahrheit. „Wieso hab ich das nicht mitbekommen?“
„Warst halt so mit dir beschäftigt und mit diesem Kerl!“
„Das ist nicht wahr!“
„Dann warst du also heute Nacht nicht bei ihm. Dann hast du mich nicht betrogen?“ er sah mich fragend an, doch dem Blitzen in seinen Augen war zu entnehmen, dass er die Antwort sehr wohl kannte. „Dachte ich mir!“ er atmete tief durch, drehte sich um und öffnete die Tür. „Machs gut und ein schönes Leben noch!“
„Kalla!“
Doch die Tür knallte unbarmherzig ins Schloss. Völlig entkräftet und starr vor Schreck ließ ich mich aufs Sofa fallen. Erst jetzt merkte ich, dass er tatsächlich alles mitgenommen hatte. In der ganzen Wohnung gab es nichts, was noch daran erinnerte, dass hier noch gestern zwei Menschen gewohnt hatten.
„Süße!“
Wie in Trance starrte ich auf die Reste des Apfelkuchens vor mir auf dem Tisch.
„Katrin?“
„Hmmm.“ Ich blickte auf, musste mich jedoch erst ein Mal wieder zurecht finden. Das passierte mir in letzter Zeit laufend. Plötzlich verfiel ich in Gedanken und die Realität um mich herum verschwand völlig.
„Was ist denn mit dir los?“ Benjamin sah mich besorgt an. „Geht es dir nicht gut?“
„Nein, alles in Ordnung.“
„Na dann.“ Er runzelte die Stirn. „Also, was sagst du dazu?“
„Wozu?“ Ich hatte ehrlich keine Ahnung.
„Sag bitte nicht, dass du mir schon wieder nicht zugehört hast.“
Ich schwieg.
„Redest du jetzt gar nicht mehr mit mir?“ seine Hände sanken ermattet auf den Tisch.
„Ich sollte doch nicht sagen, dass ich dir nicht zugehört habe.“ Ich steckte eine Strähne meiner Haare hinter die Ohren. „Deshalb habe ich es vorgezogen gar nichts zu sagen.“
Er lächelte, sah aber nicht wirklich so aus, als würde er sich amüsieren. „Jetzt hör doch mal auf an deinen Haaren herum zu fummeln.“
„Entschuldige, sie haben mich halt gestört.“ Ich zuckte mit den Schultern.
Er musterte mich einige Sekunden. „Sie sind auch verdammt schnell wieder gewachsen.“
„So schnell nun auch wieder nicht, Ben.“ Ich überlegte kurz. „Es ist ja eine Ewigkeit her, dass ich zum letzten Mal beim Friseur war. Weiß gar nicht mehr wann das war. Du etwa?“
„Ja, ich führe Buch über so etwas.“ Wir mussten beide lachen. „Aber eigentlich sind wir damit wieder genau beim Thema.“
„Echt?“ fragte ich, ohne darüber nachzudenken, dass ihn diese Art von Frage durchaus wieder auf die Palme bringen konnte.
„Du hast wirklich keine Ahnung, wovon ich in der letzten halben Stunde gesprochen habe!“ stellte er resigniert fest. „Wieso rede ich überhaupt noch mit dir?“
„Na, weil ich eine so gute Zuhörerin bin.“ Versuchte ich die Situation aufzulockern.
„Du eine gute Zuhörerin?“ er schnaubte verächtlich. „Du hast doch überhaupt nicht zugehört.“
„Wenigstens habe ich dich kein Mal unterbrochen.“ Ich grinste ihn an. „Wird das denn gar nicht honoriert?“
„Kannst du nicht ein Mal ernst sein?“ Benjamin sah mich eindringlich an.
„Das ganze Leben ist so ernst, man wird doch wohl noch Witze machen dürfen.“
„Ich will mich jetzt nicht mit dir streiten Kati.“ Er griff nach meiner Hand. „Ich will nur, dass du mir zuhörst. Und diesmal wirklich. Nach meiner Definition von zuhören.“
„Und die wäre?“
„Katrin!“
„Schon gut, schieß los.“
Er begann zum zweiten Mal und plötzlich wusste ich wieder, wieso ich relativ schnell abgeschaltet hatte, als er zu reden begann. Was er da sagte machte mir Angst. Wenn ich darüber nachdachte, wusste ich immer noch nicht, wie ich hier eigentlich hingekommen war. In einem Zimmer im Hotel Adlon. So was hätte ich mir nicht ein Mal in meinen Träumen leisten können. Aber Benjamin konnte. Genau genommen nicht er, sondern sein Vater. Und der ließ es sich was kosten, dass der Sohn ihn und seine neue Familie nicht über Gebühr belästigte.
Nachdem Kalla gegangen war konnte ich mir meine, unsere Wohnung nicht mehr leisten. Wenn ich an die Rechnungen denke ist es mir immer noch schleierhaft, wie wir das überhaupt geschafft haben. Ich musste ausziehen und stand erst Mal auf der Straße. Für ein paar Nächte hatte ich mich in einer schäbigen kleinen Pension in der Nähe vom Bahnhof Zoo eingemietet, aber dort wollte ich nun wirklich nicht länger bleiben, als irgendwie nötig.
Durch Zufall traf ich dann erneut auf Benjamin. Ich hatte versucht ihn zu verdrängen und mit ihm diese ganze schmerzliche Sache. Doch wieder schaffte ich es nicht mich seinem Charme zu entziehen. Relativ schnell hatte er meine damaligen Lebensverhältnisse aus mir herausgequetscht und mir angeboten doch bei ihm zu wohnen, bis ich ein Zimmer im Studentenwohnheim bekäme. Von meinem Ex, oder dem, was nach meinem Verschwinden an jenem Morgen passiert war ahnte er bis heute nichts. Benjamin hatte mich nie nach einem Freund oder gar Ex-Freund gefragt und so hielt ich es nie für nötig es zu erwähnen.
Kalla hatte ich seit dem nicht mehr widergesehen. Ich war mehrmals soweit ihn anzurufen, legte jedoch immer wieder auf. Was hätte ich ihm denn sagen sollen? Er war ja im Recht. Ich hätte wohl kaum anders reagiert und so hatte ich es wohl nicht anders verdient. Nach Hause gefahren war ich seit dem ebenso nicht. Mein Vater hatte mich mehrmals besucht. Aber sonst war ich ziemlich erfolgreich gewesen, alles von früher aus meinem Leben zu verbannen. Zu meinen Freunden hatte ich eigentlich nur noch über E-Mail Kontakt. Nur noch mit Frank telefonierte ich regelmäßig. Er vermied aber ebenso wie ich das Thema Tina anzuschneiden. Mit meiner ehemals besten Freundin hatte ich mich zwar nicht zerstritten, persönlich miteinander geredet hatten wir aber auch schon seit zwei Jahren nicht mehr.
Ja, zwei Jahre ist das jetzt alles her. Beinahe auf den Tag genau.
„Wir sind jetzt schon so lange zusammen und ich kenne immer noch nicht einen deiner Freunde.“ Fuhr Benjamin fort.
„Stimmt doch gar nicht, du kennst Frank.“ Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her.
„Ja, weil ich mal versehentlich ans Telefon gegangen bin.“ Er schüttelte den Kopf. „Der weiß doch gar nicht wer ich bin. Hast du ihm überhaupt mal von mir erzählt?“
„Hmmm....“ ich stockte. „Also genau genommen...“
„Natürlich nicht.“ Er atmete schwer. „Woher weiß ich denn, dass ich nicht eifersüchtig auf ihn sein muss?“
„Das weißt du gar nicht. Abgesehen davon, dass du gar nicht eifersüchtig zu sein brauchst.“ Wieder versuchte ich eine kaum zu bändigende Haarsträhne hinter meinem Ohr zu befestigen. „Vielleicht aber auch einfach deswegen, weil ich Berlin seit zwei Jahren nicht verlassen habe und er die Stadt noch nie betreten hat.“
„Genau darauf wollte ich ja hinaus.“
„Was stört es dich, dass Frank noch nie in Berlin war?“
„Es stört mich nicht was Frank tut.“ Langsam aber sicher schein ich ihn in den Wahnsinn zu treiben. „Es geht darum, dass du seit zwei Jahren nicht mehr zuhause warst.“
„Na und?“ jetzt nervte er mich. „Du warst doch auch nicht bei deinem Vater und der wohnt in Potsdam.“
„Das ist was anderes.“ Fauchte er. „Und das weißt du genau.“
„Ja, tschuldige.“ Aber ich hatte auch meine Gründe.
„Du liebst deinen Vater.“ Er sah beinahe ein wenig traurig aus. „Aber weder ihn noch einen deiner Freunde hast du mir jemals vorgestellt.“
„Du kennst Freunde von mir.“
„Ja, Freunde aus Berlin. Aber die sind doch eh unsere gemeinsamen Freunde. Dieser Frank zum Beispiel, ist doch was anderes. Den kennst du schon ewig. Wieso stellst du ihn mir nicht vor?“
„Ich kann ihn ja mal einladen.“ Überlegte ich laut. „Er und Lukas kommen bestimmt gerne.“
„Lukas?“
„Das ist seit Ewigkeiten Franks bester Kumpel. Und seit dem ich weg bin erst recht. Ich bin ganz froh, dass Lukas auf ihn aufpasst.“ Das alles sagte ich mehr zu mir, als zu Benjamin. „Es hat sich viel verändert.“
„Und wieso gehen wir sie nicht besuchen?“ er bleib hartnäckig.
„Weil ich nicht will, ganz einfach. Akzeptier es, oder lass es.“
„Und so einfach speist du mich jetzt ab?“ je länger dieses Gespräch dauerte, desto angefressener wirkte Benjamin. „Schämst du dich für mich?“
„Nein.“
„Was ist es denn dann?“ er stand auf.
„Ich hatte meine Gründe wieso ich weggegangen bin.“ Das stimmte zwar, doch klang es anders, als es war. „Einige meiner Freunde haben mir das Übel genommen, aber daran kann ich nichts ändern.“ Ich wagte nicht Benjamin anzusehen. Wie sollte ich ihm das erklären, ohne Kalla zu erwähnen. Und wenn ich auf ihn kam, wie sollte ich dann Benjamin nicht auch einen Teil der Schuld für das Scheitern der Beziehung anrechnen? Natürlich hatte er nicht wirklich Schuld. Ihm fehlten damals entscheidende Informationen und das lag an mir. „Frank ist der einzige, zu dem ich noch immer engen Kontakt habe, dafür muss ich nicht nach Hause fahren.“
„Und was ist mit deinem Vater?“ Benjamin hakte nach.
„Gar nichts. Vielleicht hast du recht. Ich stell ihn dir vor.“
„Wann?“ er ließ einfach nicht locker.
„Bald.“
„Gut, ich wollte ihn nämlich was fragen.“
„Fragen?“ ich war verwundert. „Was denn?“
„Schon gut.“ Benjamin nahm seine Jacke. „Ich muss jetzt noch Mal zur Uni. Bis später.“ Er küsste mich auf die Haare. „Sei brav!“
„Ben!“ Doch er war schon aus der Türe.
Ich war in diese Sache mit Benjamin einfach so reingeschlittert. Genauso, wie ich in alles, was Benjamin betraf immer einfach so reingeschlittert war. Sobald es um ihn ging schien mein Hirn einfach auszusetzen. Ich tat Dinge, die mir sonst gar nicht ähnlich sahen und brach ständig alle, aber auch wirklich alle regeln, die ich mir für mein eigenes Leben aufgestellt hatte.
Es war unglaublich. Selbst wenn ich einfach nur darüber nachdachte nannte ich es nur „diese Sache“: War das zwischen uns nicht längst mehr, als nur irgendeine Sache? Das Ganze ging jetzt schließlich schon fast zwei Jahre. Ich möchte aber klarstellen, das ich nicht übergangslos von Kalla zu Benjamin überging. Ich ließ Ben eine ganze Weile, wohl einige Monate ganz schön schmoren. Sorgte dafür, dass ich immer die Nachtschicht bekam und nicht zu oft gleichzeitig mit ihm in der Wohnung war. Irgendwann hatte ich ihm einfach nicht mehr ausweichen können. Er wollte eine Erklärung für mein seltsames Verhalten und Wahnsinn ließ er nicht gelten. Da ich auch damals schon keineswegs gewillt war aus dem Nähkästchen zu plaudern, gab ich nach. Das mag jetzt klingen, als hätte ich das alles gar nicht wirklich gewollt. Aber das wäre wohl weiter von der Wahrheit entfernt, als man sich vorstellen kann.
Benjamin brachte mich regelmäßig dazu den Verstand zu verlieren. Auch heute noch. Wenn er unerwartet irgendwo auftauchte, bekam ich immer noch weiche Knie. Und sein Lächeln sorgte für Magenschmerzen. Das meine ich ganz im positiven Sinn. In all diesen Dingen hatte sich seit unserer
ersten Begegnung äußerst wenig geändert. Jetzt kannte ich ihn nur besser, meinen Benjamin. Ja, er war mein Benjamin und vielleicht hatte er recht. Es gab keinen Grund, wieso ich damit so lange hinter dem Berg gehalten hatte. Mir war klar, das ich nicht ganz ehrlich war. Natürlich hatte es einen Grund gegeben und den gab es immer noch. Aber ich musste auch vor mir selbst zugeben, dass es kein besonders guter war. Und schon gar kein realistischer.
So griff ich kurzer Hand zum Telefonhörer. Mein Vater war nicht zuhause. Natürlich nicht. Er kam immer erst abends von der Arbeit. So war es mir aber erst Mal lieber, seinem band konnte man gewissen Dinge viel leichter erklären. „Hallo Paps. Ich bin`s Kati. Hättest du vielleicht Lust mich Ende des Monats mal besuchen zu kommen? So ein kleiner Abstecher in die Hauptstadt mit Ausflug zum Wannsee kann doch nicht schaden... Also wir würden uns wirklich freuen....“
Piep Piep.
Scheiß Anrufbeantworter. Wieso endet die Redezeit immer dann, wenn man noch was wichtiges zu sagen hat? Ich rief ein weiteres mal an. „Ich bin es noch Mal. Sagte ich wir würden uns freuen? Ich meine natürlich ich würde mich freuen. Du weißt ja, ich freu mich immer, wenn du vorbei kommst. Und wir haben uns ja auch so lange schon nicht mehr gesehen. Ich hab viel zu erzählen und von der Zeit passt es mir auch gut. Semesterferien und so...“
Piep Piep.
Schon wieder. Ich wählte erneut. „Also ich verspreche mich andauernd. Ich meinte durchaus, dass wir uns freuen würden. Also ich und....ich und... Ich und Benjamin.“ Ich knallte den Hörer auf. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber so konnte ich das unmöglich stehen lassen.
Wieder hob ich den Hörer von der Gabel. „Also Papa.... er ist mein Freund. Also Benjamin. Aber das wirst du dir ja schon gedacht haben....“ Hatte er das. Es hätte sich doch genauso gut um meinen Hamster handeln können. „Es tut mir leid, dass ich dir das bisher verschwiegen habe, aber ich wollte mir erst mal über einiges klar werden... Ich hoffe du verstehst das.“
Piep Piep.
Ich stand auf und ging durchs Zimmer. Irgendwie musste ich mich ablenken. Es konnte Stunden dauern, bis mein Vater das abhörte und wer wusste, ob er dann sofort zurück rief? Eigentlich telefonierten wir jeden Abend um die gleiche Zeit. Aber vielleicht rief er ja heute nicht an. Oder es wäre gerade besetzt. Wer sollte denn sonst um diese zeit anrufen? Frank wusste, wann ich zu erreichen war, er hatte auch seine festen Anrufzeiten und Ben bekam die meisten Anrufe auf sein Handy. Ich schien langsam aber sicher völlig verrückt zu werden. Also begann ich das Bett zu machen. Bis mir klar wurde, dass ich in einem Hotel lebte. Ich tat es schon wieder. Wir lebten in einem Hotel. Vor etwa einem Jahr hatte Benjamin die Wohnung satt gehabt. Ich verstand zwar bin heute nicht wirklich warum, aber was soll’s? Er packte damals in einer Nacht und Nebel Aktion unsere Sachen und teilte mir mit, dass wir ausziehen würde. Zunächst war ich wütend. Wie konnte er mich denn da einfach übergehen. Aber dann fiel mir ein, dass ich mich bei ihm einquartiert hatte, und wohl kaum das Recht besaß mich zu beklagen. Nebenbei teilte er mir mit, dass im Studentenwohnheim mittlerweile ein Zimmer für mich frei sei. Ich könne also dorthin ziehen, wie ich es ja eh immer vorgehabt hatte, oder ich käme mit ihm. Richtig baff war ich dann, als er mir mitteilte, wo er gedachte hinzugehen. Ins Hotel Adlon. Wie er sich das leisten konnte? Natürlich sein Vater. Der war Vorstandschef in der Firma des Vaters seiner neuen Frau geworden und dadurch hatte sich sein Gehalt beinahe verdoppelt. Wie es aussah schien Benjamin nun die Gelegenheit gekommen auch seinen Lebensstandart anzuheben, auf das nächste Level.
Ich entschied mich mit ihm zu gehen. Egal wie selbstständig ich mich manchmal fühlte, oder welches Bild ich nach außen abgab. Ich hatte nie alleine gelebt. Und die Vorstellung machte mir nach wie vor etwas Angst. Nebenbei hatte ich mich an Benjamin gewöhnt. Wir kamen gut mit einander klar, auch wenn wir nicht in allem auf einer Wellenlänge waren. Er hasste es bis heute, wenn ich am Wochenende zu Hertha BSC oder Union Berlin ging. Wenn Benjamin sich Sportveranstaltungen ansah, dann war es immer Basketball. Alba Berlin. Eine Sache, die mich meist langweilte. Nach einigen Monaten der Testphase beschlossen wir nun also, was diese Aktivitäten anging, getrennte Wege zu gehen. Man müsse ja nicht alles zusammen machen.
Nach genau diesem Motto klappte auch unser Zusammenleben im Nobelhotel wunderbar. Auch wenn der Raum eindeutig beengter war, hatte ich nie wirklich das Gefühl, dass er mir auf der Pelle hockte. Ich führte ohnehin ein sehr angenehmes Leben und das hatte ich nicht zuletzt ihm zu verdanken. Er zahlte das Zimmer und das Essen. So blieb das, was ich verdiente für mich. Natürlich lud ich ihn schon Mal zum Essen oder ins Kino ein, aber mir stand wohl weit aus mehr Geld für Luxus zur Verfügung, als sonst irgendeinem Studenten, der von zuhause nicht wirklich finanziell unterstützt werden konnte und arbeiten ging.
Mich an diesen Luxus erinnernd, der das Zimmermädchen beinhaltete. Ließ ich davon ab die Bettdecke und die Kissen weiter zu quälen. Und entschied mich stattdessen dafür einen Spaziergang zu machen.
Als ich nach ein paar sonnigen Stunden wieder kam, war Benjamin noch nicht zurück. Oder er war schon wieder weg. Ich sah mich im Zimmer um. Schwer zu sagen, ob er in der Zwischenzeit hier gewesen war. Wieso konnte ich mir auch nie seinen Vorlesungsplan merken. Der musste doch irgendwo hier rumliegen. Ich wühlte in den Unterlagen auf der Kommode. Und natürlich fielen sie zu Boden und verstreuten sich über den ganzen Teppich. Es würde mich eine Ewigkeit kosten das ganze Zeug wieder aus einander zu sortieren. Ich kroch über den Boden und sammelte die Papiere ein.
Ring, Ring.
„Aua!“ Vor Schreck über das klingelnde Telefon hatte ich mir den Kopf am Tisch gestoßen. Vorsichtig, um mehr Schaden an meinem Schädel zu vermeiden kroch ich unter dem Tisch hervor.
„Ja.“ Ich rieb mir den schmerzenden Hinterkopf. „Hallo? Ich meine, wer ist da?“
„Du bist ja noch viel verwirrter, als ich dachte!“
„Paps?“ ich weiß ehrlich nicht, wen ich erwartet hatte.
„Ja, klar.“ Er lachte. „Es freut mich, dass du mich noch erkennst?“
„Wieso sollte ich dich nicht mehr erkennen?“ so lange war unser letztes Gespräch nun wirklich nicht her. Etwa 24 Stunden.
„Nach den fünf Nachrichten auf meinem AB musste ich davon ausgehen, dass dein geistiger Zustand recht bedenklich ist.“
Gut, er schien sich nicht vernachlässigt zu fühlen. „Ach so, ja dass....“ Was sollte ich dazu noch sagen? „Das war ein kleiner Aussetzer!“
„Gut, buchen wir es darunter ab.“ Mein Vater lachte wieder. „So wie du es rübergebracht hast, hätte man meinen können, die Welt ginge unter und du wüsstest nicht, wie du es mir beibringen solltest.“
„Sehr witzig, Papa!“ darüber konnte ich nun wirklich nicht lachen.
„Also steckte doch mehr dahinter?!“ meinte er halb als Frage, halb als Feststellung.
„Wie meinst du das jetzt?“ wieder näherte ich mich dem Zustand der Verwirrung.
„Ich wollte wissen, ob deine Anrufe mehr bezwecken sollten, als mir mitzuteilen, dass du einen neuen Freund hast.“ Er machte eine kurze Pause. „Einen neuen Freund, den du mir anscheinend vorstellen willst.“
„Ja.“
„Ja was, Katrin?“ Ich konnte förmlich spüren, wie er am anderen Ende der Leitung, am anderen Ende der Republik, wie mir schmerzlich bewusst wurde, die Augen verdrehte. „Ja, es steckte mehr dahinter? Oder Ja, das war der Kern der Aussage.“
„Er ist nicht so neu.“ Ich schluckte.
„Du redest wie von einem Pulli. Hat er auch einen Namen? Wie war der noch gleich?“
„Benjamin, Papa!“ gab ich schnell zurück, bevor er sich in Spekulationen verrannte.
„Genau. Eigentlich leicht zu merken.“ Mein Vater räusperte sich. „Was meinst du denn jetzt damit, dass Benjamin nicht so neu ist?“
„Wir sind schon relativ lange zusammen.“ Ich hatte kein gutes Gefühl, das meinem Vater so lange verheimlicht zu haben. Wir hatten immer ein inniges Verhältnis gehabt. Es hatte nie auch nur den kleinsten Anlass gegeben ihm irgendetwas nicht zu erzählen.
„Das ist doch schön.“
Mit einer solchen Reaktion hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Obwohl ich meinen Vater eigentlich besser hätte kennen müssen. Hätte wissen müssen, dass er mir nie böse sein konnte.
„Hast du etwas gedacht, dass ich sauer bin, Kleines?“ wieder lachte er. „Du weißt doch, dass ich dir nicht böse sein kann!“
Jetzt musste auch ich lachen.
„Wieso lachst du?“
„Genau daran, hatte ich gerade gedacht. Ich weiß auch nicht, wieso ich so ein Geheimnis um all das gemacht habe.“
„Wie lange ist er denn schon dein Freund?“ Mein Vater klang ernsthaft interessiert.
„Bald zwei Jahre.“ Ich überlegte. „Noch nicht ganz, aber ich kann mir solche Daten eh nie merken.“
„Ich weiß...“
„Na danke.“ Das hörte ich nicht gerne.
„Wenn du mich hättest ausreden lassen, wüsstest du, was ich meinte.“
„Sorry!“
„Ich weiß, vielleicht, wieso du es mir nicht erzählt hast.“
„Wirklich?“ Jetzt war ich wirklich neugierig. Er schien wieder mehr über mich zu wissen, als ich selbst.
„Du hast mir auch nie erzählt, was zwischen dir und Charlie vorgefallen ist.“
Uff. Das hatte gesessen.
„Bist du noch dran?“
„Ja, klar.“ Ich schluckte. „Müssen wir jetzt davon anfangen?“
„Nein, ich weiß nur nicht, wieso du nie darüber sprichst.“
„Ich weiß doch, dass du ihn gemocht hast.“
„Und du glaubst ernsthaft, dass ich ihn mehr gemocht habe als dich.“ Er klang fast schon ein wenig verärgert.
„Nein, natürlich nicht.“ Ich kam mir saudumm vor.
„Das war also der einzige Grund?“ Mein Vater lachte wieder.
„Könntest du aufhören über mich zu lachen!“
„Jetzt mal im Ernst. Es ist doch nicht mein Leben, Katrin, sondern deins!“
Das leuchtete ein.
„Wieso also sollte ich dir vorschreiben, mit wem du zusammen bist?“
Ich schwieg.
„Hatte ich mir fast gedacht. Darauf weißt du auch keine Antwort.“
„Du bist also nicht böse.“
„Na ja, du hättest es mir ruhig früher erzählen können.“
„Es tu mir leid. Wirklich!“
„Schon gut, beim nächsten Mal eben.“
Beim nächsten Mal? Mir schnürte sich die Kehle zu. Für wen hielt er mich? So etwas würde mir kein zweites Mal passieren. Ich würde auch kein zweites Mal einen finden wie Kalla. „Papa?“
„Ja, Katrin.“
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich vielleicht keinen mehr finden würde, wie ihn. Aber ich hatte doch Benjamin. Seit Ewigkeiten war ich verknallt in diesen Kerl und jetzt wo ich ihn hatte... bis zu diesem Zeitpunkt war mir wohl gar nicht richtig klar, was Benjamin mir bedeutete. Was ich an ihm hatte. „Du musst mir einen Gefallen tun, Papa!“
„Jeden!“ er schien zu merken, dass es mir wichtig war.
„Wenn du uns besuchen kommst...“ Wie sagte ich es am Besten, ohne dass es verrückt klang. Ohne, dass es so seltsam klang, wie es war. „Fang nicht von Kalla, ich meine Charly...red einfach nicht über ihn, ok?“
„Ja, sicher! Darf man fragen wieso?“
„Tu es einfach nicht.“ Versuchte ich so eindringlich wie möglich zu sagen und dennoch der Frage meines Vaters auszuweichen.
„Du hast also deinem Benjamin nichts von ihm erzählt?!“
Schon wieder ein Volltreffer.
„Aber wieso nicht?“
Wenn ich das wüsste.
„Ja, schon gut. Es geht mich ja auch nichts an...aber nach zwei Jahren sollte es doch keine Rolle mehr für euch spielen.“
„Sollte es nicht...“ flüsterte ich vor mich hin.
„Tut es aber?“
Ich konnte nicht antworten. Tat es das? Am Anfang hätte ich es Benjamin ja noch sagen können, aber ob er verstehen würde, dass ich so lange nichts erzählt hatte. Die Sache war so eine Art Selbstläufer geworden. Immerhin hatte er immer gedacht Kalla sein bloß irgendein Mitbewohner gewesen. Es wäre an mir gewesen, dass alles richtig zu stellen. Ich hatte mich beiden gegenüber falsch verhalten und es fiel mir nicht gerade leicht, das einzugestehen. Nicht mal vor mir selbst.
„Gut, Katrin. Ich komm dann Ende des Monats bei euch vorbei.
Mein Vater war zu Besuch. Kaum eine Woche meines Lebens war so schnell vergangen, wie die seit unserem letzten Telefonat. Ich hatte mich vorbereiten wollen. Nicht nur auf den Besuch meines Vaters. Ich wollte ihm unbedingt symbolisieren, dass ich gut alleine klar kam, dass er sich um mich keine Sorgen zu machen brauchte. Ich hätte mich auf die Uni vorbereiten müssen. Doch je näher der Tag, der Ankunft meines Vaters rückte, um so mehr verkrampfte ich.
Benjamin packte mich also kurzerhand in den Zug und fuhr mit mir zum Wannsee. An diesem schönen Nachmittag zu zweit löste sich meine Anspannung kurz. Es war fast wie an dem Tag, als Benjamin und ich uns kennen gelernt hatten. Ich vergaß alles um mich herum und genoss es einfach, dass Benjamin mir wieder, wie damals, ein Eis spendierte.
Und nun saß ich hier, vor der Gedächtniskirche, auf den Stufen in der Sonne, zwischen meinem Vater und meinem Freund. Abermals mit einem Eis.
„Wieso hast du dir überhaupt ein Eis gekauft, wenn du nie wirklich vor hattest, es auch zu essen?“ Fragte mein Vater und stupste mich an.
„Ich esse es doch!“ Gab ich trotzig zurück.
„Das sehe ich anders! Das Meiste ist doch direkt aus dem Hörnchen auf den Boden getropft.“ Verbesserte er mich und zeigte auf die, mittlerweile beachtliche Eispfütze direkt zu meinen Füßen.“ Träumt sie eigentlich immer so viel?“ Diese Frage war nun an Benjamin gerichtet.
„Hmmm.“ Er sah mich vorsichtig an, nicht sicher, was und ob er antworten konnte, ohne, dass ich ihm den Kopf abriss. Doch es war keine Reaktion meinerseits zu erkennen. „In letzter Zeit schon!“
„Vielleicht fordert sie ihr Studium nicht genug!“ scherzte mein Vater.
Die beiden redeten über mich, als wäre ich gar nicht anwesend, dabei saß ich direkt zwischen ihnen.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, bei einem Fach wie Jura!“ antwortete Benjamin und knuffte mich aufmunternd in die Seite.
„Wo wir gerade beim Thema sind...“ Mein Vater schien Gefallen an dem Gespräch zu finden. „Was studieren sie eigentlich? Ich darf doch annehmen, dass sie die Uni besuchen.“
„Papa!“ ich seufzte. „Wird das jetzt ein Verhör? Es ist doch egal, ob er zur Uni geht oder nicht!“
„Sicher ist es das. Aber Benjamin kann doch für sich selber antworten, oder etwa nicht?“
„Er kann!“
„Dann lass ihn doch! Du hast in letzter zeit die Angewohnheit einige Informationen für dich zu behalten...“
Treffer. Mein Vater hatte völlig recht und es tat weh, das von ihm zu hören. Es zeigte aber auch deutlich, dass meine Art der Informationspolitik ihn ebenfalls verletzt haben musste. Ich war es ihm wohl schuldig, dass er sich selbst ein Bild über Benjamin machte. Ohne meine Einmischung.
„Schon gut, Kati.“ Lachte nun auch Benjamin. „Medizin.“
„Oh!“ mein Vater schien überrascht, oder war er doch beeindruckt? „Ein Arzt und eine Anwältin. Das ist ja eine Kombination.“
„Wenn du meinst!“ Irgendwie empfand ich das alles als überflüssigen Smalltalk. Aber es handelte sich wohl eher um ein vorsichtiges Abtasten.
„Klar, wenn alles gut läuft, müssen wir uns später mal wenig Sorgen um Geld machen.“ Führte Benjamin an.
„Das scheint ja bei ihnen jetzt schon der Fall zu sein!“ Mein Vater hatte Fahrt aufgenommen.
„Wie meinen sie das?“
„Na ja, sie leben immerhin in einem Hotel, das nicht gerade zu den billigsten gehört. Und können es sich nebenbei auch noch leisten, dass meine Tochter dort mit ihnen wohnt.“
„Ach das. Das bezahlt mein Vater!“ Antwortete Benjamin trocken und stocherte mit dem Löffel in seinem Eisbecher.
„Das ist ja interessant.“ Mein Vater schnaubte.
„Bitte, Papa!“ Ich flehte ihn geradezu an. „Lass es gut sein!“
„Wieso? Ist das denn ein so unangenehmes Thema?
„Hör doch einfach auf, mir zu Liebe!“
Benjamin saß da und sagte gar nichts.
„Das Geld kann er also nehmen, aber darüber zu reden ist ihm dann doch unangenehm. Darf ich daraus schließen, dass er doch so etwas wie ein Gewissen besitzt?“
„Schluss jetzt! Basta!“ Ich stand auf.
„Es ist schon o.k.“ sagte Benjamin leise und klang lange nicht mehr so selbstsicher wie sonst. „Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu meinem Vater müssen sie wissen. Nicht so, wie sie und ihre Tochter...“
„Und das rechtfertigt....“
„Entschuldigung, aber ich war noch nicht fertig...“ Es schien, als wollte er das jetzt ein für alle Mal klären.
Es war kaum zu glauben, wie schnell diese Woche vor der ich mich so gefürchtet hatte, dann vorbei ging. Es kam zu keinem weiteren Streit, alles lief glatt und gestern morgen reiste mein Vater wieder ab in Richtung Heimat.
Na ja, seine Heimat. Meine ist es wohl nicht mehr so richtig, obwohl wir ihm versprechen mussten ihn auch mal besuchen zu kommen. Sofort versuchte ich klarzustellen, dass wir beide sehr viel zu tun hätten und es daher doch sehr viel besser sei, er käme zu Besuch. Das Argument mit dem fehlenden Geld für die Reise konnte ich leider nicht anwenden. Erstens würde es nachdem, was er von Benjamins Lebensumständen gesehen hatte ohnehin nicht fruchten und zweitens hatte ich Angst vor einer erneuten Auseinandersetzung zwischen meinem Freund und meinem Vater. Benjamins Lebensumstände. Ja für mich war es immer noch schwer zu akzeptieren, dass es jetzt auch meine Lebensumstände waren. Schließlich lebten wir zusammen. Ich war wohl immer zu eigenständig gewesen um offen zu akzeptieren, dass ich jetzt finanziell von Benjamin abhängig war. Natürlich hätte ich mir auch weiterhin eine eigene Wohnung leisten können, aber eben nicht in dieser Preisklasse und schon gar nicht in irgendeinem Nobelhotel. Das passte auch gar nicht zu mir. Ich war nie das Mädchen, dass materiellen Luxus gebraucht hätte. Doch war ich auch nicht ein Mal auf die Idee gekommen mich zu beschweren, Benjamin vorzuschlagen doch in ein bescheideneres Domizil umzusiedeln. Vielleicht war ich gerade deshalb nur ungern gewillt über all das zu sprechen und zuzugeben wer ich geworden war. Deshalb und weil ich anscheinend schon jetzt nicht mehr bereit war, auf all die Annehmlichkeiten zu verzichten.
Seit mein Vater weg war kreisten tausend Gedanken in meinem Kopf. Noch mehr als vorher, obwohl man doch hätte glauben müssen, dass ich beruhigt wäre. Alles war gut verlaufen und vorläufig würde ich meine Ruhe haben. Der Zweifel nagte an mir. Doch woran ich zweifelte war auch mir nicht wirklich eindeutig. Es gab wohl kaum einen Grund daran zu zweifeln, dass Benjamin mich liebte. Er zeigte es mir und das nicht nur dadurch, dass er mir jeden Wusch von den Augen ablas. Ben war wirklich ein toller Kerl, Wenn er auch eher der überlegte und besonnene Typ Mann war, so fehlte es ihm dennoch nicht an Spontanität. Allerdings war so gut wie nichts freches, spitzbübiges, jungenhaftes an ihm. War das überhaupt mein Typ? Und manchmal konnte er schon ein bisschen hochnäsig wirken. Trotz allem mochte mein Vater ihn und auch das war für mich immer ein äußerst wichtiger Indikator gewesen.
Doch mochte er ihn wirklich? Hatte er das vielleicht nur gesagt, nur vorgespielt um mich zu beruhigen? Um mir nicht weh zu tun? Vielleicht wollte er verhindern, dass ich die letzten zwei Jahre meines Lebens, die zwei Jahre an der Seite von Benjamin, als verschwendet betrachtete. Da war der Zweifel wieder und er nagte unaufhörlich an mir, während ich aus dem Fenster auf die Straße unter den Linden blickte.
„Was geht dir durch den Kopf, Süße?“ Benjamin stand plötzlich genau hinter mir und legte die Arme um meine Taille.
Tief in Gedanken und meilenweit weg hatte ich beinahe vergessen, dass er ja auch noch im Zimmer war. „Alles mögliche!“ gab ich zurück. So hatte ich wenigstens nicht gelogen.
„So so…“ schnaubte er. „Großstadt-Depressionen?“ er lachte.
Und auch ich musste lächeln. Irgendwie schaffte er es doch immer, dass meine Laune schlagartig besser wurde.
„Vielleicht… ja…auf jeden Fall gefällt mir das Wort, Ben!“
Er lachte wieder. „Aber Katrin, nur weil dir das Wort so gut gefällt heißt das doch noch lange nicht, dass du auch an der Krankheit leiden musst.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Das überlass doch lieber anderen, ich fühle mich weitaus wohler, wenn du es nur beobachtest.“
„O.K“ seufzte ich.
„Wieso kann ich dir bloß nicht glauben?“ fragte er ironisch und ging zurück zum Bett.
„Weiß ich nicht…“ ich drehte mich zu ihm um. Vielleicht hast du zu wenig Vertrauen!?“
„Wohl kaum.“ Plötzlich klang er ernster. „Es liegt wohl eher daran, dass du nicht sehr überzeugend bist, meine Liebe!“
Benjamin nannte mich nur seine Liebe, wenn er in irgendeiner Weise aufgebracht war, aber nicht gleich einen Streit vom Zaun brechen wollte. Ich war gewarnt, ob er irgend etwas gemerkt hatte?
Ich antwortete nicht.
„Na gut, wenn du nicht reden willst, dann mach ich das eben!“ Er zog sich seine Schuhe an.
„Gehen wir irgendwo hin?“ fragte ich unschuldig.
„Du hattest deine Chance, jetzt bin erst Mal ich dran mit Fragen-Stellen.“ Nun band er sorgfältig auch den zweiten Schuh zu ohne zu mir aufzublicken. „Was ist los mit dir?“
„Nichts!“
„Du lügst mich in letzter Zeit ziemlich oft an.“ Bemerkte er ruhig. „Das wird zu einer unangenehmen Angewohnheit!“
Ich schnappte nach Luft. Das konnte ja was geben.
„Ach, du willst mir gar nicht widersprechen?“ Jetzt war er verärgert. „Schlimm genug, dass du dich vor deinem Vater für mich geschämt hast. Ich dachte ja ich hätte dir bewiesen, dass das unnötig war. Oder etwa nicht?“
Er ließ mir keine Zeit zu antworten.
„Jetzt verheimlichst du mir schon wieder irgendetwas.“ Benjamin stand auf. „ Ich würde dir ja gerne helfen, aber du sabotierst mich, wo immer du nur kannst.“ Er machte eine kleine Pause und sah mich eindringlich an. „Du enthältst mir anscheinend wichtige Informationen absichtlich vor und schließt mich aus. Das ist doch keine Beziehung.“
„Was soll das heißen?“ unterbrach ich ihn trotzig.
„Das war bloß eine Feststellung; Katrin!“ Er stand immer noch wie angewurzelt da und sah mich an, als käme ich von einem anderen Stern. „Kannst oder willst du mich nicht verstehen? Oder ist es etwa eine Mischung aus beidem?“
„So ist es nicht.“ Begann ich nun mich zaghaft zu verteidigen.
„Wie ist es dann?“
„Ich weiß es nicht!“
„Du solltest es aber wissen, schließlich denkst du ja andauernd darüber nach!“ fuhr er mich an.
„Woher willst du eigentlich wissen, worüber ich nachdenke?“ langsam wurde ich auch wütend.
„Genau das ist der Punkt!“ Warf Benjamin zurück und seine eben noch so dunkle Miene hatte sich aufgehellt. Er schien äußerst zufrieden, dass ich ihm diesen ball gerade zu serviert hatte. „Ich weiß es eben nicht!“
Ich war zu verärgert über mich selbst und die Tatsache ihm Munition gegeben zu haben, als dass ich zu einer vernünftigen Antwort im Stande gewesen wäre.
„Und willst du wissen, warum ich es nicht weiß?“ Jeder andere wäre bei so viel „weiß“ und „wissen“ durcheinander gekommen. „Weil du es mir nicht sagst!“ Benjamin triumphierte. „Und nicht etwa, weil ich s ein unsensibler Klotz bin und es nicht bemerke!“
„ich hab nie behauptet du seist unsensibel!“
„Das scheint dir aber lieber zu sein. Doch da bist du bei mir an der falschen Adresse. Du bist meine Freundin, also habe ich auch Interesse an deinen Gedanken.“
„Soll das jetzt heißen, ich darf gar keine Privatsphäre mehr haben?“ Wie sollte ich da bloß wieder herauskommen? Es schien mir das Beste zu sein den Streit weiter anzuheizen. Vielleicht käme dann eins zum anderen und er würde das eigentliche Thema vergessen…
„Du willst mich wirklich nicht verstehen.“ Benjamin war jetzt außer sich. „Irgendwas stimmt nicht mit dir und du weigerst dich standhaft mir zu sagen was es ist.“
Er hatte ein Talent die Situation treffend zusammen zufassen, dass musste ich ihm lassen. Dieser Gedanke brachte mich zum schmunzeln, was ich jedoch sofort wieder bereute.
„Du findest das wohl witzig! Na ich nicht.“
„Ben, es ….“
„Jetzt versuch gar nicht erst dich da raus zureden.“
„Tu ich ja gar nicht!“
„Hat es mit mir zu tun?“
Da war sie also. Die Frage vor der ich zu fliehen versucht hatte. Sie hatte mich eingeholt. Und nun stand sie im Raum, genau zwischen uns und jede Sekunde in der sie unbeantwortet blieb wuchs sie an zu einem immer unüberwindbareren Hindernis.
„Hat es was mit mir zu tun?“ wiederholte Benjamin. Diesmal etwas lauter.
„Ich habe bloß über etwas nachgedacht, was mein Vater gesagt hat.“ Stimmte ja irgendwie. Mein Vater hatte etwas damit zu tun. „das geht mir halt nicht mehr aus dem Kopf.“
„Und das beunruhigt dich so sehr?“ Jetzt hatte ich ihn letztendlich doch noch aus dem Konzept gebracht.
„Ja.“ Gab ich kleinlaut zurück. „Wenn ich ganz ehrlich bin, JA!“
„Und wieso zum Kuckkuck kannst du das nicht gleich sagen? Musst du denn immer erst streiten?“ Immer noch schien Benjamin nicht zu verstehen. Wie denn auch, wenn ich wieder nichts genaues sagte.
„Nein, nein….“
„Das ist aber eine ziemlich spärliche Antwort.“ Ben schien nachzudenken. „Hast du nicht versucht gestern am Telefon noch mal mit ihm zu reden?“
„So richtig hat das wohl nicht funktioniert…“
„Dann fahr hin!“
„Wie bitte?“ Jetzt war ich an der Reihe wirklich verwirrt zu sein.
„Fahr zu ihm. Persönlich lassen sich solche Dinge oft viel besser klären.“ Benjamin lächelte mich ermunternd an.
Indirekt war das genau was ich gewollt hatte. Aber ob es sich dabei auch um eine so gute Idee handelte wusste ich nicht. Doch es gab wohl kaum eine Möglichkeit da wieder raus zukommen, die nicht auch beinhaltete ihm zu sagen, dass meine Zweifel eher uns beide betrafen. Das konnte ich einfach nicht. Es war zu schwer gewesen mir das selbst einzugestehen, dies bei ihm zu tun war ein Ding der Unmöglichkeit.
„Ich kann leider nicht mitkommen, aber du kommst ja auch ganz gut alleine zurecht, oder?“
„Klar, Ben!“ ich war wirklich erleichtert. „Aber sicher doch!“
„Dann bestell deinem Vater viele Grüße von mir!“
„Wie? Ich soll jetzt gleich fahren?“
„Ich halte es für das Beste! Ich kenn dich doch.“ Er nahm meine Hand. „Du schiebst wichtige Dinge einfach zu gerne vor dir her. So ganz selbstlos bin ich aber nicht. Ich möchte schließlich, dass du möglichst schnell wieder die Alte bist!“
„Na gut.“ Eigentlich brauchte ich gar nicht lange überredet zu werden. „Ich ruf dich dann an, wenn ich da bin!“
Benjamin schien zufrieden. Verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Ich packte schnell das Nötigste zusammen und machte mich ebenfalls auf den Weg. Endlich nach Hause.
Ich stieg in den Wagen und verriegelte die Türen von innen. Endlich allein. Und dennoch brachte mich diese Stille fast um. Alles um mich herum war mucksmäuschenstill, nur diese Stimmen in meinem Kopf wollten einfach keine Ruhe geben. War das, was ich getan hatte richtig gewesen?
Ich startete den Motor und fuhr los, hatte jedoch nicht die geringste Ahnung wohin eigentlich. Unaufhörlich strömten ganze Bäche von Tränen meine Wangen herab. Dabei war ich doch eigentlich gar nicht der Typ Mensch, der so nah am Wasser gebaut hatte.
Ich konnte sein Gesicht einfach nicht vergessen. Wie Benjamin verloren da stand und mich auf diese völlig fassungslose Art anstarrte. Diese Bild verfolgte mich. Mir wurde klar, dass auch eine Flucht daran nicht viel ändern würde. Und dennoch musste ich weg. So schnell wie möglich.
Instinktiv steuerte ich das Auto, ohne genau zu wissen, wo es mich hinführen würde. Wie konntest du ihm das nur antun? Hast du ihn denn gar nicht geliebt, Katrin?
Doch...ja...irgendwie....schon...ja doch....eigentlich schon...ja... Nichts war klar in meinem Kopf und auch die zeit änderte daran reichlich wenig. Sie steigerte bloß den ohnehin schon hohen Grad meiner Verzweiflung. Je mehr Zeit verstrich, desto hoffnungsloser erschien mir meine eigene Situation.
Ich war alleine! Wer sollte mich verstehen?
Ich musste Stunden gefahren sein. Ohne eine Pause. Zum Glück haben moderne Autos größere Tanks und geringeren Verbrauch. Das war seit einer Ewigkeit, wie es mir vor kam, der erste zusammenhängende Gedanke. Er machte mir Hoffnung, so sinnfrei er auch war.
Der wagen kam zum Stehen. Oder ich hielt ihn an. Aber was macht das schon für einen Unterschied?
Als ich sah, wo ich war, stockte mir der Atem. Obwohl ich der festen Meinung war, ich hätte alle möglichen Tränen vergossen, begann ich wieder zu heulen.
Ich war dort, wo alles begonnen hatte. Zuhause, in meiner Heimatstadt. Und mehr noch. Mein Weg hatte mich wieder zu jenem schicksalhaften Ort geführt. Mein Wagen stand direkt vor dem Freibad.
Ich brauchte frische Luft und so torkelte ich über die Wiese auf das verschlossene Tor zu. Alles dunkel. Die letzten Besucher mussten vor Stunden gegangen sein. Ich wusste nicht ein Mal, wie viel Uhr es war. Ich sank zu Boden und vergrub meinen Kopf in den Händen.
Es ist mir nicht möglich genau zu sagen, wie lange ich dort saß und weinte. Und noch weniger weiß ich, wem oder was meine Tränen galten. Beweinte ich mich und meine Einsamkeit? Wäre dies angesichts sehr Situation nicht sehr vermessen und äußerst egoistisch. War es vielleicht die Anspannung, die nach den letzten Tagen von mir abfiel? Trat da die Angst aus meinen Poren, die gedroht hatte mich innerlich zu zerfressen? Angst vor der Zukunft, vor dem, was die Leute, meine Familie sagen würden...
Mit Sicherheit weinte ich wegen Benjamin. Es tat mir weh, ihn so verletzt zu haben. Es tat mir leid, dass es mit uns nicht geklappt hatte. Und es schockierte mich, dass in dieser Sache tatsächlich nur schwarz und weiß zu existieren schienen. Es schmerzte ein Klumpen, tief in meinem Bauch, der mich daran erinnerte, wie sehr ich ihn vermissen würde. Wie sehr ich ihn schon jetzt vermisste.
Ich war desillusioniert. Schien Benjamin nun doch nicht mein Schicksal zu sein. Und doch vergoss ich nicht eine Träne der Reue. Ich bereute eigentlich keine Minute mit ihm. Ebenso keines meiner Worte.
Hier war mein Platz. Was immer das auch bedeuten mochte.
***
Es war mitten in der Nacht und es regnete. Mit nur einer Pause hatte ich es von Berlin wieder nach Hause, nach NRW geschafft. Ich musste gefahren sein wie eine Wahnsinnige Eigentlich nichts, worauf ich stolz war. Aber ich hatte es eilig. Der Zweifel an allem hatte sich schon in der Hauptstadt tiefer als geglaubt in mich hineingenagt. Während der Heimfahrt war es dann richtig heraus gebrochen. Und je mehr Stunden auf der Autobahn vor sich hin rasten, desto mehr verwirrende Fragen schwirrten auch durch meinen Kopf. So dass er beinahe zu platzen drohte.
Obwohl ich immer irgendwie auch Angst vor einer Rückkehr gehabt hatte, so war ich doch selten so erleichtert gewesen, die Autobahn-Ausfahrt zu erblicken, die mir signalisierte zuhause zu sein.
Es wäre wahrscheinlich vernünftig gewesen meinen Vater von unterwegs zu benachrichtigen, dass ich kam. Doch ob ich es nun vergessen hatte, oder schlichtweg vor mir her geschoben konnte ich beim besten Willen nicht mehr sagen.
Jetzt war es auf jeden Fall zu spät. Ich sah auf die Uhr. 4 Uhr morgens. Eindeutig nicht die Zeit um klärende Gespräche zu führen. Doch ich konnte unmöglich länger warten und so parkte ich den Wagen einige Meter von unserem haus entfernt und kramte den alten Schlüssel aus meiner Tasche. Seltsamerweise befand er sich immer noch an meinem Schlüsselbund. Wie war es möglich, dass mir das nie aufgefallen war? Und wieso hatte ich ihn nie abgemacht, ob wohl ich seit Jahren nicht zuhause gewesen war? Ich sah mich um, bevor ich ihn ins Schlüsselloch steckte. Alles war so seltsam vertraut. Als wäre ich nie wirklich weg gewesen. Wie früher, als ich von einem lustigen Abend mit meinen Freunden in mein eigenes Bett zurückkehrte. Ja mein eigenes Bett! Ob es wohl noch da stand? Ob mein Vater mein Zimmer so belassen hatte? Es wäre ihm wohl kaum übel zu nehmen, wenn er es einem anderen Verwendungszweck zugeführt hätte…
Und meine Freunde. Dass sich da einiges gravierend verändert hatte konnte ich wohl kaum leugnen. Und es ließe sich wohl auch kaum durch einen mickrigen Besuch nach all den Jahren wieder so einfach kitten. Und wenn ich es zugab, so war dies auch der erste Moment seit langem wo ich an sie alle zusammen dachte. Über einzelne Personen hatte ich mir öfter Gedanken gemacht. Man kam im Leben wohl häufig in Situationen, die man mit einer bestimmten Person aus der Vergangenheit in Verbindung brachte. So was wie: „Dieser Club hätte Jelena gefallen!“, oder: „Diesen Pulli hätte Tina bestimmt gerne mal bei mir ausgeliehen!“. Doch die Clique als solche war einfach schon seit so langer Zeit aus meinem Leben verschwunden, dass ich sie mir ungern in Erinnerung rief. Vielleicht auch deshalb, weil ich genau wusste, dass ich selbst daran Schuld war, das sie kein Teil meiner Gegenwart waren.
Unweigerlich erschien das Bild von Franks Gesicht vor meinen Augen. Ich drehte mich um und sah zum Nachbarhaus hinüber. Natürlich brannte bei ihm um diese Zeit kein Licht mehr. Er wohnte immer noch bei seinen Eltern. Wahrscheinlich auch deshalb, weil die, nachdem Franks Vater in Rente gegangen war, die ganze Zeit auf Reisen waren. Seine Mutter hatte sie gearbeitet. Sie war immer Hausfrau, hatte meinem Vater und mir auch häufig unter die Arme gegriffen. Gerade, weil ich mittags häufig bei ihnen war, hatte meine Freundschaft zu Frank überhaupt entstehen und so eng werden können. Es kam drauf an, wie sich die Geschichte hier entwickelte, aber ich nahm mir vor mir morgen wenigstens fünf Minuten zu suchen, in denen ich mal zu ihm rüber ging. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich es vermisste hatte auch mal sein Gesicht zu sehen. Nicht immer nur seine Stimme zu hören.
Ich drehte endlich den Schlüssel um, öffnete die Tür und trat ein. Das ganze haus war still und dunkel. Absolut ruhig und friedlich und bei dem Gedanken, dass dies nicht mehr mein zuhause war, dass ich es wieder verlassen müsste, dass ich hier genau genommen nur ein Gast war zog sich mir
das Herz zusammen.
Ich schlich leise durch den Flur und betrat die Küche. Hier könnte ich mich wohl kurz niederlassen und ausruhen ohne mir Sorgen machen zu müssen, dass ich zu laut war. Das Schlafzimmer meines Vaters lag auf der anderen Seite des Hauses eine Etage höher. Zumindest hatte es da gelegen, als ich noch hier wohnte. In meinem Hals bildete sich ein Klos. Bisher hatte ich mich nicht mal getraut Licht anzumachen. Zu sehr schreckte mich die Möglichkeit der völligen Veränderung dieses Hauses. Was, wenn wirklich nichts mehr so war, wie ich es gekannt hatte. Mein altes Zimmer befand sich genau über mir. Ich blickte hinauf an die Decke. Zumindest die Lampe in der Küche war noch die selbe, auch wenn die alte Glühbirne mittlerweile durch eine moderne Sparleuchte ersetzt worden war. Ich musste Lächeln. Wenn ich nicht hoch ging würde ich es niemals erfahren. Außerdem war ich müde.
Die Neugier und auch die Anstrengung der Fahrt und die daraus resultierende Müdigkeit, besiegten die nagende, ungewisse Angst über das was mich erwartete. So schlimm konnte es schon nicht sein. Und wenn tatsächlich nichts bettähnliches mehr dort oben war, konnte ich immer noch wieder runter kommen und auf der Couch schlafen.
Als ich mein Zimmer gerade betreten wollte, hörte ich ein Geräusch. Ich erschrak und war kurz davor aufzuschreien, als mich eine Hand sanft an der Schulter packte. Doch dazu blieb mir gar nicht die Gelegenheit, als ich seine Stimme hört.
„Was machst du denn hier Mädchen?“ mein Vater klang müde und überrascht, aber dennoch erfreut. „Und noch dazu mitten in der Nacht!“
„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken, Papa!“ ich drehte mich um und fiel ihm um den Hals.
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen.“ Er lachte. „Wenn ich an früher denke, dann muss ich zugeben, dass du jetzt erheblich leiser geworden bist. Auch wenn du immer noch keine Einbrecherqualitäten hast!“
„Vielleicht ist den Gehör auch einfach zu gut.“ Gab ich zurück und schaltete das Licht im Flur an.
„Das glaube ich kaum. Schließlich bin ich auch nicht jünger geworden!“
Wie konnte er so was nur sagen? Man sah im sein Alter nun wirklich nicht an, außerdem war fünfzig in der heutigen Gesellschaft doch gerade mal die Hälfte des Lebens.
„Du hast meine Frage aber noch nicht beantwortet, Katrin! Was machst du mitten in der Nacht hier?“
„Ich musste mit dir reden!“ gab ich kurz und knapp zurück. Erst jetzt wurde mir richtig bewusste, wie bescheuert es gewesen war, so ohne Anmeldung früh morgens hier aufzutauchen.
„Ich bin doch gerade erst aus Berlin zurück.“ Er lächelte mich an. So wie nur ein Vater seine Tochter anlächeln kann, wenn er nichts versteht wieso sie gewisse Dinge tut, sie aber ungern für verrückt erklären möchte. „Was hast du denn so wichtiges vergessen, das man nicht am Telefon hätte besprechen können und das vor allem keinen Aufschub bis Sonnenaufgang duldete?“
„Es tut mir wirklich leid!“ Plötzlich war ich ganz kleinlaut. „Ich hätte vorher anrufen sollen. Und ich hätte auch bis morgen warten müssen, anstatt hier so unangemeldet aufzutauchen.“
„Jetzt mach aber mal halblang!“ Mein Vater klang plötzlich fast verärgert. „Du musst doch nicht vorher anrufen! Du bist doch meine Tochter! Das hier ist schließlich auch dein zuhause!“
„Danke, Papa!“
„Ich hoffe bloß du hast einen Schlüssel benutzt und bist nicht irgendwie eingestiegen.“
„Was denkst du denn von mir?“ ich verzog mein Gesicht und verschränkte die Arme gespielt beleidigt vor der Brust.
„Ich wollte nur sichergehen, dass die Polizei nicht auch noch hier auftaucht.“ Er hielt kurz inne. „Du bist doch nicht auf der Flucht vor der Polizei?“ scherzte er dann.
„Sehr witzig, Papa!“
„Na gut, dann lass uns mal runter gehen. Dann können wir uns einen Tee machen, wenn du mir endlich enthüllst, was du so wichtiges mit mir besprechen musst!“ Obwohl er dies durchaus ironisch formuliert hatte, so klang doch echtes Interesse durch. So war er eben, meine Papa!
„Also…“ fing mein Vater an und rückte sich einen Stuhl in der Küche zurecht. „…was hast du denn so wichtiges mit mir zu besprechen, dass es nicht bis morgen warten konnte?“
Mittlerweile kam ich mir ganz schön blöd vor. Ich war über 600 Kilometer gefahren, hatte ihn mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen, nur weil ich mal wieder mit meiner eigenen Unsicherheit überfordert war. Die meisten Menschen würde wahrscheinlich lachen, wenn sie hören würden, dass ich von Unsicherheit und Selbstzweifeln zerfressen war. Die Mehrzahl derer, die mich kannten hielten mich für einen starken, selbstbewussten Menschen. Wie man andere doch täuschen kann. Ich hingegen hatte nicht nur andere, sondern auch mich selbst immer wieder getäuscht. Dadurch, dass ich dachte, ich käme mit allem alleine klar. Dadurch, dass ich viele Dinge einfach für mich behielt. Das Wort verheimlichen mochte ich nicht, aber in vielerlei Hinsicht traf es wohl auch vollkommen zu. Wichtiges, gerade was meine Gedanken und Gefühle betraf verheimlichte ich für gewöhnlich. Sogar vor den Menschen, die mir wirklich wichtig waren. Vor Benjamin, erst recht vor Frank und sogar vor meinem Vater. Schon allein deshalb wäre ich am liebsten im Boden versunken, aber jetzt gab es wohl kein Zurück mehr. „Es geht um Benjamin!“ begann ich leise.
„Hat er dir etwas getan!“ fragte mein Vater und war sofort hellwach und von seinem Sitz aufgesprungen.
„Nein! Um Gottes Willen!“ ich war schockiert. „Natürlich nicht!“
„Was ist es dann?“ Jetzt schein er noch verwirrter als vorher.
„Wie kommst du nur auf so einen Gedanken?“
„Ich weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du kreuzt mitten in der Nacht hier auf, wirkst doch reichlich durcheinander und willst nicht raus mit der Sprache…“
„Hat er denn so einen Eindruck auf dich gemacht, Papa?“ ich merkte gar nicht, dass ich mich da wieder in etwas verrannte und vom Thema abkam.
„Nein eigentlich nicht.“ Mein Vater sah mich von der Seite an und stippte fahrig mit seinem Teebeutel in der Tasse herum. „ich habe dir aber doch schon in Berlin gesagt, dass er ein netter Kerl ist. Das dachte ich zumindest bis gerade.“
„Er ist ein netter Kerl!“ gab ich zurück und sah auf meine durchnässten Schuhe. Erst jetzt merkte ich, dass ich unter mir eine kleine Pfütze hinterlassen hatte. Und mit den nassen Schuhen war ich auch noch durch das ganze Haus gelaufen. Was für eine Schweinerei. Ich stand auf und begann denn Fleck vom Boden aufzuwischen.
„Katrin, was machst du denn da?“
„Ich mach das hier sauber. Wenn das erstmal angetrocknet ist bekommen wir es gar nicht mehr weg!“
„Wenn ich will, dass die Küche sauber wird, ruf ich eine Putzfrau.“ Langsam merkte man meinem Vater an, dass er genervt war.
„Hast du denn keine?“ fragte ich plötzlich ganz in Sorge um ihn. Über all diese Sachen hatte ich mir bei meinem Weggang gar keine Gedanken gemacht. Ich sah mich um stellte aber zu meiner Zufriedenheit fest, dass er ganz gut zurecht zukommen schien. Zumindest konnte ich nirgendwo größeren Menge an Müll oder leeren Pizzakarton entdecken.
„Du lenkst wieder ab.“ Vaters Geduld schien nun am Ende zu sein. „Das kenne ich ja von dir. Aber mitten in der Nacht habe ich wirklich nicht den Nerv dafür. Du wolltest mit mir reden? Hier bin ich, also raus mit der Sprache!“
„Magst du Benjamin wirklich?“
„Das habe ich dir doch gesagt!“
„Ja schon, Papa! Aber ich war mir halt nicht sicher, wieso du das gesagt hast.“
„Weil du mich danach gefragt hast!“ Jetzt musste er lachen.
Mir hingegen war eher nach weinen zu Mute. In was hatte ich mich da wieder reingesteigert? „Das kann man jetzt auf zwei Weisen verstehen.“
„Katrin, mach bitte mal halblang!“ Er stellte seinen Tee ab, der mittlerweile schon völlig kalt sein musste. „Ich hab dir die Wahrheit gesagt, wenn es das ist, was du meinst. Dein Benjamin schien mir wirklich ein anständiger junger Mann zu sein.“ So sprach er sonst nie. Mein Auftritt schien ihn vorsichtig gemacht zu haben, so dass er genau auf die Formulierung achtete. Hauptsache keine weiteren Missverständnisse mehr.
Mein Vater hatte recht, was machte ich eigentlich hier? All das hatte er mir schon mal gesagt und wenn ich es noch mal hören wollte, hätte es auch gereicht, ihn einfach nur anzurufen. Mein Vater hatte mich doch noch nie angelogen, das hatte er nie nötig. Er konnte mir immer offen die Wahrheit ins Gesicht sagen und irgendwie erwartete ich genau das von ihm. Selbst dann wenn es weh tat. Aber diesmal tat es nicht weh. Es war genau die gleiche Wahrheit, die ich schon in Berlin zu hören bekommen hatte und ich beschloss, mir genau das auf ein band zu sprechen. Nur falls ich mal wieder auf die Idee kam mitten in der Nacht 600 Kilometer zu fahren nur um so ein unsinniges Gespräch zu führen. Es gab wirklich tausend besser Gründe meinen Vater zu besuchen und auch das wollte ich mir hinter die Ohren schreiben.
Mein Vater mochte Benjamin wirklich. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, wie dumm ich doch war. Es gab wohl nicht viele Männer wie Benjamin. Er las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Was ich immer brauchte, ich hatte es meist schon, bevor ich überhaupt danach fragen konnte. Von ihm hatte ich immer in jeder Hinsicht genau das bekommen, was ich brauchte. Eigentlich stellte Benjamin fast immer selbst hinten an. Noch dazu stellte er niemals irgendwelche Fragen. Das bewies diese Aktion hier ja ganz deutlich. Er vertraute mir blind.
Manchmal wunderte ich mich wie schnell ich doch die guten Dinge vergessen oder verdrängen konnte, sobald der Alltag eintrat. Natürlich hatte ich Stress wegen dem Studium. Und natürlich war es auch nicht immer ganz einfach den ganzen Tag auf einem Zimmer zusammen zuhängen. Es war weitaus einfacher etwas Störendes an dem anderen zu finden, als sich nicht auf die Nerven zu gehen. Aber dabei hatte ich wohl vergessen, dass ich nicht einen Pfennig bezahlte und dennoch jeden Komfort genoss, den man sich nur wünschen konnte. Wahrscheinlich hatte ich es nicht mal für nötig gehalten mich zu bedanken. Benjamin war schon ein ganz besonderer Kerl.
Das hatte ja sogar ich sofort bemerkt. Das war schließlich das erste und einzige Mal, dass es auf den ersten Blick so richtig um mich geschehen war. Nicht nur, dass ich ihn sympatisch fand, ich war schließlich regelrecht hin und weg. Nie zuvor hatte ich daran geglaubt, dass man tatsächlich auf Anhieb derart Schmetterlinge im Bauch haben konnte. Ich hatte immer gedacht, dies sei auch bloß eine Erfindung Hollywoods, damit all ihre Geschichten noch märchenhafter klangen. Mit Benjamin hatte ich dieses Märchen. Die Augenblicke mit ihm waren eigentlich immer durch und durch perfekt gewesen, obwohl sie beide, gerade früher eigentlich gar nicht die Gelegenheit gehabt hatten sie zu planen. Schließlich handelte es sich immer um völlig zufällige Begegnungen.
Wie konnte ich es mir bei einem solchen Leben nur anmaßen zu meckern? Nur, weil es vielleicht gerade normales Niveau bei uns hatte und eben kein Märchen aus der Traumfabrik war. Andere Paare hatten richtige Probleme.
Plötzlich unterbrach mein Vater meine Gedanken und ich landete wieder in der harten Realität. „Wie konntest du nur denken, dass ich ihn nicht mag? Und wenn dann hätte ich es dir doch auf jeden Fall ohne Umschweife gesagt.“ Er machte eine kurze Pause und strich mir über den Kopf. „Kalla mochte ich doch auch! Es gab doch noch nie jemanden, den du mochtest, den ich nicht auch hätte mögen können…“
Ich war zu geschockt um zu antworten. Kalla!
„Kalla war doch auch wie ein Sohn für mich. Du musst mir und Benjamin nur etwas mehr Zeit geben, wir haben uns ja gerade erst kennen gelernt! Und außerdem wohnt ihr ja auch ziemlich weit weg, da ist ja schon eine räumliche Distanz.“
Jetzt wusste ich, wie es sich wohl anfühlte, wenn einem das Herz stehen blieb. Kalla! An ihn hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Oder vielleicht doch? Bewusst wohl kaum. Nach seinem äußerst unangenehmen Abgang hatte ich ihn aus meinem Leben verdrängt und die Erinnerung an ihn fest weggeschlossen. Schließlich wusste ich ja, dass er im Grunde genommen mit allem Recht gehabt hatte. Ich war Schuld und das war auch nicht wieder gut zu machen. Vielleicht hatte ich ihn auch deswegen nicht anrufen können. Natürlich hatte es schon vorher irgendwie nicht mehr zwischen uns gestimmt, aber das gab mir wohl kaum das recht ihm auf so brutale Weise das Herz zu brechen. War er, war das zwischen uns, mir denn nie etwas wert gewesen? Das ganze hatte ein würdigeres Ende verdient. Und das wusste ich nur zu genau. Damals wie heute. Ich hatte es also nicht besser verdient. Doch eine Entschuldigung von mir stand immer noch aus. Irgendwann würde ich das nachholen müssen, und je länger wartete, desto schwieriger würde das werden. Ich musste Kalla noch einmal sehen und ich musste einen sauberen Schlussstrich ziehen.
Für eine Zukunft mit Benjamin musste meine Vergangenheit ein für alle Mal abgeschlossen sein.
Als ich das erste Mal an diesem Morgen nach meinem Kakao griff war er natürlich schon kalt. Dabei wurde mir auch klar, dass es bereits hell war. Ich stand auf und wollte das Zimmer verlassen. Nachdem ich mich frisch gemacht hatte und mich etwas von der Fahrt und der anstrengenden Nacht erholt hatte, musste ich dringend einige Sachen in meinem Leben regeln.
„Wohin willst du denn jetzt?“ fragte mein Vater, immer noch etwas müde.
„Ich muss noch etwas erledigen, ich muss noch mit jemand anderem reden, wo ich schon Mal da bin.“ Ich lächelte ihn an. Das war mein Vater. Ihm konnte ich alles sagen, Er hatte mir oft genug bewiesen, dass ich ihm vertrauen konnte, schließlich unterbrach er sogar seinen wohlverdienten Schlaf um mit mir irgendwelche sinnlosen Dinge durchzukauen. „Ich muss noch Mal mit Kalla reden! Ich habe dir ja nie ganau erzählt, wieso es zwischen uns nicht geklappt hat, aber ich muss wirklich noch Mal mit ihm reden. Das ist wichtig!“
„Da muss ich dich enttäuschen!“ ich wusste nicht, wie ich den Ausdruck im Gesicht meines Vaters deuten sollte. „ich weiß zwar nicht, ob es eine wirklich gute Idee ist, jetzt einfach so zu ihm zu gehen, aber das wirst du eh verschieben müssen. Er ist nicht in der Stadt.“
„Was?“ Jetzt hatte ich mich endlich dazu durchgerungen und dann musste ich so etwas hören. „Woher weißt du das eigentlich, Papa?“
„Ich rede manchmal mit ihm und er hat es mir halt erzählt!“
„Du redest mit ihm? Wieso?“ Ohne genau zu wissen warum, war ich plötzlich ziemlich aufgebracht. So ließ ich meinem Vater keine Chance zu antworten. „Musst du als mein Vater nicht zu mir halten?“
„das ist ja wohl Unsinn! Du warst doch wohl nicht ganz unschuldig an der Trennung!“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“ Jetzt war ich richtig wütend.
„Im Gegensatz zu dir hat mir Kalla alles erzählt. Ich konnte ihn ja schlecht daran hindern. Mit irgendwem musste der Junge doch reden.“
„Und dann hast du es nicht Mal für nötig gehalten, meine Version der Geschichte anzuhören?“ keifte ich.
„Er redet wenigstens mit mir! Du hältst das ja nicht für nötig. Dabei bist du meine Tochter!“ Jetzt war auch er laut.
„Das ist ja die Höhe! Der hätte dir doch sonst was erzählen können.“
„Hat er aber nicht! Und das weißt du ganz genau, oder? Das ist nicht seine Art!“
Ohne noch einweiteres Wort zu sagen drehte ich mich um und stürmte aus dem Raum. Nie im Leben hatte ich mich so von einem Menschen verraten gefühlt und dann noch von meinem eigenen Vater. Dem wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wäre ich doch bloß in Berlin geblieben. Aber das waren mittlerweile ein paar hätte, wäre, wenn’s, zu viel für einen Tag. Wutentbrannt verließ ich das Haus und stieg sofort wieder ins Auto. Es war zeit nach Hause zu fahren. In all der Aufregung vergaß ich sogar, dass ich eigentlich noch bei Frank hatte vorbeischauen wollen.
Obwohl die Fahrt immer noch weit war und so einige Stunden seit dem aufwühlenden Gespräch mit meinem Vater vergangen waren, kam ich immer noch total verheult in Berlin an. So schnell wie möglich rannte ich auf unser Zimmer. Ich wollte jetzt nur noch allein sein. Es war später Nachmittag uns Benjamin hatte normalerweise noch eine Vorlesung. So hatte ich noch mindestens eine Stunde mich zu beruhigen und wenigstens zu duschen. Ich wollte den Streit mit meinem Vater einfach nur vergessen. Morgen könnte ich ihn dann anrufen und mich entschuldigen. Die Hoffnung, dass er ebenfalls vergessen wollte und so tat, als wäre das nie geschehen, war höchstwahrscheinlich zu viel verlangt. Aber ganz abschreiben wollte ich sie dennoch nicht.
Ich öffnete die Tür und blieb wie erstarrt stehen. Ben war zuhause. Er saß auf dem Bett und starrte mich ebenfalls reichlich verwundert an. Ich bot ja auch einen äußerst seltsamen Anblick. Wäre ich nicht selber völlig durch den Wind gewesen, so wäre mir mit Sicherheit aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte, aber in meinem Selbstmitleid entging mir das leider. So machte ich mir auch nicht weiter Gedanken darüber, dass er eigentlich noch gar nicht hätte zuhause sein sollen.
Ben fragte gar nicht erst, was mit mir nicht stimmte. Er stand auf, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Nach einiger Zeit, die wir so in der Mitte des Zimmers standen brach es einfach aus mir heraus: „Ich habe mich mit meinem Vater gestritten!“
„So was habe ich mir schon gedacht.“ Gab Ben leise zurück.
„Er war so…so habe ich ihn noch nie erlebt…so unfair…“
„Bestimmt hatte er seine Gründe, Katrin. Und mit Sicherheit hat er es nicht so gemeint!“
„Du hättest ihn sehen sollen…“ ich löste mich aus Benjamins Umarmung. „Mit Sicherheit hat er es genauso gemeint.“
„Dann tut es ihm bestimmt schon leid.“
Ich sah Ben verständnislos an. Was redete er denn da? Er kannte meinen Vater doch kaum.
„Er ist doch sonst nicht so.“ Benjamin schluckte und verbesserte sich sogleich. „ich meine, mir erschien dein Vater sehr verständnisvoll.“
„Ist er eigentlich auch!“
„Na siehst du. Das war bestimmt nur ein Missverständnis und gibt sich bald wieder…“
„Das würde ich ja gerne glauben, aber so einfach ist es dies Mal wohl nicht.“
„Mein Gott, das klingt ja, als wolltest du gar nicht, dass ihr die sache ausbügelt.“
„Das habe ich nicht gesagt, Benjamin.“ Ich sah ihn verwundert an. „Ich meinte bloß, dass es nicht so einfach ist. Um ganz ehrlich zu sein, so war es der erste richtige Streit zwischen mir und meinem Vater!“
„Spricht denn nicht gerade das auch dafür, dass es so schlimm gar nicht sein kann? Streit kommt in den besten Familien vor. Man kann nicht immer einer Meinung sein. Das geht nicht!“
„Du verstehst nicht! Das war keine einfache Meinungsverschiedenheit. Er hat mich wirklich enttäuscht. Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater so schlecht von mir denkt!“
„Wie soll ich dich denn verstehen? Du hast mir ja nicht Mal gesagt, worum es bei eurem Streit eigentlich ging. Trotzdem denke ich, dass was immer auch der Grund war, er nicht gewichtig genug sein kann, als dass du deswegen mit deinem Vater brichst.“
„Das habe ich doch auch so nie gesagt…“ Was war bloß los mit meinem Freund? So redete er doch sonst nicht. Man hätte meinen sollen, dass er mein Problem nachvollziehen kann. „Aber was wenn er mit mir bricht?“
„Du bist seine Tochter, das wird er nicht!“
„Das klingt ja, als wärst du ein Experte für Vater-Tochter-Beziehungen…“ ich schüttelte verärgert den Kopf. Irgendwie hatte ich mir mehr Unterstützung von ihm erwartet. Aber das war ja nicht das erste mal heute, dass ich diesbezüglich enttäuscht wurde. „Vielleicht stimmte es ja schon lange nicht mehr zwischen uns beiden.“
„Willst du jetzt auch noch mit mir Streit anfangen? Langsam kommt es mir so vor, als könnte euer Problem durchaus an dir liegen.“
„Was?“ ich war außer mir. „Spinnst du jetzt? Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“
„Auf deiner natürlich, Katrin.“ Ben war immer noch ganz ruhig. „Genau deswegen finde ich ja, dass du dich so schnell wie möglich mit deinem Vater versöhnen solltest. Ruf ihn doch einfach an.“
„Ich denke viel mehr, dass er sich entschuldigen müsste!“
„Du bist vielleicht ein Sturkopf, Mädchen.“ Gab er leise zurück. „Ist dir denn gar nicht mehr zu helfen?“
„Du versuchst es ja gar nicht?“ schrie ich ihm wütend entgegen. „Du willst mir nicht helfen! Du willst mich auch nicht verstehen.“
„das stimmt nicht und wenn du mal fünf Minuten von deinem Hohen Ross runter kommen würdest, würde dir das auch auffallen.“
Seine ruhige und beherrschte Art machte mich langsam rasend. Was sollte das. Benjamin behandelte mich wie eine Irre, mit der man nur ganz ruhig sprechen darf, sonst rastet sie aus und geht einem an die Gurgel. Bei mir hatte dieses Verhalten allerdings eine völlig andere Wirkung.
„Ach, ich bin also arrogant? Wer spielt sich denn hier als allwissend auf?“ Ich schubste ihn in Richtung Bett. „Du tust doch so, als wüsstest du genau, wie man eine gute Beziehung zu seinem Vater pflegt. Von dir würde ich diesbezüglich nicht Mal dann Ratschläge annehmen, wenn du der letzte Mensch auf der Welt wärst.“ Sofort nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, erschrak ich über mich selbst. Sonst war ich doch nicht so gemein und verletzend.
Benjamin jedoch ließ sich auch jetzt nicht reizen. „Eben gerade weil ich immer Probleme hatte hör auf mich. Sorg dafür, dass ihr euch wieder vertragt, so lange du noch die Chance dazu hast!“
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Schon vor einigen Minuten hätte ich lieber anfangen sollen die Klappe zu halten.
„Du bereust es sonst dein Leben lang. Warte nicht, bis es zu spät ist!“
Plötzlich traf es mich wie ein Blitz! Nicht nur, dass er recht hatte. Mir wurde auch klar, wie wenig ich ihn doch eigentlich kannte. Benjamin überraschte mich immer wieder. Er war zwar normalerweise ein spontaner und auch mal emotionaler Mensch, aber immer nur in einem engen Rahmen. Er handelte immer überlegt. So wie heute hatte ich ihn aber noch nie erlebt. Selbst er hatte normalerweise seine Grenzen und ließ sich nicht alles gefallen. Wieso war ihm diese Sache bloß so wichtig?
„Du hast recht, Ben! Es tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen, aber vor morgen schaffe ich es nicht mit ihm zu reden.“
Benjamin antwortete nicht mehr. Anscheinend hatte ich ihn doch härter getroffen, als es zunächst aus sah.
„Vielleicht solltest du auch Mal mit deinem Vater reden!“ ich weiß überhaupt nicht, wie genau ich darauf gekommen war. Aber Benjamin sah so traurig aus und er setzte sich so sehr dafür ein, dass ich mich mit meinem Vater versöhnte. Da erkannte ein Blinder, dass er den eigenen Vater vermisste. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie sehr das gute Verhältnis zu meinem ihn belastet haben musste.
Benjamin schwieg und sah auf seine Füße.
„Wir können das ja zusammen machen, Ben! Natürlich erst, nachdem ich die Sache mit meinem Vater geregelt habe. Du bist ja auch immer für mich da.“
Immer noch schien er nichts zu sagen zu haben.
„Wir haben sowieso immer nur über mich geredet. Tut mir leid, dass ich immer so egoistisch bin. Ich werde mich besser,!“
„Katrin, mein Vater ist gestorben!“
Dass ich geschockt war hätte es wohl kaum getroffen. Ich konnte nichts sagen. Ich wusste einfach nicht was. Aber zum Glück war das auch nicht nötig. Benjamin sank in sich zusammen und legte seinen Kopf in meinen Schoß.
Ich kann nicht sagen, wie lange wir beide so da saßen. Ich strich ihm über die Haare und versuchte ihn so gut es ging dadurch zu trösten, dass ich einfach nur da war. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, so hätte das wahrscheinlich nur einen geringen Trost darstellen können. Aber Benjamin war eben schon immer anders gewesen. Anders als alle Menschen, die ich kannte. Er war eigentlich nie nachtragend. Es hatte auch noch nichts gegeben, was er mir nicht verziehen hätte.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen fragte ich mich auch immer wieder, wieso so etwas ausgerechnet einem wie ihm passieren musste. Reichte es nicht, dass er von seinem Vater ein mal verlassen worden war? Musste er das noch ein zweites Mal durch machen? Aber eine Sache war dieses Mal definitiv anders. Jetzt hatte er mich. Er war nicht alleine, auch wenn ich in letzter Zeit nicht gerade mustergültig für ihn da war, Das sollte sich ändern.
„Es ist schon ein paar Tage her!“ seine Stimme klang belegt.
„Es tut mir so leid…“ gab ich ihm leise zu verstehen und nahm seine Hand.
Er schien zu ignorieren was ich gesagt hatte. „Meine Stiefmutter hat mir heute erst bescheid gesagt…“
Ich hatte Angst, dass alles was ich sagen könnte jetzt falsch wäre. Aber ich war auch überrascht, denn dass er überhaupt eine Stiefmutter hatte war mir neu. Selbst seine richtige Mutter hatte ich ja nie kennen gelernt. Mir wurde klar, dass ich vielleicht nicht die einzige war, die hin und wieder etwas für sich behielt. „Du hast…das wusste ich gar nicht!“ Wahrscheinlich die denkbar ungünstigste Antwort, doch zum Glück schien ihn das nicht weiter zu stören.
„Wahrscheinlich hätte sie mir überhaupt nichts gesagt, wenn nicht…“ er stockte.
„Wenn nicht…“ Das war mein kläglicher Versuch ihn dazu zu bringen seinen Satz zu beenden.
„Es tut mir so leid…“ er wirkte verwirrt.
„Was tut dir leid? Dir muss doch jetzt nichts leid tun!“ ich wusste beim besten Willen nicht wovon er sprach.
„Sie hat mir nur bescheid gesagt, weil morgen die Testamentseröffnung ist. Da muss ich wohl dabei sein.“ Ben gab ein verächtliches Geräusch von sich. „Anscheinend macht sie jetzt einen auf mitfühlend und ruft persönlich an. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass sonst alle denken sie hätte nicht verdient, was sie erbt…“ er lachte. Ich fand jedoch, dass sein lachen äußerst gruselig klang.
„Willst du denn überhaupt da hin gehen? Ich denke nicht, dass die dich dazu zwingen können!“
„Das musst du dir mal vorstellen…“ er tat wieder als hätte ich gar nichts gesagt. Anscheinend war es ihm in dieser Situation zu anstrengend sich auch noch mit mir auseinander setzen zu müssen. Das war wohl mehr als verständlich und so beschloss ich, dass er sich einfach alles von der Seele reden sollte. Ich sagte bloß hin und wieder irgendetwas, damit er wusste, dass ich noch zuhöre. „Wie in einem Atemzug sagt diese Hexe mir dann, dass ich hoffentlich schon dabei bin meine Koffer zu packen. Heh, also das ist einfach…. Es tut mir so leid!“
Jetzt entschuldigte er sich schon wieder. Er hatte doch nun wirklich nichts falsch gemacht.
„Sie will mir auf jeden Fall keinen Cent mehr überweisen. Es klang fast so, als würde sie sich ärgern, dass mein Vater in der Mitte des Monats gestorben ist und er mir so schon das Geld für diesen Monat gegeben hatte.“ Ganz unvermittelt begann er wieder zu weinen. Als ich versuchen wollte ihn zu trösten schob er mich jedoch nur sanft beiseite. „Es tut mir wirklich leid. Das wollte ich nicht. Ich hab immer versucht dir ein möglichst angenehmes Leben zu bieten. So habe ich mir das auch nicht vorgestellt!“
„Was?“ Ich verstand nicht recht. Worauf wollte er eigentlich hinaus?
„Es sieht so aus, als müssten wir zum Ende des Monats hier raus. Ich kann mir das auf jeden Fall nicht mehr leisten…“ er versuchte mich anzulächeln, was ihm aber sichtlich schwer fiel. „Es tut mir wirklich leid, dass das alles so kurzfristig ist…“
Jetzt war ich wirklich geschockt. Und zutiefst getroffen. Was er da sagte hatte mich wirklich berührt! Selbst jetzt dachte er nur an mich. Dabei hatte ich das wohl am wenigsten verdient. Egal was jetzt noch auf uns zu kam ich würde auf keinen Fall noch ein Mal von seiner Seite weichen.
„Tust du mir einen Gefallen und holst mir mal ein Taschentuch? Ich denke im Badezimmer sind noch welche.“
„Aber sicher!“ noch ehe ich richtig suchen konnte hörte ich, wie die Zimmertür ins Schloss fiel. Ich war gerade noch schnell genug draußen auf dem Flur, um zu sehen wie die Aufzugtür sich schloss.
Ein paar Sekunden später kam eine Nachricht auf mein Handy. Er müsse alleine sein. Nur für eine Weile. Ich solle mir keine Sorgen machen, er sei bald zurück.
Ich beruhigte mich ein wenig, war aber immer noch ein wenig aufgewühlt. Es tat weh Benjamin so am Boden zu sehen und es hatte mich schwer getroffen, dass selbst jetzt seine Gedanken mir zu gelten schienen.
Ich griff zum Telefon und rief meinen Vater an. Der Anruf dauerte nicht lang und unterschied sich wohl ganz grundlegend von denen, die er bisher mit mir geführt hatte. Ich ließ ihn kaum zu Wort kommen. Entschuldigt mich etwas tausend Mal, sagte ihm mindestens doppelt so oft, wie sehr ich ihn liebte und gelobte Besserung.
Was immer auch in meinem Kopf herum geschwirrt war, als ich unser Zimmer betrat. Es war wie weggeblasen. Jetzt war nur noch Ben wichtig. Und ich war fest entschlossen jetzt nur für ihn da zu sein. Es war an mir jetzt auch mal etwas zu tun!
Ich konnte einfach nicht anders. Dies Mal wollte ich nicht die gleichen Fehler machen wie schon so oft. Ich wollte zeigen, dass auch ich dazu gelernt hatte. Das ich mich wirklich bessern wollte und das nicht nur alles leere Phrasen waren. Eine Woche hatte ich meine Verlobung jetzt geheim gehalten. Nein eigentlich stimmte das so gar nicht. Genau genommen hatte ich bloß noch niemanden davon erzählt. Aber eben das war mir ja zu einer unangenehmen Gewohnheit geworden. Dieses Verhalten hatte ja alle meine Probleme verursacht. Wenn ich jetzt wieder begann mich rauszureden, würde niemals eine Besserung eintreten. Und bei so einer Nachricht sollte es mir doch wohl möglich sein sie in alle Welt hinaus zu posaunen. Obwohl das a gar nicht nötig war. Es reichte völlig, wenn ich erst Mal meinen Vater und meine Freunde, oder das was davon übrig geblieben war, aufklärte.
Natürlich gab es schon Leute die davon wussten. Benjamins kleine Schwester Evelyn wusste davon. Somit natürlich auch seine Stiefmutter. Seine und meine Freunde in Berlin wusste es auch schon, all die Leute eben, die Ben förmlich zu ihrer Verlobungsfeier eingeladen hatte. Es wusste halt bloß bisher niemand davon, der mir wirklich etwas bedeutet hätte. Das konnte man vielleicht falsch verstehen, es mochte böse klingen, aber so war es eben. Das konnte ich nicht ändern. Und ich hatte auch nicht die geringste Lust mich diesbezüglich selbst zu belügen. Ich mochte alle jene, die hier um mich herum waren wirklich, aber es war eben nicht das Selbe. Es war nicht zu vergleichen mit zuhause.
Wieso ich es meinem Vater noch nicht gesagt hatte. Bisher war es mir wegen der Uni einfach noch nicht möglich gewesen von hier weg zu kommen Ich musste es ihm einfach persönlich sagen, dass war ich ihm schuldig. Noch dazu wollte ich unbedingt sein Gesicht sehen, wenn ich es ihm erzählte. Ich wollte ihm dabei in die Augen sehen können. Fast schon hatte ich das Gefühl ihm irgendwie Rechenschaft schuldig zu sein.
Und jetzt war ich tatsächlich wieder zuhause. Ich hätte nicht aufgeregter sein können. Tief in mir fragte ich mich, ob ich diesen Ort überhaupt noch zuhause nennen durfte. Bald würde ich darüber hinaus mein eigenes Zuhause haben, mit Benjamin. Aber war das nicht eigentlich schon längst der Fall? Immerhin wohnten wir zusammen und das schon eine ganze Weile. Mehr oder weniger weit weg von unseren Familien oder von dem, was von unseren Familien noch übrig war. Ihm hatte das früher weniger ausgemacht, doch jetzt, jetzt schien auch er endlich das Gefühl zu haben, er hätte eine Familie.
Etwas hielt mich auf das Haus zu betreten, vor dem ich jetzt schon einige Minuten stand. Eigentlich hätte es nicht so schwierig sein dürfen. Schließlich besaß ich meinen Schlüssel immer noch. Aber je öfter ich von hier fort ging und je länger ich wegblieb, desto schwieriger fiel es mir zurück zu kehren. Nicht mich zu überwinden ins Auto zu steigen und herzufahren. Es lag nicht an der Entfernung. Es war immer bloß der letzte Schritt. Ihn zu machen war beinahe unmöglich. So setzte ich mich auf die Treppen vor der Haustüre und starrte in den Himmel. Plötzlich ganz unvermittelt begann ich mit den Tränen zu kämpfen. Ich wusste gar nicht wieso. Ich hatte doch eigentlich allen Grund glücklich und ausgelassen zu sein, aber ich war es wohl doch nicht. Ich war viel eher aufgewühlt und verwirrt, nahe dem Zustand der völligen Aufgelöstheit.
Ich schüttelte mich, um dieses beklemmende Gefühl loszuwerden. Ich war gekommen um mit jemandem zu reden und genau das hatte ich jetzt auch vor. Doch es würde nicht mein Vater sein. Zumindest jetzt noch nicht. So sehr ich ihn auch liebte, dafür war er in diesem Moment wohl einfach die falsche Person. Er würde sich über meine Verlobung ganz sicher freuen. Dafür sprach sein ganzes Verhalten in der letzten Zeit. Nicht nur, weil er Benjamin anscheinend wirklich und aufrichtig mochte, sondern auch weil er sich einfach immer für seine Tochter freute. Mein Vater war immer dann glücklich, wenn ich es war. Jetzt brauchte ich etwas anderes. Ich benötigte jemand der den Männern in meiner Umgebung generell etwas skeptischer gegenüber stand. Jemanden, der ohnehin schon das Gefühl hatte zu viel der Kontrolle über mich verloren zu haben. Jemanden wie einen meiner Freunde.
Da traf es sich gut, dass der beste den ich hatte, eben heute zu seiner Geburtstagsparty lud. Und Frank wohnte schließlich genau gegenüber. Sein Geburtstag war zwar schon im Winter, aber er zog es von jeher vor im Sommer zu feiern. Da war das Wetter einfach besser, oder zumindest war der Regen wärmer und so konnte er seinen großen Garten für eine ausgelassene Grillparty vie besser nutzen. So war es seit Jahren gute und beliebte Tradition. Und wie immer hatte auch ich meine Einladung erhalten, obwohl Frank eigentlich wusste, dass ich wohl nicht kommen würde. Oder wie er es immer sagte, dass ich wohl nicht würde kommen können. Aber so sicherte er wenigstens, dass ich seine Party nie vergaß und er sein Geschenk bekam. Auch wenn mir so etwas natürlich nie passiert wäre, was auch immer sich in meinem Leben ereignet hatte, Frank war nie ganz aus meinem Gedächtnis verschwunden und hatte nie seinen Platz in meinem Herzen verloren.
So stand ich also auf und marschierte schnurstracks auf das Nachbarhaus zu. Schade bloß, dass ich Franks Geschenk schon vor über einer Woche mit der Post losgeschickt hatte. Ich wollte unbedingt sicher gehen, dass es pünktlich kam. Da schickte ich es lieber zu früh los. Jetzt hatte ich gar nichts für ihn, aber wahrscheinlich hatte er das Paket ja bereits erhalten. An diesen Strohhalm musste ich mich einfach klammern. Nicht, dass er noch böse auf mich wurde. Nicht auszudenken. Ich musste schmunzeln.
Seine Türe war nicht verschlossen, wieso auch schließlich fand in diesem haus eine Party statt. Vermutlich würde ich Frank bei seinem Grill finden. Er und Lukas konnten einfach nicht genug davon bekommen auf die Kohle zu starren und das Fleisch zu wenden. Sie waren regelrecht besessen davon, es war eine wahre Leidenschaft und ich hatte ihnen immer gerne dabei zugesehen, auch wenn ich es nicht so recht nachvollziehen konnte. Frank hatte schon als Kind gerne gegrillt, aber seit er es ohne die Hilfe seines Vaters machen durfte, war seine Passion für das Grillen noch gewachsen. Das erste Grillwochenende ohne Erwachsene war wie das Ritual zur Mannwerdung oder so etwas. Ich hatte mich immer darüber lustig gemacht und ihn einen Indianer genannt. Aber diese Sache war immer stärker gewesen als mein Spott. Es war so stark, dass er sie auf seinen besten Freund übertrug. Lukas teilte sie mittlerweile ohne Abschwächung.
Gerade, als ich in den Garten hinaus treten wollte, packte mich jemand von hinten und hob mich stürmisch hoch. Als ich wieder Boden unter den Füßen hatte, fiel ich ihm sofort stürmisch um den Hals. Nachdem ich Frank gratuliert hatte, was auf Grund der Tatsache, dass sein nächster Geburtstag eigentlich viel näher lag, als der zu dem er gerade Glückwünsche erhalten hatte, völlig verrückt war, begrüßte ich Lukas genauso überschwänglich. Es lag so gerade noch in seiner Kraft sich von mir zu befreien, aber seine Überraschung und seine Befremdung über mein Verhalten konnte er nur schwer verbergen. Eigentlich hatten wir beide uns nie besonders gut verstanden. Wir hatten uns wohl eher toleriert, Frank zuliebe. Aber wegen ihm standen wir auch unterschwellig immer in Konkurrenz zueinander.
„Was ist denn mit dir los?“ grinste Lukas vor sich hin.
„Was machst du eigentlich hier?“ fügte Frank hinzu, bevor ich überhaupt antworten konnte.
Sie redeten weiter wild durcheinander. „Es ist großartig…!“
„Es ist eine Freude…!“
„Ja, dass kannst du aber laut sagen…!“
So wild, dass es mir bisweilen schwer fiel festzustellen, wer eigentlich was gesagt hatte. Aber ich war überglücklich, dass die beiden sich so zu freuen schienen mich zu sehen und so begann ich zu lachen.
„Tschuldige, dass dich keiner ausreden lässt, aber wir sind halt so überrascht unsere lang verloren geglaubte Freundin mal wieder zusehen!“ fasste Frank schließlich zusammen. „Wir hatten dich halt einfach nicht hier erwartet!“
Wieder musste ich lachen. „Ich hab euch auch nicht hier drinnen erwartet!“ Ich sah mich verwundert um. „Das ist es was mich hier stört! Wieso seid ihr nicht draußen beim Grill?“
„Ach…weißt du…“ Frank druckste herum. „Ich muss mich ja auch mal um die Gäste kümmern. Das hier ist ja schließlich auch eine gesellschaftliche Verpflichtung. Und Lukas…“ jetzt grinste er erst mich und dann seinen Kumpel an. „Du kennst ihn ja, er rennt mir immer hinter her!“
„Das ist gar nicht wahr!“ grunzte Lukas beleidigt. Und wie zur Bestätigung seiner Worte drehte er sich um um zu gehen. „Es gäbe halt einfach nicht viel zum Grillen dieses Jahr.“ Weg war er.
Nichts zum Grillen? Kein Fleisch? Nicht mal ein paar gewürzte Paprika? Ich war mehr als nur verwundert. Das war das Letzte, was ich jemals erwartet hätte. Dann doch eher, dass der Rhein aufhört durch Köln zu fließen. Obwohl, das wäre mal eine Maßnahme, hier wäre er ohnehin viel besser aufgehoben. „Seid ihr auf ein mal Veganer geworden?“ fragte ich verwundert. „Keine Tiere mehr töten, oder was? Schon gar keine Leichenschändung in Form von Grillfleisch…Nicht Mal eine in Folie gefesselte Kartoffel?“ schloss ich schließlich beinahe verzweifelt.
„Nein! Nein! Um Gottes Willen!“ wiegelte Frank ab. „Ganz so ist es nun auch nicht. Du bekommst schon was Anständiges zu Essen hier. Denkst du ich würde meine beste Freundin verhungern lassen?“
„Aber du konntest ja gar nicht wissen, dass ich kommen würde.“
„Deswegen habe ich ja immer genug zu Essen da, jedes Jahr!“ Über diesen dämlichen Witz musste er selber lachen. „Diesmal grillt jemand anders, das ist schon alles.“
„Jemand anders?“ Das war unmöglich. Frank ließ doch unter normalen Umständen niemanden auch nur in die Nähe seines Grills. Und jetzt wollte er mir erzählen, dass er ihn gleich jemandem überlassen hatte. Ich musste wirklich lange weg gewesen sein. Oder war ich einfach auf einem anderen Planteten gelandet. „Lukas darf doch sonst auch nur das Fleisch wenden, wenn du mal aufs Klo musst!“
„Das stimmt!“ warf Lukas von etwas weiter hinten im Raum ein. So ganz hatte er sich wohl doch nicht überwunden uns allein zu lassen. Bei dem Gedanken an Franks eifersüchtige Liebe zu seinem Grill brachen wir beide in Gelächter aus. Es war aber auch zu komisch, wenn man sich an die Szenen erinnerte, die er denen gemacht hatte, die es auch nur wagten sein Fleisch schief anzusehen.
„Ich habe einfach jemanden gefunden, der es irgendwie besser kann. Nicht das Grillen an sich. Aber es schmeckt besser. Und das ist den Gästen wohl irgendwie wichtig. Ich versteh das ja auch nicht so ganz. Auf jeden Fall hat er im letzten Jahr den Grill übernommen, als ich mir an einer Kartoffel den Fuß verbannt habe…“
„Du hast was?“ fragte ich ungläubig.
„Zwing mich nicht es zu wiederholen. Du weißt doch, dass ich ein verdammter Tollpatsch bin. Und wenn du nicht da bist, um auf mich aufzupassen.“
„Und wieso machst du es dann jetzt nicht? Dein Fuß ist in Ordnung. Und ich bin hier!“
„Ja aber seit jemand anders den Job hat landet erheblich mehr Fleisch im Magen der Gäste, als auf dem Rasen.“
Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass Frank so etwas jemals passiert war. Aber vielleicht war dies nur ein weiteres Anzeichen dafür, dass ich schon viel zu lange weg gewesen war.
„Allerdings fand ich es immer recht amüsant den Betrunkenen das dreckige Zeug unterzujubeln.“ Sinnierte Lukas vor sich hin. Worauf er von Frank umgehend einen deftigen Schlag in die Magengrube erhielt. Frank grinste ihm noch zu, packte meine Hand und zog mich die Treppe herauf in sein Zimmer. Ich konnte mich gerade noch umdrehen und sehen, dass Lukas lachte. Schwer zu sagen, ob er sich deshalb krümmte, oder ob Franks Haken wirklich schmerzhaft gewesen war. Aber für solche Gedanken blieb jetzt keine Zeit.
„Also dann erzähl mal. Meine Liebe!“
„Was erzählen?“ ich sah Frank verdutzt an. Eigentlich hatte ich gehofft er würde mich jetzt mit ein paar interessanten Neuigkeiten versorgen.
„Stell dich nicht so an“ gab er fast patzig zurück. „Ich kenn dich wirklich gut genug! Du bist ja wohl nicht nur wegen dem Grillfleisch und meinem Geburtstag hier!“
„Wieso eigentlich nicht.“ Fast war ich ein bisschen beleidigt. „Du hast außerdem auch gar nicht Geburtstag.“ Stichelte ich.
„Na,….“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Du bist einfach nie zu meiner Party gekommen seit…“ Frank schluckte. „Also schon lange nicht mehr. Dann muss dein Besuch also andere Gründe haben. Erschwerend kommt noch hinzu, dass ich gesehen habe, wie du eben um euer Haus herumgeschlichen bist. Du bist nicht rein gegangen, wenn ich das mal feststellen darf.“ Sein Blick war wieder ernster geworden. Doch er kannte mich wirklich zu gut, um mir jetzt auch nur eine Sekunde die Chance zu geben Ausflüchte zu suchen.
Andererseits war ich ja schließlich auch gekommen um mit ihm zu reden.
„Jetzt spuck schon aus, oder hast du schon vergessen, dass ich ja doch jedes Geheimnis von dir rausbekomme, wenn ich nur lang genug stochere?“
Also erzählte ich Frank alles, was sich in letzter zeit zugetragen hatte. „Ich bin verlobt.“
Frank gab keine Antwort sondern sah mich nur interessiert an. Vielleicht dachte er, wenn er mich jetzt unterbreche, könnte mein Redefluss versiegen.
„Vor etwas einer Woche war das. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet.“ Wieso zeigte r bloß keine Reaktion, die ich irgendwie hätte deuten können? „Benjamin und ich sind einfach so an der Spree spazieren gegangen, du weißt ja wie gerne ich das mache. Das beruhigt ungemein und lenkt wenigstens etwas ab von der Tatsache, dass man in einer Großstadt wohnt. Und dann hat er um meine Hand angehalten. Sagt man das überhaupt so?“
„Das sagt man so…“ Frank machte mir durch seinen Tonfall klar, dass ich weitererzählen sollte.
„Wie schon gesagt, damit hätte ich nie gerechnet. Das kam völlig unverhofft. Ich meine, muss es für so was nicht wenigstens Anzeichen geben vorher?“
Frank zuckte mit den Schultern.
„Wir haben vorher eigentlich nie über Heirat geredet. Das ist wahrscheinlich auch nicht üblich in unserem Alter…“ ich dachte kurz nach. „Aber was heißt schon üblich. Es ist auch nicht üblich in einem Hotel zu wohnen und ich tu es jetzt dennoch schon seit mehreren Jahren...“ ich kam vom Thema ab. „Wo war ich?.. Ach ja, ich hab „Ja!“ gesagt. Einfach so.“
Frank starrte mich immer noch an, als wären meine Ausführungen noch nicht spektakulär genug gewesen.
„Seit dem war er einfach wunderbar. Ich hatte jeden Tag frische Blumen, oder Geschenke oder sonst irgendwas…“
„Und du meinst, du hättest das nicht verdient?“ grinste er mich an.
„Meinst du das etwa?“ plötzlich war ich wieder aus dem Tritt.
„Manchmal kannst du richtig niedlich sein.“ Lachte er.
„Benjamin war in letzter Zeit nicht mehr so oft zuhause wie früher. Er hatte generell nicht mehr ganz so viel Zeit für mich. Er ist jetzt halt wirklich viel beschäftigt, seit er sein Studium aufgegeben hat.“
„Was hat er?“ Frank schien irgendwie unangenehm überrascht.
„Ach, das habe ich dir ja alles noch nicht erzählt. Die Ereignisse haben sich aber auch wirklich überschlagen.“ Ich versuchte mich zu verteidigen. „Und es ging ja auch nicht um mich. Eigentlich betraf ja alles nur Ben.“
Frank nickte verständnisvoll.
„Benjamin hat aber wirklich immer versucht jede freie Minute mit mir zu verbringen. Nicht, dass du jetzt denkst er hätte mich vernachlässigt. Er hat mich ja selbst dann mitgenommen, wenn er mit seiner kleinen Schwester unterwegs war, an der er wirklich einen Narren gefressen hat…“
„Euer Leben scheint ja wirklich sehr turbulent gewesen zu sein.“ bemerkte Frank. „Ich habe schon bei unseren Telefonaten festgestellt, dass sich wohl einiges verändert hat. Du warst irgendwie…ja anders halt.“ Er grinste mich an. „Ich habe einfach nur gewartet, bis du von selbst damit rausrückst.“
Und genau das machte ich jetzt. Es tat mir zwar unendlich leid, das ich Frank damit von seiner eigenen Party fernhielt, aber andererseits schien er ernsthaft an allen Einzelheiten meiner Geschichte interessiert zu sein. Seine anderen Gäste hatte er anscheinend völlig vergessen, aber Lukas war ja auch noch da. Der würde ihn schon vertreten.
„Ich war vor ein paar Monaten ja schon Mal hier. Das habe ich dir ja schon erzählt.“
„Da wo du dich mit deinem Vater gestritten hast?“
„Genau!“ stimmte ich zu. „Als ich dann nach Berlin zurück kam hat Ben mir erzählt, dass ein Vater gestorben sei. Das war alles sehr verwirrend. Ich dachte immer, dass er den Mann nicht besonders gemocht hatte, aber vielleicht bleibt der Vater eben doch immer der Vater. Egal was passiert. Ben war auf jeden Fall völlig am Boden. Vielleicht habe ich auch deshalb nichts davon erzählt. Es war wirklich nicht leicht für mich ihn so zu sehen.“
„Das versteh ich.“ Frank lächelte mich aufmunternd an.
„Er wurde wohl überhaupt nur benachrichtigt, weil er bei der Testamentseröffnung anwesend sein musste. Also sind wir beide am nächsten tag nach Potsdam gefahren, wo Bens Vater einen Anwalt hatte. Das war echt noch heftiger, als ich es mir jemals hätte ausmalen können. Da waren so viele Menschen und das schärfste war, Benjamin kannte keinen einzigen von denen. Dabei war er doch sein Sohn.“ Ich machte eine kurze Pause. „Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie froh ich war, so ein gutes Verhältnis zu meinem Vater zu haben.“
„Was waren denn das für Leute?“ fragte Frank wissbegierig.
„Bei den meisten Leuten weiß ich das immer noch nicht, wenn ich ehrlich bin. Aber eine interessante Bekanntschaft war dann doch noch dabei. Und das meine ich absolut nicht positiv.“
„Wie soll ich denn das verstehen?“
„Da war eine Frau, meine Güte, so würde ich wirklich nicht rumlaufen, vor allem nicht, wenn ich Trauer trage.“
„Da bin ich ja mal gespannt.“
„Die hatte ein wirklich, wirklich knappes schwarzes Kostüm an. Es würde mich wirklich nicht wundern, wenn sie keine Unterwäsche trug.“
„Also Katrin, wirklich..!“ Frank spielte den entrüsteten. „Worauf du immer achtest!“
Ich ging gar nicht weiter darauf ein. „Im Büro des Anwalts stellte sich dann heraus, dass es sich um Rebecca handelte.“
„Rebecca? Muss ich die kennen?“
„Bens Stiefmutter. Wie kannten sie wie gesagt auch nicht. Ich hatte auch erst an dem Morgen zum allerersten Mal ihren Namen gehört. Bis dahin war sie immer nur „Die Stiefmutter“. Wenn ich ehrlich bin, wäre es auch besser gewesen, es wäre dabei geblieben.“
„Die hat ihm doch überhaupt erst bescheid gesagt, oder? Wie kann es denn dann sein, dass Benjamin sie noch nicht kannte?“
„Ich weiß es nicht. Sie hat sich auf jeden Fall reichlich wenig für ihn interessiert!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Sie hat ihn ja nicht mal begrüßt. Wäre sie nicht persönlich von dem Anwalt angesprochen worden, hätten wir vielleicht nie raus gefunden, wer sie eigentlich ist.“
„Das ist schon seltsam. Für mich klingt das auf jeden Fall sehr unsympatisch.“
„Ja, das ist sie auch. Deshalb komm ich jetzt mal besser gleich zu dem erfreulichereren Teil.“
Frank schwieg wieder und sah mich erwartungsvoll an. So gerne ich vorher geschwiegen hatte, so gut gefiel ich mir nun in der Rolle des Erzählers.
„Wie gesagt, es gab dann noch erfreuliche Nachrichten.“ Ich dachte kurz nach und fuhr dann fort. „Für die meisten anderen wären sie wahrscheinlich erfreulich gewesen, Ben hat sich wohl nicht ganz so freuen können.“
„Er hat also doch was geerbt?“ Frank schien es nicht mehr auszuhalten. Seine Neugier hatte ihn besiegt.
„Das kann man wohl so sagen!“ Ich nickte. „Er hat die Firma seines Vaters geerbt und das ohne Abstriche.“
„Das ist wirklich nicht schlecht. Jetzt ist seine Zukunft ja gesichert.“
„Das schon. Eigentlich ist er nicht Mal gezwungen dort auch zu arbeiten. Besser wäre es aber schon.“
„Dann muss er sein Studium aufgeben?“ Frank klang mitfühlend.
„So sieht es aus. Entweder das, oder er übergibt die Leitung der Firma an einen anderen.“ Antwortete ich.
„Die Entscheidung ist schwer, das verstehe ich.“ Frank nickte. „Dann kann er aber doch eigentlich zufrieden sein!?“
„Ist er auch, glaube ich. Benjamin war die Sache wohl etwas unangenehm.“ Ich erzählte weiter. „Das Haus, in dem sein Vater mit seiner Frau wohnte hat Rebecca geerbt.“ Ich machte eine kurze Pause. „ich glaube Benjamin fand das ganz ok. Schließlich hat sie ja eh schon da gewohnt. Ich glaube nicht, dass er es hätte haben wollen. Darüber hinaus ist sie aber leer ausgegangen!“
Frank grinste süffisant. Das schien selbst ihn zu freuen, obwohl er gerade zum ersten Mal von Rebecca gehört hatte.
„Sie hat sich furchtbar darüber geärgert. Das hat man ihr regelrecht ansehen können.“ Jetzt musste auch ich lachen. „Das war echt wie im Film, ich dachte sie platzt gleich! Ich habe dann leider auch nicht mehr an mich halten können.“
„Wieso? Was hast du gemacht?“ Frank klang leicht schockiert. „Du bist doch nicht etwa aufgestanden, hast mit dem Finger auf sie gezeigt und gelacht?“
„Was soll ich gemacht haben?“ Nun konnte ich mich vor Lachen kaum noch halten. „Hab ich so was früher wirklich gemacht?“
„Na ja…Du wärest auf jeden Fall dazu in der Lage gewesen.“
„Gut das zu wissen. Nein, ich habe es auf jeden Fall nicht gemacht. Ich habe es bloß nicht mehr ausgehalten und musste Benjamin fragen, wer eigentlich das Geld erbt.“
„Na sehr sensibel von dir!“
„Ich weiß, Frank. Aber vielleicht hattest du nicht ganz unrecht mir so einen peinlichen Auftritt zu zutrauen.“ Gab ich kleinlaut zu. „Benjamin hat nur mit den Schultern gezuckt. Ich kann nicht Mal sagen, ob er mir überhaupt zugehört hat.“
„Besser wäre es vielleicht gewesen, wenn nicht!“
„Er war überhaupt die ganze Zeit so teilnahmslos.“ Ich überging seine Bemerkung einfach. „Auf jeden fall schienen mich die meisten anderen auch gehört zu haben, denn Rebecca warf mir einen bitterbösen Blick zu.“
„kein Wunder, das hätte ich wohl nicht anders gemacht.“ Grinste Frank wieder.
„Der Anwalt hat mich wohl auch gehört, denn sofort ging er auf genau die Frage ein.“
„Jetzt hast du mich aber auch neugierig gemacht, Katrin!“
„Wenn du dich ein bisschen gedulden würdest mein Lieber. Ich sag dir ja alles.“ Ich versuchte krampfhaft einen tadelnden Blick zu bewahren, aber die Erinnerung an diesen grotesken Augenblick in der Anwaltskanzlei ließ das einfach nicht zu. „Die nächste Verfügung, die vorgelesen wurde gab nämlich sofort Aufschluss.“
„Jetzt spuck es schon aus!“ quengelte mein bester Freund und rutschte auf seinem Sitz hin und her.
„Das gesamte Bankvermögen… und lass mich dir eins sagen, ich kenn zwar keine genauen Zahlen, aber es ist nicht wenig…bekommt Evelyn. Rebeccas kleine Tochter!“
„Welche Tochter? Die hast du mir aber bisher verschwiegen.“
„Bis zu dem Zeitpunkt hatten wohl die meisten im Raum noch nichts von ihr gehört. Vor allem Benjamin nicht. Am liebsten wäre ich dieser Frau in dem Moment an die Gurgel gegangen, Wie konnte sie ihm nur seine Schwester vorenthalten?“
„Das ist hart. Aber wenigstens wusste er nichts von ihr. Jetzt ist es wahrscheinlich schwerer, wo er sie kennt.“
„Zum Glück liegt das jetzt alles nicht mehr in ihrer Macht.“ In meinem Gesicht war deutliche Genugtuung zu erkennen. „Es gab nämlich eine Bedingung.“
Ich wartete auf eine Nachfrage von Frank, aber diesmal kam nichts. Er sah mich nur voller Erwartung an.
„Das Geld würde die kleine nur dann bekommen, wenn sie und Ben sich kennen lernten. Sie seinen eine Familie und so wolle er seine Versäumnisse wieder gut machen.“
„Das hat Benjamins Vater so verfügt?“ fragte Frank noch ein Mal nach.
„Fast wortwörtlich.“ Gab ich zurück. „Würde man dieser Anordnung nicht Folge leisten…es war so klar, dass diese Worte an Rebecca gerichtet waren…verfiele der Anspruch beider Kinder auf ihre Erbteile.“
„Das heißt, auch Benjamin würde die Firma nicht bekommen?“
„Du hast es erfasst!“
„Das ist ja unglaublich.“
Gerade im Moment fragte ich mich, ob ich als Anwalt vielleicht meinen Beruf verfehlen würde, wo ich Frank mit meiner kleinen Geschichte so mitzureißen schien. Aber als Rechtsverdreher musste man die Leute ja auch für sich zu gewinnen wissen.
„Alles in allem haben die Leute wohl genauso reagiert wie du. Die meisten waren wohl sprachlos. Ich glaube Ben war der einzige, der nicht gleich der Meinung war, er wäre verarscht worden.“
„dann gehe ich also richtig in der Annahme, dass das ganze dieser Rebecca gar nicht gefallen hat?!“
„Aber absolut Frank! Sie hat n der Folgezeit mehrfach versucht das Testament anzufechten. Aber das scheint wirklich wasserdicht zu sein.“
„Ist das jetzt gut oder schlecht?“ fragte er vorsichtig.
„Für mich ist es gleich. Ganz im Ernst. So lange es für Benjamin ok ist, wird es für mich wohl auch in Ordnung sein. Eigentlich habe ich ja gar nichts damit zu tun. Ich war ja nur dabei an dem tag um ihm seelischen Beistand zu leisten.“
„Also hat er das ganze gut aufgenommen?“
„Ich denke schon.“ Ganz sicher war ich mir da immer noch nicht. Aber sein Leben hatte sich auf jeden Fall zum positiven Verändert seit dem. Ob alles besser geworden war, war zu bezweifeln, aber einiges, das worauf es ankam bestimmt. „Seit dem verbringt Ben unendlich viel Zeit mit der kleinen.“
„Sie verstehen sich also gut?“
„Ja auf jeden Fall!“ ich nickte. „So gut, dass Rebecca es sogar aufgegeben hat immer dabei sein zu müssen. Das stört sie wohl bei ihrer Maniküre oder was weiß ich was.“ Jetzt steigerte ich mich hinein. „Das sagt für mich schon einiges aus, wenn eine Mutter nicht genug Zeit für ihre Tochter hat.“
„Vielleicht hat sie ja nur gemerkt, dass sie deinem Freund…äh…Verlobten vertrauen kann.“
„Wohl kaum. Sie kann Benjamin nicht leiden! Da macht sie auch gar keinen Hehl draus. Das ist wohl auch mit ein Grund. Wenn sie ihn mit Evelyn alleine lässt, dann muss sie keine zeit mit ihm verbringen. Außerdem ist es wohl auch nicht gut für ihre Kleidung, wenn sie den ganzen Tag auf dem Spielplatz verbringt.“
„Hast du deine Meinung über Kinder jetzt plötzlich geändert?“ fragte Frank scherzhaft. „Du hast Kinder doch nie wirklich gemocht bzw. hast selber immer gesagt, du könntest nicht mit ihnen umgehen. Und jetzt zählst du mir hier die Verfehlungen anderer in Punkto Kindererziehung auf.“
„Das stimmt wohl.“ Bestätigte ich. „Aber Ben kann das dafür umso besser. Und wenn ich ehrlich bin…“
„Ja bitte!“
„Die kleine ist auch wirklich süß.“
„Ist das mit ein Grund, wieso du „Ja!“ zu ihm gesagt hast?“
„Was soll ein Grund gewesen sein? Dass er jetzt eine Schwester hat?“ fragte ich ein wenig verständnislos.
„Ja sicher!“ er lachte. „Du spinnst manchmal echt, Katrin. Ich meinte viel eher, weil du ihn jetzt wieder mit andere Augen siehst.“
„Das mit den Kindern ist schon wichtig. Irgendwer muss es ja können.“ Grinste ich.
„So meine ich das nicht.“ Frank war ohnehin der einzige, der irgendwie Einblick in die Sache zwischen mir und Benjamin hatte und das obwohl er ihn gar nicht kannte. „Die einzige Frage, die du dir stellen solltest ist, ob du ihn wirklich liebst.“
„Natürlich!“ antwortete ich etwas entrüstet. „Sonst hätte ich doch nicht „Ja“ gesagt. Du weißt doch, dass er mich von Anfang an um den verstand gebracht hat.“ Frank hatte mich irgendwann einmal gedrängt ihm zu erzählen, wie Ben und ich uns eigentlich kennen gelernt hatten und so hatte ich ihm mehr oder weniger ausführlich die Stationen unserer Beziehung dargelegt.
„Das weiß ich sehr wohl; Katrin.“ Frank wurde wieder ernster. „Ich frage mich nur, ob du auch den Unterschied zwischen Liebe und verknallt sein kennst?“ Ohne jedoch meine Antwort abzuwarten sprang Frank auf. „Es wird jetzt wirklich Zeit, mich mal wieder den anderen Gästen zu widmen.“
Wieder zerrte er mich hinter sich her. Die Treppe herunter in den Garten. Ich wusste nicht Mal genau, wie mir eigentlich geschah. Noch war ich zu verwirrt durch das, was mein bester Freund mir da an den Kopf geworfen hatte ohne mir die geringste Chance zur Verteidigung zu lassen. Und das sollte so weiter gehen, er schien noch lange nicht mit mir fertig zu sein.
„Hey Leute!“
Was zum Kuckkuck hatte der Irre bloß vor? Den meisten hatte ich ja noch nicht mal hallo gesagt. Eigentlich hatte ich gar niemanden begrüßt außer ihn und Lukas. Was krakelte er denn jetzt hier so rum? Seit Jahren hatte keiner von denen ein Wort von mir gehört und jetzt machte Frank hier so ein Affentheater. Die hielten mich bestimmt für total arrogant und aufgeblasen. Aber bisher hatte mich das ja auch noch nie wirklich gekümmert.
Mich wunderte bloß, dass sich alle wie die Schafe um Frank scharten. Und auch die Tatsache, dass Lukas plötzlich hinter mir stand, konnte meine Verunsicherung nicht abklingen lassen.
„Wir haben eine erfreuliche Nachricht mitzuteilen.“
Das hatte er nicht wirklich vor!
„Es gibt Freibier!“ schrie einer.
„Du säufst dich doch schon den ganzen Tag hier umsonst durch.“ Raunzte Lukas ihn an. Er schien leicht gereizt, aber war es ihm zu verdenken? Schließlich hatte er nicht die geringste Ahnung, was hier vor sich ging.
Ich sah ihn verzweifelt an. Aber das war wohl Franks kleine Rache für meine lange Abwesenheit, wieder etwas, was ich ihm nicht übel nehmen konnte.
„Nu mach schon!“ schrie jemand anders.
„Und wer ist eigentlich wir?“ Ich fragte mich die ganze Zeit, ob ich die kleine Tussi, die das gesagt hatte, schon mal irgendwo gesehen hatte, aber es wollte mir beim besten Willen nicht einfallen.
„Unsere Katrin hier wird doch tatsächlich heiraten!“
Jetzt war es also raus.
Kaum irgendwer zeigte eine erkennbare Reaktion. Und ich muss schon zugeben, das traf mich irgendwie. Die meisten fragten sich wahrscheinlich gerade, wer diese Katrin eigentlich war und die, die genug Hirn mitbrachten um mich als diese Person zu identifizieren, waren verzweifelt damit beschäftigt herauszufinden woher sie mich kennen mussten. Ich war hier mittlerweile eine Fremde. Und wie ein Eindringling kam ich mir auch vor.
„Wow das ist ja super!“ Lukas schien sich ehrlich für mich zu freuen. „Das ist doch erst recht ein Grund zum Feiern!“
„Also doch mehr Freibier!“ schrie der Typ von eben. Doch ehe Lukas ihn auch nur böse ansehen konnte zog er es vor sich zu verkrümeln.
Und dann ging das große Umarmen los. Wildfremde kamen auf mich zu, herzten und beglückwünschten mich. Doch viel unangenehmer wurde es, als die Leute plötzlich nicht mehr so fremd waren. Wie aus dem Nichts stand Tina vor mir. Sie fiel mir um den Hals. „Das freut mich für dich! Ich hoffe er ist der Richtige!“ Sie ließ mich los. „Vielleicht stellst du ihn uns ja mal vor. Oder muss man ihn verstecken?“
„Danke!“ ich starrte sie verlegen an. Kaum zu glauben, dass sie mal meine beste Freundin gewesen sein sollte. Ich hätte sie ja kaum wieder erkannt. Sie hatte jetzt kurze rotbraune Haare. Und sah im Allgemeinen viel erwachsener aus. Das galt wohl für uns alle, aber da ich sie wohl am längsten nicht gesehen hatte, fiel es mir ganz besonders ins Auge. Ich selbst kam mir immer noch vor wie ein kleines Mädchen, die jüngste war ich ja eh schon immer. „Wie geht es dir denn?“
„Ganz gut!“ lachte Tina. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was dieses Lachen bezwecken sollte. Irgendwie war sie komisch. Aber ich hatte ja bisher auch den Mund noch nicht aufbekommen. „Nicht so gut wie dir scheint mir.“
„Ja ja, bei mir ist so weit alles ok.“ Gab ich zurück.
„Untertreib mal nicht. Immerhin hast du bald einen Mann. Und so schlecht kann es ja auch nicht sein, in der Hauptstadt zu leben. Davon können wir anderen nur träumen.“ Wieder lachte sie seltsam.
„Hast recht. Was gibt es denn bei dir so neues?“ Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich höflicher in ein Gespräch einsteigen sollte.
„Ich würde ja wirklich gerne mit dir reden.“ Wieder lachte sie und mir wurde es langsam unheimlich. „Aber…“ sie schien förmlich nach einer Ausrede zu suchen. Mir war es ja auch unangenehm nach so langer Zeit, aber wer war denn hier wem um den hals gefallen?
„Katrin da bist du ja!“ Lukas stuppste mich an. „Du entschuldigst uns doch Tina?“ das war kaum eine Frage und so tat sie auch gar nicht erst so, als wollte sie antworten sondern drehte sich einfach wortlos weg.
„Die Situation hast du ja ganz souverän geklärt.“ Grimelte ich.
„Du wirst mir noch mal dankbar sein!“ knurrte er. „Und jetzt komm mit!“
„Mensch Lukas, was soll das denn?“
„Du hast es wohl nicht für nötig gehalten mir deine kleinen Neuigkeit auch mitzuteilen?“ er war wirklich wütend.
„Dazu hatte ich ja gar keine Chance. Frank hat…“
„Ja Frank, der ist mit Sicherheit Schuld. Der hat sich ja auch verlobt mit jemandem den wir gar nicht kennen. Das macht der andauernd so was. Aber das kannst du ja nicht wissen. Du bist ja nie hier!“
„Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn wir uns mal nicht in die Haare gekriegt hätten.“
„Meine Schuld ist das ja wohl nicht.“ Lukas schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich wollte es dir ja erzählen. Und es war bestimmt nicht meine Idee, dass hier so rum zuposaunen.“
„Schon gut.“ Jetzt grinste er schadenfroh. „Das war wohl auch Strafe genug!“
„Hah du Witzbold!“ mir stockte plötzlich der Atem. Das was da unerwartet hinter Lukas Rücken aufgetaucht war brachte mich völlig aus der Fassung. Jetzt wusste ich, wer anstelle der beiden am Grill stand. Und langsam wurde mir auch klar, wieso ihnen dieses Thema so unangenehm gewesen war.
Kalla!
Lukas zuckte zusammen, als er bemerkte wie ich zu Kalla hinüberstarrte. „Tut mir leid, ich…wir hätten es dir sagen…“
Ich hörte ihm gar nicht zu. „Entschuldige mich kurz.“
Lukas war ernsthaft peinlich berührt, dass er diese Situation nicht hatte verhindern können und ihr jetzt auch nicht mehr zu entgehen vermochte.
Mit weichen Knien marschierte ich auf den Grill zu der in der hinteren Ecke des Gartens aufgebaut war. Entweder hatte er mich nicht gesehen, oder er wollte mich nicht sehen. Mir rutschte das Herz in die Hose. Tausend Mal hatte ich darüber nachgedacht, wie es sein würde ihn wieder zu sehen. Und was ich dann sagen wollte oder besser, was ich sagen sollte. Das war alles wie weggeblasen.
„Hallo.“ War alles was ich herausbekam.
„Hallo.“ Flüsterte ich wieder in der Hoffnung er würde endlich irgendeine Reaktion zeigen.
Doch er sah nicht mal zu mir auf. Doch es war gar nicht möglich, dass er mich nicht bemerkt oder gehört hatte.
„Wie geht es dir?“ fragte ich zaghaft.
„Hallo!“
Es war nur ein einziges Wort und ich hätte nie gedacht, dass es mir so durch und durch gehen würde.
Es war das einzige was er zurückgab. Danach stapelte er umständlich einige Steaks übereinander auf einen eigentlich viel zu kleinen Teller drehte sich um ging weg. „Herzlichen Glückwunsch!“ hörte ich noch. Und das tat mir um so mehr weh. Wenn es sein Plan gewesen war, mich irgendwie zu treffen, dann war er gelungen.
Ich stand da wie der sprichwörtliche begossene Pudel. Nie im Leben war ich mir so alleine vorgekommen. Dabei stand ich während einer Party mitten in Franks Garten umringt von Leuten, von denen ich mindestens die Hälfte noch nie zuvor gesehen hatte. Natürlich wusste ich, dass mich alle anstarrten und ich so gesehen alles andere als alleine war. Er hatte mich einfach stehen lassen, vor all den Leuten. Und auch wenn ich nun wirklich nicht in der Position dazu war, so war ich doch ganz schön sauer. Natürlich hatte es mich tief getroffen, dass ausgerechnet Kalla sich so kalt verhielt, aber er hatte auch mein Ego verletzt. Ich mochte den Gedanken nicht, dass alle mich angafften. Aber war das überhaupt möglich? Starrte man mich wirklich an? Nahm ich mich da nicht ein bisschen zu wichtig? Schließlich hatte ich mich nur mit dem Typen unterhalten, der den Grill bediente und wenn ich die Leute nicht kannte, dann kannten sie mich auch nicht. Woher sollten sie also wissen in welcher Beziehung wir zueinander standen, oder viel mehr in welcher Beziehung wir nicht zueinander standen.
Genau genommen kannte ich gar keinen hier, außer Frank und Lukas. Auf dem Papier wohl auch Tina, doch man konnte kaum behaupten, dass ich noch wirklich wusste wer sie war. Die einzigen beiden die die Situation hätten erfassen können waren nicht da. Einfach spurlos verschwunden. Tolle Freunde. Innerlich musste ich grinsen. Eigentlich hatten sie ja bloß diskret sein wollen. Früher hätte ich ihnen so was hoch angerechnet. Ich meine das früher, das bis vor etwa zwei Minuten angedauert hatte. Aber wenn ich ehrlich war zu mir selbst. So hatte ich mir die Begegnung mit Kalla auch anders vorgestellt. Vor allem hatte ich immer gehofft es sei kein Zufall und wenn doch, dann ein angenehmer.
Wieso hatte ich Frank auch bloß nicht nach ihm gefragt? Dann wäre ich wenigstens vorbereitet gewesen. Das hätte die ganze Sache etwas leichter gemacht. Für mich wenigstens. Aber wahrscheinlich hatte ich nicht das Recht, dass es leicht für mich war. Und ein paar Minuten in denen ich mir etwas hätte zurecht legen können, hätten wohl auch keinen großen Unterschied gemacht. Dieses Zusammentreffen hätte eher eine Planung von langer Hand erfordert. Und selbst das wäre wohl völlig überflüssig gewesen, schließlich hatte er mir überhaupt nicht zugehört. Mir wäre bloß mein blöder Gesichtsausdruck erspart geblieben, aber bei jemandem, der mich ohnehin schlecht von mir dachte, war das dann auch egal.
Wieso zum Teufel wurde ich dann immer noch angestarrt? Amüsierte meine Situation die Leute doch so sehr? Aber wieso? Sie konnten ja schlecht wissen, dass ich seine Ex-Freundin war, keiner von ihnen hatte mich jemals gesehen. Und vom Ablauf unserer Trennung konnte erst recht keiner eine Ahnung haben. Oder doch? Schließlich hatte Kalla es meinem Vater auch brühwarm aufgetischt. Hatte er es also noch weiter rumgetratscht, als ich es mir jemals vorstellen könnte? So war er doch früher nicht. Das sah ihm nun wirklich nicht ähnlich. Manchmal war er doch so schweigsam gewesen, dass er dadurch Streit verursacht hatte. Neben mir gab es wohl kaum einen Menschen, der derart in der Lage war alles für sich zu behalten, oder sollte ich besser sagen in sich hinein zufressen. Da war ich mir meines Charakterfehlers durchaus bewusst. Plötzlich stieg völlig unerwartet Wut in mir auf. Kalla konnte mich doch nicht für alles verantwortlich machen, was schief gelaufen war. Ganz unschuldig war er ja nun auch nicht. Schließlich hatte er nie versucht mit mir über seine Probleme zu reden. Außerdem war er doch derjenige, der mich erst zu dem Umzug überredet hatte. Selbst jetzt nach all der Zeit war er ja nicht Mal ansatzweise dazu bereit ein Wort mit mir zu wechseln, geschweige denn meine Entschuldigung anzunehmen.
Langsam sollte er doch wirklich über die Sache hinweg sein! Aber war ich das eigentlich?
Noch bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, tauchten Frank und Lukas wieder auf der Bildfläche auf.
„Wieso ist der Grill denn so alleine? Das ist ja wohl ein unhaltbarer Zustand!“ scherzte Lukas und begann sogleich damit begeistert das Fleisch zu wenden.
Ich hätte ihm zu gerne an den Kopf geworfen, dass er das ganz genau wusste. Aber das wäre wohl keine so gute Idee gewesen. Ich brauchte jetzt Freunde und konnte es mir nicht leisten sie zu verärgern. Aber das wollte ich ohnehin nicht. Sollten sie doch ihre Witzchen machen.
Weder er noch Frank gingen jedoch weiter auf das ein, was gerade passiert war. Nicht Mal die Tatsache, dass er eigentlich hier am Grill hätte stehen sollen schienen sie für erwähnenswert zu halten.
So gerührt ich auch von ihrer Rücksicht war, machte es mich fertig. Meine Neugier brachte mich fast um. Ich musste die beiden einfach darauf ansprechen. Man konnte nicht alles totschweigen und das sollte man auch nicht. Ich für meinen Teil wollte das jetzt nun nicht mehr!
„Ihr hättet mir ruhig sagen können, wieso dem Grill heute nicht euer Hauptaugenmerk galt!“
„Ich kümmere mich doch um den Grill!“ antwortete Lukas. „ich weiß gar nicht was du willst!“ Er war einfach ein miserabler Lügner.
„Soll ich dieses Kochgerät etwa der Gesellschaft meiner besten Freundin vorziehen?“ fragte Frank und bemühte sich nach besten Kräften, dass es klang, als meinte er es ernst. „Wenn das dein Wusch ist lässt sich das beim nächsten Mal einrichten.“
„Du warst schon nicht beim Grill, als ich kam.“
„es reicht doch völlig wenn einer da ist. Zu zweit ist es eh immer so eng!“
„Frank!“ Langsam verlor ich die Geduld. „Lukas war auch nicht da!“
„Ich sagte ja bloß einer, nicht Lukas!“
„Womit wir wieder beim Thema sind! Du hättest mir sagen sollen, wer der eine ist!“ ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Und du auch Lukas.“
„Als Gastgeber muss man halt auch mal durch das haus gehen und alle Gäste begrüßen.“
Es war fast ein Vergnügen Frank dabei zuzusehen, wie er sich wand wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber es war wirklich nicht glaubwürdig, womit er da versuchte sich rauszureden. Lukas sah keineswegs aus, als hätte er sich einfach so freiwillig dieser Auffassung angeschlossen. Ein Blinder konnte erkennen, welche große Freude es ihm bereitete mit Kohle und Feuer zu spielen.
„Lukas du kannst mir doch nicht erzählen, dass du das hier freiwillig einem anderen überlassen hast!“
„Ich habe es bloß jemanden machen lassen, der dafür besser geeignet ist. Das heißt ja nicht, dass mir das Grillen keinen Spass mehr macht.“
„Nennen wir das Kind doch beim Namen.“ Plötzlich änderte Frank sein Verhalten um 180°. „Es tut mir leid, wir haben einen Fehler gemacht. Irgendwie hatten wir wohl gehofft dich schützen zu können.“
Damit war das Thema für uns erledigt.
Den Rest des Abends saßen wir zusammen am Grill und unterhielten uns über dies und das. Wir verstanden uns einfach prima. Als wären wir schon immer die dicksten Freunde gewesen. Auf Frank und mich traf das ja auch zu. Ebenso auf Frank und Lukas. Aber wie hatte ich Lukas bloß so lange für einen Idioten halten können? Er war so ein lieber Kerl, lustig und ein prima Kumpel dazu. Das war wohl einer meiner größten Fehler in den letzten Jahren. Und davon hatte ich weiß Gott nicht wenige gemacht. Ich hoffte bloß, dass es jetzt nicht zu spät war. Es würde mir sonst sehr schwer fallen, mir selbst zu verzeihen, dass ich mir eine solche Freundschaft hatte entgehen lassen.
Wir merkten gar nicht, dass der Abend, oder sollte ich besser sagen die Nacht schon recht weit fortgeschritten war. Irgendwann raffte Frank sich allerdings auf, die Gäste so langsam rauszuschmeißen. Keiner von uns hatte irgendwie wirklich Lust aufzustehen, durchs haus zu laufen und jedes Zimmer nach zurück gebliebenen Partyleichen zu durchsuchen. Also blieb dieser ungeliebte Job an Frank alleine hängen und ich kurz vor Morgengrauen mit Lukas im Garten zurück.
„Ich weiß, dass du mich nie besonders mochtest.“ Begann er ganz unvermittelt zu reden. „Ich kann mir schon denken, dass du…na du musst nicht extra nett zu mir sein, nur weil Frank da ist.“
Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Ich fiel aus allen Wolken, irgendwie war ich der Meinung, dass wir heute wirklich gut miteinander ausgekommen waren. So schüttelte ich bloß den Kopf.
Er sprach weiter. „Ist ja auch egal. Also ich meine es ist eigentlich egal, was du von mir hältst.“
„Egal?“ flüsterte ich verunsichert.
„Ich mag dich auf jeden Fall. Du denkst wahrscheinlich, dass ich dich gar nicht genug kenne. Aber du kennst mich ja auch nicht. Aber ich weiß mehr über dich, als du vielleicht denkst. Schließlich ist Frank ja auch mein bester Freund. Nicht nur deiner.“
Da musste ich ihm zustimmen. Auch wenn ich immer noch nicht genau wusste, worauf er eigentlich hinaus wollte.
„Na ja: lange Rede kurzer Sinn.“ Er sprach einfach weiter, als erwarte er auch gar keine Antwort von mir. „Ich verprügele ihn mit dem größten Vergnügen. Für dich, also wenn du willst!“
„Wen?“ fragte ich jetzt endgültig völlig verwirrt.
„Na, Charly.“
Jetzt musste ich lachen.
„Das war kein Witz!“
„Ich weiß, danke Lukas. Das ist wirklich lieb von dir!“ wieder musste ich lachen. „Aber das ist wirklich nicht nötig. Damit komme ich schon alleine zurecht.“
Irgendwie sah er enttäuscht aus.
„Falls ich aber mal Hilfe brauchen sollte, welcher Art auch immer, so komme ich gerne auf dich zurück!“
„Ich wollte es nur gesagt haben!“
„Dann muss ich aber auch noch etwas sagen. Es ist keineswegs so, dass ich dich nicht mag.“ Das musste ich jetzt einfach klarstellen. „Es ist auch nicht so, dass ich dich früher nicht gemocht hätte. Ich kannte dich nicht. Da hattest du recht!“
Lukas schwieg Er schien keineswegs vorzuhaben es mir leicht zu machen. Das brachte mich zum schmunzeln.
„Ich bin das selber schuld, das weiß ich. Ich habe nie versucht dich kennen zulernen.“
„Schon gut, das trifft ja wohl auf uns alle zu. Freunde sind wichtig.“
„Sind wir Freunde?“ ich wollte es jetzt aus seinem Mund hören. Wenn ich diesmal nach Hause fuhr hatte ich nicht vor wieder rum alle Brücken hinter mir abzubrechen.
„Ja, ich denke schon. Aber du solltest dich mal öfter melden. Wieso kommst du nie zu Besuch?“
„Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Aber ich versuche mich zu bessern.“
„Das sollten wir wohl alle! Beim nächsten Mal lassen wir dich nicht ins offene Messer laufen.“
„Das ist nett!“ lachte ich.
„Ich bin tot! Bist du auch so müde?“
„Absolut, Lukas! Es war male wieder ne tolle Party. Beim nächsten Mal bin ich auf jeden Fall wieder dabei, dass lass ich mir bestimmt nicht mehr entgehen. So viel Zeit muss sein.“
„Dann bringst du aber auch deinen Mann mit, damit wir den endlich mal kennen lernen.“
„Das lässt sich bestimmt ändern. Schon vorher, denke ich. Falls ich wirklich schon vorher heirate. Dann kommt ihr doch auch! Oder?“
„Klar, aber was soll denn falls heißen? Es klang eher so, als sei das beschlossene Sache.“
„ Natürlich werde ich heiraten.“
„Dann kommen wir auch zur Hochzeit, wenn du nicht wieder vergisst uns einzuladen.“ Er sah mich gespielt böse an.
„Ganz sicher nicht!“
„Soll ich dich noch nach Hause bringen?“
„Nein, das ist nicht nötig. Ich wohne ja direkt gegenüber. Das schaffe ich schon. Ihr kommt hier alleine klar?“
„Sicher, geh nur. Warst du heute überhaupt schon zuhause, Katrin?“
„Nein, um ehrlich zu sein. Die Party war verlockender.“
Wir grinsten beide und verabschiedeten uns.
Frank traf ich an der Haustüre, während er die letzen Leute in seiner ureigenen freundlichen Art nach draußen geleitete.
Das Gespräch mit meinem Vater hatte sich erledigt. Er wusste es bereits. Benjamin hatte, ganz Gentleman zuerst um seine Erlaubnis gebeten. So konnte ich zurück fahren. So sehr mir der Abend hier Spass gemacht hatte, so schnell wollte ich jetzt auch wieder nach Hause. Es war stressig, emotional aufwühlend und alles in allem wieder etwas zu viel für mich. Dennoch würde ich dies Mal nicht lange brauchen um wieder zurück zu kommen.
Meinen Wagen hatte ich ein paar Straßen weiter geparkt. Schon der letzte Besuch bei meinem Vater hatte mich so aufgewühlt, dass ich dieses mal hatte verhindern wollen, dass ich wieder in diesem Zustand Auto fuhr. Der Spaziergang an der frischen Luft tat mir gut und gab mir etwas Zeit alles sacken zu lassen.
Es wurde schon langsam hell, als ich Franks Haus als einer der letzten Gäste verließ. Schon lange hatte ich es nicht mehr so lange auf einer Party ausgehalten. Es macht eben einen enormen Unterschied, ob man die besten Freunde um sich hat. Umringt ist von Leuten, die einen fast alle besser kennen, als man selbst. Und vor alle von Leuten, die man seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen oder richtig gesprochen hatte. Es gab so viel zu erzählen. So viele Neuigkeiten, und auch neue Freunde. Es tat mir jetzt schon leid wieder zurück zu müssen, schon jetzt hatte ich Heimweh. Ein Tag war aber auch einfach zu kurz. Ich hätte so gerne noch mehr Zeit mit Frank und Lukas verbracht, allein deswegen schon, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass ich Lukas so falsch eingeschätzt hatte. Und da er mich wirklich gut zu kennen schien, hätte ich ihn einfach gerne besser kennen gelernt. Ich wollte auf jeden Fall so schnell wie möglich zurück kommen und dann länger bleiben. Schließlich hatte ich gar keine Zeit für die Mädels gehabt. Ich hatte weder mit Tina noch mit Jelena ein Wort gewechselt. Das nahmen sie mir bestimmt übel. Vor allem Tina. Mir fiel nicht ein einziger Grund ein, wieso der Kontakt zwischen mir und meiner besten Freundin mittlerweile völlig eingeschlafen war. Zunächst hatte die Entfernung nicht das geringste Problem dargestellt. Wir telefonierten oft, schrieben uns, e-mailten und nutzen jede uns bekannte Art der Kommunikation. Wir hatten uns sogar mehr zu erzählen, als in den Jahren zuvor. Schließlich verfolgte einer den anderen nicht mehr auf Schritt und Tritt. Alles was man über Tag erlebte, stellte für den anderen eine große Neuigkeit da. Und man konnte prima über die mehr oder weniger interessanten neuen Leute reden, die man tagtäglich so kennen lernte. Ganz abrupt und plötzlich endete das jedoch. Sie rief nicht mehr an, wenn ich es nicht tat. Schrieb nur selten. Wenn sie schrieb, antwortete ich nicht mehr, weil ich nicht wusste, was ich schreiben sollte und am Telefon hatten wir uns vom einen auf den anderen Tag nichts mehr zu sagen. Ich war nicht wütend auf sie, und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass sie wütend auf mich war. Es war mittlerweile nur genauso normal nicht immer alles mit Tina zu bereden, wie es vorher gewesen war, eben genau das zu tun.
Jelena schrieb E-mails, aber es war ein mehr oberflächlicher Kontakt, unsere Leben drifteten zu weit auseinander, als dass der eine den anderen noch wirklich verstehen konnte. Aber sie hielt mich was viele Dinge zu Hause anging auf dem Laufenden. Hin und wieder richtete sie mir Grüße von Tina aus, die ich erwiderte, über die sie sonst jedoch nie ein Wort verlor.
Manchmal fragte ich mich, ob wohl irgendetwas nicht stimmte. Doch selbst wenn Frank versucht hätte es mir zu verheimlichen. Lukas das kleine Plappermaul hätte es mir eben sicher eiskalt aufs Brot geschmiert. Er war einfach grundehrlich. Etwas, das ich sehr schätze, auch wenn er schon so ehrlich war, dass er praktisch nichts für sich behalten konnte. Das sagte zumindest Frank. Ich würde da noch meine eigenen Erfahrungen machen müssen.
Ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, ob die beiden noch da waren, als ich ging. Ich hatte längst den Überblick verloren, aber Frank versicherte mir, dass sich im Haus nur noch Leute befanden, die er mehr oder weniger gut kannte, und dass er dafür gesorgt hatte, dass sich keiner in der Badewanne ertränken könne, oder im Alkoholrausch aus dem Fenster falle, oder die Treppe runter. Ein echtes Organisationstalent eben, dieser Frank. Aber er hätte es wohl erwähnt, wenn noch jemand da gewesen wäre, von dem ich mich unbedingt hätte verabschieden müssen.
Mein Kopf war voller Gedanken und dröhnte richtig. Könnte aber auch daran liegen, dass ich vielleicht doch etwas zu viel getrunken hatte. Ich versuchte mich an mein letztes Bier zu erinnern. Es musste schon einige Stunden her sein, denn es war mir völlig entfallen. So trottete ich die Straße herab und hätte unter anderen emotionalen Zuständen sicher schon viel früher gemerkt, dass mir jemand folgte.
Ganz plötzlich packte mich eine Hand von hinten an der Schulter.
Ich fuhr zusammen und schrie erschrocken auf. Doch ehe ich etwas sagen oder auch nur den Versuch unternehmen konnte wegzulaufen, hatte mein Verfolger mich schon zu sich umgedreht.
Mir stockte der Atem, denn er war bestimmt der Letzte, den ich jetzt erwartet hätte.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, Katinka.“
Mit offenem Mund starrte ich ihn an.
„Ich hoffe, du hast vor lauter Schreck nicht deine Stimme verloren.“ Frotzelte er. „Sehe ich denn so furchtbar aus?“ Er sah an sich herab.
Ich konnte nicht antworten, starrte ihn nur wie versteinert an.
„Soll ich dich zu deinem Auto bringen? Dann musst du nicht alleine durch dir Nacht rennen.“
„Das habe ich doch bisher auch getan.“ Es war das erste, was ich herausbekam, Nachdem ich endlich meine Stimme wieder gefunden hatte. Aber es klang bissiger, als ich beabsichtigt hatte.
Er störte sich nicht daran. „So ganz stimmt das ja nicht.“ Seine Hände steckten in seinen Hosentaschen, während er mit seinem Fuß Kreise auf dem Boden zog und auf die Erde starrte. „Immerhin laufe ich jetzt schon hinter dir her, seit du Franks Haus verlassen hast.“ Er zog verlegen die Schultern hoch. „Du weißt schon, dass du einen riesen Umweg gegangen bist?“
„Und du weißt, dass du ein irrer Stalker bist?“ scherzte ich. Es tat mir allerdings sofort wieder leid, schließlich hatte ich mir gewünscht, dass er mit mir redete, oder mir zumindest zuhört. Jetzt war er sogar von sich aus zu mir gekommen, wie konnte ich da nur so dumm sein und ihn direkt wieder vergraulen. „Tut mir leid, hab`s nicht so gemeint.“
„Doch das hast du. Ist aber ok. Ich hatte bloß ein ungutes Gefühl ein Mädchen einfach so alleine in der Nacht durch die Gegend rennen zu lassen. Da haben Frank und Lukas ja nicht gerade die Gentlemen raushängen lassen.“
„Ich hab gesagt, dass ich alleine klar komme. Stimmt ja auch. Berlin ist weitaus größer...“ Ich brach ab. Das war nicht die Art Gespräch, die ich mit ihm führen wollte, jetzt wo ich endlich die Chance dazu hatte. „Wie geht es dir?“ Ich hoffte die Frage war unverfänglich genug, als dass er seinen Vorstoß nicht gleich wieder bereute und den Rückzug antrat.
„Gut, gut. Du hast ja selbst gesehen, dass ich in der Hierarchie aufgestiegen bin. Ich darf jetzt sogar grillen.“
„Hmmm. Das habe ich gesehen. Schade bloß, dass ich nichts davon probieren konnte. Da kann ich deine Fähigkeiten gar nicht beurteilen.“
Er antwortete mir nicht, sah noch immer zu Boden und ging plötzlich weiter. „Wo steht denn dein Auto, eigentlich?“ Obwohl er ganz offensichtlich nicht die geringste Ahnung hatte, wo wir hingingen, ging er einfach weiter und achtete gar nicht richtig darauf, ob ich ihm folgte oder nicht.
Zuerst blieb ich noch überrascht stehen, entschied mich dann aber doch schnell ihm nicht zu viel Vorsprung zu geben. Wir schwiegen beide. Ich wusste einfach nicht, ob ich was sagen sollte, oder was. Schließlich wollte ich ihn nicht irgendwie verschrecken. Was dachte ich mir eigentlich? Er war doch kein Eichhörnchen, das beim kleinsten Geräusch hysterisch auf einen Baum flüchtete. Ich musste lachen. Er würde mit Sicherheit ein niedliches Eichhörnchen abgegeben.
„Was gibt es denn da zu lachen?“ Bevor ich antworten konnte redete er schon weiter. „Geh vor mir und schleich nicht so hinter mir her.“
Als ich nicht sofort reagierte, blieb er stehen.
„Los, geh schon!“
„Wieso?“ fragte ich irritiert.
„Weil ich es sage. So einfach ist das.“
Ich musste wieder lachen.
Er blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. So sah er wirklich seltsam aus und ich wusste noch immer nicht, was gerade eigentlich vor sich ging.
„Geh schon endlich weiter!“ Diesmal ließ er keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. „Wenn du vor mir gehst kannst du wenigstens nicht mehr auf meinen Hintern starren. So lustig ist der nämlich nicht.“
Ich ging an ihm vorbei. „Ich finde deinen Hintern nicht lustig...wieso auch?“
Doch bevor er noch irgendwas sagen konnte waren wir auch schon an meinem Auto angekommen. Das war mit Sicherheit die skurrilste Unterhaltung, die ich seit langer Zeit geführt hatte. Dennoch tat es mir wirklich leid, dass sie schon vorbei sein sollte. Hatte es mir doch wirklich gut getan ihn in meiner Nähe zu wissen.
Kalla und ich hatten uns seit Ewigkeiten nicht gesehen oder gesprochen und unsere erste Begegnung ein paar Stunden zuvor war alles andere als angenehm oder optimal verlaufen. Als er dann so plötzlich hinter mir aufgetaucht war, hatte ich mich gleich wieder richtig wohl gefühlt. Er gab mir einfach immer noch ein gutes Gefühl. Mit ihm zusammen zu sein, auch wenn es sich nur um einen recht schweigsamen, nächtlichen Spaziergang handelte, war einfach etwas Angenehmes. Es fühlte sich so gewohnt an, so richtig.
Ich blieb stehen. „Da sind wir wohl.“
„So sieht es aus.“ Gab er zurück.
„Es war schön dich mal wieder zu sehen.“ Ich sprach plötzlich weit aus leiser, als es meiner Natur entsprach. Der Abschied machte mir Angst. Irgendwie wollte ich es, wenn möglich, noch hinauszögern.
„Hmm.“ Kalla gab keine richtige Antwort.
Bevor die Situation noch richtig peinlich wurde, oder ich noch etwas Falsches sagte, beschloss ich mich dem Unausweichlichen zu stellen und schloss mein Auto auf. „Auf wiedersehen.“ Plötzlich tat es richtig weh ihn anzusehen. Es tat weh, nicht zu wissen, was ich sagen sollte. Wobei ich ihm doch so viel zu sagen hatte. Ich wusste bloß nicht wie, oder womit ich anfangen sollte. Aber egal was ich sagte, es wäre wohl ohnehin nicht angebracht. Ich öffnete die Türe und wollte einsteigen, drehte mich dann aber doch noch mal zu ihm um.
Just in diesem Moment beugte er sich zu mir und küsste sich. Zunächst war es nur eine flüchtige, schüchterne Berührung. Doch dann legte er blitzschnell seine Hände um meine Hüften und zog mich zu sich heran.
Es ist mir nicht möglich zu sagen, wie lange wir so dort standen, als ich nach Luft schnappte. Ich wusste nicht mal wieso. Es war mir wohl nie so gleichgültig gewesen, ob ich noch atmen konnte oder nicht. Doch bevor ich auf diese überraschende Wendung der Nacht irgendwie reagieren konnte, drehte er sich um und ging weg. „Komm gut nach Hause.“ Rief er, drehte sich noch einmal um und grinste mich an. „Ach ja, viel Glück.“
Ich blieb fassungslos zurück, sank in den Sitz meines Autos zurück und wo mir noch vor ein paar Minuten so viel durch den Kopf gegangen war, war jetzt gar nichts mehr. Zu gerne wäre ich ihm nachgelaufen, doch meine Knie gaben einfach nach. Ich zitterte, auch wenn es kein völlig unangenehmes Gefühl war. Ihm nach zu gehen hätte wohl ohnehin nichts mehr gebracht, er war längst um die nächste Ecke verschwunden.
So viel also zu meinem Plan einer Heimfahrt, bei der ich nicht emotional aufgeladen war.
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2008
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