Cover




Es war einmal ein schöner Tag. Die Vögel sangen und Italiens heiße Sonne brannte auf die Piazza nieder. Die Leute hetzten nicht von einem Geschäft zu einem anderen, sondern ließen sich Zeit. Vor dem Palazzo war ein Markt aufgebaut und die Leute beobachten aufmerksam die Ware. Was sie nicht bemerkten, war ein dumpfer Schrei aus einem der Säle im Palazzo.
Nur eine Hündin spitzte die Ohren und schien den Palazzo aufmerksam zu beobachten. Eine Zeit lang blieb es leise, beängstigend leise. Ohne, dass einer der Leute auf dem Markt etwas von dem Szenario mitbekam, spielte sich in der großen Halle der Palazzos eine grausame Szene ab. Ein Mann stand im Eingang einer großen Halle und feuerte Blitze auf vier kleine Mädchen, sie waren höchstens 3 Jahre alt, deren Mutter und den Vater ab. Physikalisch unerklärlich flogen die Blitze auf die Mädchen zu. Der Vater stürzte zu dem Mann zu, nachdem er der Mutter etwas zugeflüstert hatte. Die Mutter nahm ihre vier Töchter bei der Hand und während die Männer sich umrundeten und sich leise murmelnd fixierten, floh die Frau mit den Mädchen aus dem Palazzo.
Die Hündin sah sie aus dem Eingang rennen, die Frau mit einem tränenüberströmten Gesicht, aber wild entschlossen.
Und die Familie ward nimmermehr gesehen.

Erster Teil


Kapitel 1

Eine Hündin, mit geflecktem Fell, ziemlich heruntergekommen, saß nahe einer Schule auf einem Hügel. Sie schien die Schule scharf zu beobachten. Hätte sie noch bessere Augen gehabt, hätte sie in den Klassenraum sehen können, den man von ihrem Platz perfekt erkennen konnte.
Eine scheinbar ganz normale Klasse hatte gerade Mathematik. Doch, nein, so normal konnte diese Klasse nicht sein, keiner der Schüler war genervt oder machte den Eindruck Mathematik nicht zu mögen. Doch wer die Klasse besser kannte, wusste, dass sie auf einer Naturwissenschaftlichen Schule waren, noch dazu in der Klasse für die besonders an Mathematik Interessierten.
Eine Schülerin saß direkt in der ersten Reihe und spielte mit ihren schwarzen Haaren. Sie waren leicht gewellt und an den Haarspitzen bildeten sie kleine Locken. Das Mädchen war braun und hatte das typisch italienische Aussehen, was hier in Deutschland schon etwas Besonderes war. Aufmerksam beobachtete sie den Mann, der jetzt an der Tafel stand und etwas anschrieb. Sie notierte sich schnell etwas, dabei hörte sie dem Lehrer weiter zu.
„Wenn man jetzt die Gleichung in die andere einsetzt, kann man diese Gleichung nach x auflösen.“
Das Mädchen war gut in Mathe, auf ihrem Zettel war zu lesen:

3x + 4y = 20
9x – 2/3 y = 22


3x + 4y = 20 │-4y
 3x = 20 – 4y │:3
 x = 20/3 – 4/3 y

Einsetzen
9(20/3 – 4/3 y) – 2/3 y = 22
 60 – 12y – 2/3 y = 22
 60 – 12 2/3 y = 22 │60
 - 12 2/3 y =-38 │ : -12 2/3
 y = 38 x 3/38
 y = 3

Auflösen nach x:
3x + 4y = 20
 3x + 4x3 = 20
 3x + 12 = 20 │ - 12
 3x = 8 │ : 3
 x = 8/3

Während viele der anderen Schüler noch am rechnen waren, schaute sich das Mädchen im Klassenraum um. Wie wenige der deutschen Schulen war die Klasse ordentlich eingerichtet, es stand ein großer Schrank in der Ecke des Raumes, die Klasse hatte einen eigenen OHP, einen Over Head Projektor, die dazugehörige Leinwand, eine große Tafel und sogar einen Beamer an der Decke und einen eigenen Fernseher. Das Pult war an einer Seite, direkt mit der Wand verbunden. Von dort aus konnte der Lehrer sowohl den Beamer als auch den Fernseher bedienen, außerdem konnte man von dort aus die DVDs einlegen.
Die teure Einrichtung konnte man leicht erklären, die Schule war eine Privatschule, und zwar eine der besonderen Art. Wer wollte, dass seine Kinder auf diese Schule gingen, musste noch Schulgeld zahlen, und dass nicht zu knapp. Manche Schüler hatten natürlich auch ein Stipendium, doch hier wurde niemand dafür ausgelacht, dass er das Geld dafür nicht hatte, sondern gerade diese Schüler wurden besonders hoch angesehen, denn sie galten als die Elite.
Der Lehrer sah, dass das Mädchen mit den schwarzen Locken mit dem rechnen fertig war, und rief sie auf:
„Elvira, wärst du so nett und würdest die Aufgabe an der Tafel vorrechnen?“ Diese nickte und antwortete:
„Sehr gerne.“ Elvira hielt viel von Höflichkeit, doch das wäre nicht nötig gewesen, der Lehrer blickte Elvira bewundernd an, es war klar, dass er viel von ihr hielt.
Elvira trat nach vorne und nahm sich ein Stück Kreide. Während sie wartete, dass ihre Mitschüler das Rechnen beendet hatten, schrieb sie die beiden Anfangsgleichungen an die Tafel.
Auf einen bedeutsamen Blick des Lehrers hin, fing Elvira an, ihre Rechnung anzuschreiben und dabei zu erklären.
Zwei Mädchen in der letzten Reihe, eine davon mit roten Haaren, schauten sich genervt an. Es war also nicht das erste Mal, dass Elvira es besser konnte als die andern.
Ein Junge, er hatte goldblonde Haare und eine leicht gebräunte Haut, schaute Elvira bewundernd an. Er war, abgesehen von einem anderen Jungen, der mit leicht verträumtem Blick auf Elvira starrte, der einzige, der Elvira anlächelte, als sie sich umdrehte, um zu gucken, ob es jemand nicht verstanden hatte.
Suchend blickte Elvira sich in der Klasse um, ihr Blick blieb nur kurz an dem verträumten Jungen hängen, er hatte seine Nase leicht mit Tinte bekleckst.
„Habt ihr noch Fragen?“, fragte sie. Eine Schülerin, sie saß dicht hinter Elviras Tisch, hob die Hand. „Ich verstehe den Schritt nicht, bei dem du die minus 38 durch die minus 12 und 2 Drittel teilst.“
Elvira deutete auf die Stelle an der Tafel und das Mädchen nickte.
„Also, ich habe die minus 12 zwei Drittel umgeformt zu minus 38 Drittel. Dann habe ich, um die minus 38 durch die minus 38 Drittel zu teilen, mit dem Kehrwert multipliziert. Das Minus fällt weg, da Minus und Minus plus ergeben, wenn man sie multipliziert oder dividiert. Wenn man die also die 38 mit den drei 38teln multipliziert, kann man im Bruch kürzen, dabei fallen die 38 weg, also kommt 3 raus.“
Die Fragende nickte und sagte „Danke sehr.“, doch man sah, dass auch sie es nicht mochte, von Elvira belehrt zu werden.
Da sonst keine Fragen mehr auftauchten, ging Elvira zu ihrem Tisch zurück, an dem sie ganz alleine saß.
Dass sie scheinbar kaum jemand mochte, sondern die meisten, besonders die Mädchen, sie nicht mochten, schien Elvira nicht zu stören, oder sie zeigte es nicht. Sie konzentrierte sich vollkommen auf den Unterricht.

Nach der Stunde Mathe war die Schule aus, und Elvira ging, alleine, mit einer großen Traube von Schülern zu der Bushaltestelle. Die Schüler gingen alle zusammen mit ihren Freunden und Cliquen zusammen, nur Elvira nicht. Doch das war ihr egal. Sie hatte sich ein Buch unter den Arm geklemmt.
Plötzlich tauchte eine Hündin auf, sie heftete sich an die Fersen von Elvira, als wolle sie die Freundin von Elvira ersetzten, sodass Elvira nicht ganz so verloren aussah.
Doch sie erreichte genau das Gegenteil. Ein paar der Schüler drehten sich belustigt zu Elvira und der Hündin um. Ein Junge mit vielen Sommersprossen im Gesicht rief sogar:
„Na, Streber, auch endlich eine Freundin gefunden?“ Doch Elvira zeigte sich nicht im Mindesten beeindruckt. Sie zog nur spöttisch die Augenbrauen hoch und lief weiter. Ganz anders die Hündin. Als hätte sie verstanden, was der Junge gerufen hatte, zuckte sie zurück und verschwand im Gebüsch.
Gelächter folgte und sie gingen weiter zu der Bushaltestelle, der Bus kam immer zu früh, wenn er dann kam. Elvira musste in eine andere Richtung als die meisten, und sie hatte noch eine Weile Zeit.
Fröstelnd stand Elvira an der Haltestelle. Jetzt fing es auch noch an zu nieseln. Da trat ein Junge auf Elvira zu. Es war der verträumte Junge. Er hatte noch immer den Tintenfleck auf der Nase.
„He… h…hey Elvira.“, stotterte der Junge.
„Hi Colin.“, antwortete sie, mehr aus Höflichkeit als aus wirklichen Interesse.
„W... Willst du v…vielleicht noch mit mir einen Kaffee trinken gehen? I… ich dache mir, d… dass du vielleicht nicht so gerne hier in der Kälte rumstehen willst. D…dann k… könntest du einfach den nächsten Bus nehmen?“ Hoffnungsvoll starrte Colin Elvira an, doch Elvira wollte nicht mit Colin in ein Café gehen, sie hatte noch so viel zu tun.
„Ach Colin, tut mir Leid, also ich kann wirklich nicht, ich muss den Bus jetzt nehmen, ich muss nach Hause und außerdem brauche ich sowieso immer so lange, das kann ich mir wirklich nicht leisten, nächstes Mal, ja?“ Colin war enttäuscht, doch so leicht ließ er sich nicht abschütteln.
„I… Ich könnte ja m… mitkommen, d… dann machen wir die Hausaufgaben zusammen?“
„Ach Colin, heute ist es wirklich ungünstig, zu Hause sind wir wirklich nicht auf Besuch eingestellt, vielleicht ein anderes Mal.“
Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Colin mit nach Hause zu nehmen und einen Auftritt vor ihn legen, wo sie, ziemlich zickig, ihr Geheimnis preisgab. Sie sah Colin vor ihrem inneren Auge geschockt dastehen. Doch sie wusste, dass Colin es weitererzählen würde und wer weiß, sie zerrissen sich jetzt schon ihre Münder über ihre abgetragenen Klamotten und ihr neuster Spruch, über den Elvira sich besonders aufregte, wenn irgendwer etwas tat, dass sie nie gemacht hätten, zum Beispiel freiwillig eine Matheaufgabe zu rechnen, riefen sie Hast du keine Hobbys? Natürlich hatte sie Hobbys, aber nie würde sie zugeben, dass ihr das Geld fehlte, um in einen Klub einzutreten oder eine Sportart zu betreiben. Die Bibliothek war umsonst und ihre Schulbücher auch, von daher hatte sie alles, was sie brauchte.
Trotzig verschränkte sie ihre Arme vor der Brust.
„He Elvira!“, sagte jemand, dicht hinter ihr und riss sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Wow, das musste sie verzeichnen, heute hatten sie zwei Leute freiwillig angesprochen.
Sie drehte sich langsam um und sah den goldblonden Jungen vor sich stehen.
„Hi Andrew.“ Andrew mochte sie eigentlich nicht, er war immer einer der ersten, wenn es darum ging, sich über sie lustig zu machen.
„Krasse Vorstellung, eben mit dem Hund, wie hast du ihn dressiert?“ Elvira verdrehte die Augen.
„Erstens, den Hund kannte ich nicht, also kann ich auch keine Vorstellung mit ihm geplant haben, zweitens, es ist eine Hündin, drittens, wenn du eine Hündin dressieren willst, kann ich dir ein Buch empfehlen, es heißt „Mein Haustier und ich“ und steht in der Bibliothek, falls du weißt, was das heißt, Bibliothek, und viertens habe ich dich nicht nach einem Kommentar darüber gefragt.“, demonstrativ drehte sie Andrew den Rücken zu und schaute auf ihre Armbanduhr, um zu gucken, wann der Bus kommen sollte, sie hoffte, dass er dieses Mal wirklich kam.
„Hey, Keep cool. Das war doch nur nett gemeint.“, widersprach Andrew, doch Elvira war sich sicher, dass es wieder nur eine Gemeinheit von Andrew war. Langsam drehte sie sich um und sagte, deutlich betonend zu ihm:
„Seit wann bist du nett zu mir? Hör zu, ich hatte nichts dagegen, als ihr mich ignoriert habt. Ich würde es vorziehen, wenn ihr das beibehalten würdet. Hast du es verstanden, oder soll ich es noch einmal wiederholen?“ Sie drehte sich wieder um und in dem Moment kam der Bus. Schnell stieg sie ein und ließ Andrew alleine bei der Bushaltestelle stehen.
Sie schlug ihr Buch auf und vertiefte sich in eine komplizierte Lektüre über den Beweis der Transzendenz von π. Durch lange Übung schaffte sie es, genau die richtige Zeit abzuschalten, außerdem hörte sie immer die Ansagen des Busfahrers, wenn er dann welche machte. Nach der ersten Linie musste sie noch in zwei weitere umsteigen und danach noch ein ganzes Stück laufen.
Sie wollte ja auf die Eliteschule gehen, deswegen musste sie auch die Konsequenzen tragen. Sie fragte sich manchmal, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich für das Stipendium auf der Schule zu bewerben, sonst hätte sie ihr Geheimnis nicht geheim halten müssen, sie hätte mit den anderen Kindern zu der städtischen Schule direkt neben dem Haus gehen können.
Auf der Eliteschule waren alle anders, viele waren reich und gingen nur wegen ihren Eltern auf die Privatschule. Nur wenige waren wie sie, sie wusste aber nicht, wer noch ein Stipendium hatte, sie vermutete, dass es niemand aus ihrer Klasse war.
Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Buch. Immer, wenn sie an so einem Punkt angekommen war, lenkte sie sich ab. Das klappte gut, denn Elvira konnte sich immer und in jeder Situation auf das konzentrieren, auf das sie Lust hatte.
Eigentlich war das ja feige, immer vor ihren Problemen wegzulaufen, doch sie rechtfertigte sich damit, dass sie ja immer wieder auf das Problem zurückkam und auch oft eine Lösung fand, wenn sie an etwas anderes dachte.


Kapitel 2

Elvira nickte dem Busfahrer zu, sie kannte ihn bereits, denn in der Linie fuhr nur ein Bus die Stunde und es waren nur ein Bus und zwei Busfahrer im Einsatz.
Jetzt war sie fast da. Eilig lief sie den Bürgersteig entlang, es war schon knapp drei Uhr.
Während sie wie von selbst eine lange Straße entlangging und in eine Seitenstraße einbog, dachte sie weiter über π nach. Sie trat in einen kleinen Seitenweg und ging ihn entlang, wobei sie versuchte, möglichst keine der Büsche am Wegrand zu zertrampeln. Am Ende des Wegs war ein großer Platz zu erkennen. Elvira war jetzt wieder ganz bei dem Weg, den sie zu gehen hatte. Jedes Mal, wenn sie aus dem Seitenweg trat, musste sie an ihre Vergangenheit denken.
Auch dieses Mal war es ein Schock, auf den großen Platz zu treten. Durch den Weg war man jetzt genau frontal vor einem großen Gebäude. Es war groß und ragte pompös über den anderen auf. Links und rechts von der Steintreppe, die zu dem erhöhten Portal führte, waren große Steinplateaus, wie ein Altar sahen sie aus. Früher hatte sie dort oft gesessen und nachgedacht, doch seit dem einen Erlebnis war alles anders geworden. Sie hatte endlich erfahren wer sie war.
Auch jetzt spielten Kinder auf den Plateaus, genau wie sie damals, unwissend und glücklich. Auch sie würden irgendwann erfahren, wer sie waren. Doch noch waren sie zu klein, um es zu verstehen. Zu naiv. Elvira konnte sich noch gut an die Nacht erinnern, als sie ein Kinderschreien gehört hatte. Sie hatte ihr Fenster geöffnet, um in den Hof hinaus zu schauen. Sie hatte nur eine kleine Gestalt auf dem Felsplateau und einen dunklen Schatten in einer der Seitengassen gesehen. Nach einiger Zeit, kamen die Hausmütter aus dem Portal und nahmen das Kind mit hinein. Der Schatten verschwand und das Kind kam in das Haus, zu ihnen, jetzt war es einer der Kinder, die auf ebendiesen Felsplateau spielten.
Seit dieser Nacht hatte Elvira begriffen, was es bedeutete ein Waise zu sein, im Waisenhaus zu leben.

Elvira stieg die Steintreppe zu dem Portal hinauf und drückte gegen die Tür. Sie war unverschlossen, wie immer um diese Zeit. Langsam trat sie in die Halle. Die Fliesen waren wie ein Schachbrett ausgelegt und in der Mitte des Raumes stand eine Büste auf einem Steinsockel. Elvira fand die Büste sehr hässlich, immer erinnerte der Kopf sie an einen Geköpften, der Schöpfer hätte vielleicht noch etwas Oberkörper abbilden können. Die Büste stellte Theodor Heuss dar, nach ihm waren auch dieses Waisenhaus und der Platz und die Schule nebenan benannt. Sie hatte sich schon oft den Text, der auf dem Sockel stand, durchgelesen. Theodor Heuss war der erste Bundespräsident nach dem zweiten Weltkrieg gewesen.
Elvira durchquerte die Halle und klopfte an einer Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ein und fand sich in der Küche wieder.
„Hallo Rosie!“, begrüßte sie die Köchin. Diese blickte auf und lächelte.
„Ah, hallo Elvira. Dein Essen steht hinten, in der Mikrowelle, du weißt ja. Wie wars in der Schule?“ Elvira ging zu einer Mikrowelle am Ende des Raumes und stellte sie auf fünf Minuten. Solange würde es wohl dauern, bis ihr Essen ganz warm war, nicht nur außen.
„Ja, es war ganz gut. Wie immer eigentlich. Und, haben die kleinen wieder mit dem Essen um sich geworfen?“, fragte sie, da sie nicht mit den anderen Essen konnte, war sie jeden Tag auf Rosies Auskunft angewiesen.
„Nein, zum Glück nicht, heute waren sie ganz manierlich. Denen hätte ich aber auch das Essen gestrichen, den ganzen Tag, dann hätten sie mein Essen bestimmt besser zu schätzen gewusst. Vielleicht sollte ich es trotzdem machen.“
Elvira ging zu der Mikrowelle, ihr Essen dampfte bereits. Sie nahm sich Besteck aus einer Schublade und setzte sich zu Rosie an einen Tisch, wo diese gerade dabei war, einen Kuchenteig zu kneten. So wie der Teig klebte, war es wahrscheinlich ein Hefeteig.
„Nein, wenn sie sich heute gut benommen haben, würde ich ihnen das Essen lassen. Sonst haben sie diesen Trotz noch mit drin, da sie dann denken, dass egal ist was sie tun, sie trotzdem bestraft werden. Dann bessern die sich nie, und werden ihnen auch weiterhin Probleme machen.“
„Kluges Mädchen. Ja, manchmal frage ich mich, woher du das alles weißt.“ Nachdenklich blickte sie den Teig an.
„Na, du gehst ja auch auf diese Eliteschule. Da bist du sicher am besten aufgehoben.“ Jetzt lächelte sie Elvira wieder an und widmete sich erneut dem Hefeteig.
Den Rest des Essens verbrachte Elvira schweigend, während Rosie erzählte. Sie erzählte gern und viel, doch Elvira störte das nicht. Sie fühlte sich wohl bei Rosie, denn sie war die einzige, die sie so respektierte, wie sie war. Sie hatte keine Freunde und ihre Zimmergenossin bekam sie selten zu Gesicht.
„Ah, du hast ja aufgegessen.“, unterbrach Rosie ihre Gedanken. „Ich hab von meinem Lieblingsdessert noch ein Schälchen im Kühlschrank, das kannst du essen.“
„Nein, danke, aber ich habe keinen Appetit. Du kannst ihn ja Frau Kühnert schenken, sie mag ihre Desserts doch immer so.“ Sie stand auf, in der Hoffnung, dass Rosie es dabei belassen würde, doch kaum, dass sie ihre Schulmappe aufgehoben hatte, setzte sie zu Protest an.
„Nein, Elvira, dieses Mal nicht, du hast letztes Mal schon abgelehnt, außerdem bist du mager wie eine Bohnenstange, irgendwann fällst du uns noch vom Fleisch.“ Sie trat ein paar Schritte vor, mit dem Dessertschälchen in der einen Hand. Sie gestikulierte wild und Elvira wollte sich schnell von ihr verabschieden.
„Rosie, du weißt doch, Mast ist verboten worden“, sagte sie trocken und Rosie gluckste. Dabei warf sie die eine Hand hoch in die Luft, es war leider die Hand mit dem Dessert. Weiße Creme mit roten Punkten von Erdbeersoße flog durch die Luft und rieselte über die Küche nieder. Die frischgeputzte Küche hatte jetzt einen leichten Touch von Sommer, denn die Sprenkel erinnerten Elvira an Vanilleeis mit Erdbeeren. Sie ging zu der Anrichte hinüber und nahm mit dem Finger etwas von dem Dessert von der Anrichte und steckte sich den Finger in den Mund.
„Ja, dein Dessert schmeckt wirklich gut.“, sagte sie zu der verdatterten Köchin, dann ging sie schnell aus der Küche.

Kapitel 3

Elvira ging mit schnellen Schritten die große, geschwungene Treppe hinauf. Ihr Zimmer lag ganz am Ende des Ganges. Als sie an den anderen Zimmern vorbeiging, hörte sie von drinnen oft großes Geschrei und Gezeter, sie wohnte in dem Trakt, in dem die kleinen Kinder lebten. Doch sie hatte Glück mit ihrem Zimmer, denn ihre Mitbewohnerin, ein großes, dünnes Mädchen namens Julia, ging in ein Internat und kam nur in den Ferien in das Waisenhaus zurück, die restliche Zeit hatte sie für sich.
Sie öffnete die Tür und trat in ihr Zimmer. Mit einem Seufzer stellte sie ihre Schultasche an ihren Schreibtisch und setzte sich. Ihr Zimmer war karg eingerichtet, zwei Betten standen gegenüber an zwei Wänden, die Schreibtische daneben. Sie hatten außerdem einen Schrank mit zwei Fächern, jeder bekam ein Fach. Sie hatten keine Poster aufgehangen, nur an der Wand, an der Elviras Schreibtisch stand, hatte sie ein Bild angepinnt, es zeigte einen italienischen Sandstrand.
Auf dieses Bild blickte sie jetzt, sie versank in ihm. Fast spürte sie die Sonne auf ihrer Haut, sie spürte den Wind und den Geruch des Meeres. Sie wusste genau wo sie hingehörte. Sonne, Wind und Palmen, das brauchte sie.
Langsam kam sie wieder in die Realität zurück. Traurig blickte sie aus dem Fenster. Es regnete.
Sie nahm ihre Schulbücher aus der Tasche und fing an, ihre Hausaufgaben zu machen. Mathe, das fiel ihr immer sehr leicht, Erdkunde, Physik und Deutsch. Meistens waren die Hausaufgaben nicht viel, selbst auf der Privatschule gaben die Lehrer nicht viel auf.
Besonders für Erdkunde gab sie sich heute besonders viel Mühe. Sie hatten ein laufendes Projekt, bei dem jeder Schüler aus der Klasse ein Land aus Europa vertreten sollte. Sie hatte sich natürlich Italien ausgesucht, Italien faszinierte sie. Die heutige Aufgabe war, sich eine besondere Stadt auszusuchen und einen kurzen Bericht über die Stadt zu schreiben.
Also ging sie in das Zimmer nebenan, dort stand der Internatscomputer, ein weiterer Vorteil ihres Zimmers. Trotzdem nervte es Elvira, ihr größter Wunsch war, abgesehen von der Rückkehr nach Italien, einen Laptop zu besitzen. Deshalb gab sie Nachhilfe in Mathematik, Biologie, Physik, Chemie und Informatik. Außerdem half sie sowohl der Schule als auch dem Waisenhaus mit den Computern, da diese erst seit kurzer Zeit im Internet waren, sie hatte ihnen dabei geholfen, hatte ihnen die Vorteile des Computers nahegelegt und stand ihnen jetzt bei der Anwendung und kleineren und größeren Problemen zur Seite. Sie sparte jeden einzelnen Euro, um sich ihre beiden sehnlichsten Wünsche zu erfüllen. Das Waisenhaus unterstützte sie in der Finanzierung ihrer Kleidung und ihrem Essen, doch Taschengeld bekam sie kaum.

Sie recherchierte im Internet, denn sie konnte sich nicht entscheiden, über welche Stadt sie in Erdkunde berichten sollte. Einerseits wollte sie ja unbedingt über Venedig schreiben, doch auch Siena interessierte sie, genau wie Florenz.
Venedig war eine tolle Stadt, sie kannte die Bilder aus dem Internet und wusste genau, wie toll die Kanäle mit den vielen Brücken und Gondeln waren, der Markusplatz und die Kirchen, doch andererseits wurde auch oft gesagt, wie sehr es dort stinken sollte. Da gefiel ihr Florenz besser. Der Name von Florenz kam von Julius Cäsar, der die Stadt gegründet hatte und sie Florenta, die Blumige getauft hatte, da der Reichtum einer Familie, der Medicis, allein von der Herstellung von Parfüm kam. Kulturell war die Stadt hochentwickelt und eine Menge Künstler sollen hier schon einmal gewohnt haben, wie zum Beispiel Leonardo da Vinci, aber auch Wissenschaftler wie Galileo Galilei. Auch Florenz hat bedeutende Kirchen, unter anderen auch die Santa Maria del Fiore mit der riesigen Kuppel. Doch auch Siena hatte einen Reiz, Elvira wusste, dass Siena in viele Bezirke aufgeteilt war und einer Legende nach war Siena früher in 14 Bezirke aufgeteilt war, die nach dem astrologischen Tierkreis benannt waren. Diese Bezirke sollten alle zwei Verbündete und einen Feind unter den anderen Bezirken gehabt haben und die Rivalität, besonders bei dem Palio di Siena, das jetzt auch noch stattfand, soll sehr groß gewesen sein.
Elvira überlegte, dass es ihr besser gefallen würde, wenn die Stadt quadratisch, oder zumindest kreisförmig in die Bezirke aufgeteilt gewesen wäre, nicht in dieser merkwürdigen, muschelförmigen Art.
Also entschied sie sich für Venedig. Zuerst informierte sie sich bei Wikipedia. Sie las, dass Venedig insgesamt 150 Kanäle, 400 Brücken und 118 kleine Inseln hatte, auf denen es gebaut war. Zahlen und Fakten interessierten sie immer am meisten, doch es war schwer sich allein mit den Fakten ein Bild der Stadt zu machen. Deshalb suchte sie sich immer Vergleichswerte. Sie wusste, dass Hamburg ebenfalls viele Brücken hatte und gab „Hamburg“ in Wikipedia ein. Doch als sie auf Enter drückte, wurde der Bildschirm schwarz und der Computer gab ein ungesundes Geräusch von sich.
„Schrottkiste“, sagte Elvira, dann seufzte sie und schaltete den Computer aus. Dann würde sie eben in die Bücherei gehen müssen und sich dort einen, wenn nicht gleich zwei Reiseführer über Venedig ausleihen, das Projekt brauchte sie ja so oder so erst für übermorgen. Und dann war schon der Termin für die Halbjahrszeugnisse. Sie freute sich eigentlich auf die Zeugnisse, ihr Zeugnis war ganz gut, wenn auch nicht so gut, wie sie sich es erhofft hatte. Sie bekam natürlich ihre Eins in Mathe, Bio; Chemie, Physik, Erdkunde und Informatik, doch in den anderen Fächern wahrscheinlich überall eine 2. Mündlich war sie nur gut, wenn sie etwas schon einmal gelerntes anwenden konnte, doch Handlungen zu interpretieren war gar nicht ihr Ding.
„Hey!“, ein Mädchen schaute zur Tür hinein. Es war Leonie. Sie war immer nett zu ihr gewesen, wahrscheinlich war sie auch ziemlich beliebt.
„Na, ist der Computer wieder hängengeblieben?“ fragte sie, doch Elvira wusste, dass sie das nur fragte um nett zu sein.
„Ja.“, antwortete sie knapp, dann wandte sie sich wieder ihren Aufzeichnungen zu. Vielleicht konnte sie den Vortrag auch ohne die Hilfe der Bibliothek oder des Internets machen, von ihren Recherchen war viel hängengeblieben.
„Oh, das tut mir Leid. Das passiert heute nicht zum ersten Mal. Marie wollte heute auch schon dran, sie hat da so eine tolle Pflanze entdeckt, sie wollte etwas über sie nachlesen. Ich glaub sie ist in die Bibliothek gegangen. Der Computer geht wohl auf sein Ende zu.“ Elvira hob den Kopf. Es war wohl typisch, dass Leonie immer erst an andere dachte. Doch sie wollte nichts mit ihr zu tun haben. Keiner wollte ernsthaft etwas mit ihr zu tun haben, das wusste sie selber, wahrscheinlich war sie einfach zu sehr ein Einzelgänger.
„Ja, man kann von dem Computer nicht zu viel erwarten, schließlich habe ich ihn von einem alten Mann erbettelt. Ich werde aber mal gucken, ob ich ihn hinkriegen kann. Es könnte aber schwer werden. Ich glaub, er ist wirklich am Ende.“ Sie schaute Leonie nicht an, während sie das sagte, sie wollte nicht sehen, wie Leonie jedes ihrer Worte analysierte und dann wieder versuchte nett zu ihr zu sein. Als ob sie mich wirklich mag, dachte sie traurig, dann blickte sie wieder auf ihr Blatt.
„Toll. Vielleicht kann ich Schwester Elise davon überzeugen, dass wir einen neuen Computer brauchen. Obwohl, so viel Geld kriegen wir ja auch nicht zur Verfügung gestellt. Ich glaube sie sind froh, wenn sie die Rechnungen bezahlen können.“
Elvira blickte auch jetzt nicht auf, doch an einem leisen Geräusch konnte sie hören, dass Leonie gegangen war.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass sie jetzt erleichtert war, doch stattdessen überkam sie eine Welle der Traurigkeit. Keiner mag meine Anwesenheit wirklich. Doch dann lachte sie. Es war ein kaltes, hartes Lachen, ohne Freude darin. Es kam plötzlich, doch nicht überraschend. Jetzt werde ich auch noch depressiv, nur weil ich nicht die Freundin von der tollen Leonie bin. Jetzt ist erst einmal Italien dran. Das ist ein tolles Land. Wenn ich doch wüsste was mich damit verbindet. Warum ich italienisch sprechen kann, was mich zu diesem Land so hinzieht.
„Hey, Elvira!“ Wow, das war echt ein Rekord. Heute hatten sie schon vier Leute freiwillig angesprochen. Sie blickte zur Tür. Ein Mädchen stand da, sie war klein und ziemlich dick. Sie wusste, wer das war, es war Marta, oder die dicke Marta, wie sie sonst immer genannt wurde.
„Hey Marta. Wie war die Schule heute?“ Sie konnte es nicht glauben, heute war wirklich ein komischer Tag, erst waren eine Menge Leute nett zu ihr, okay es waren vier, aber für sie ein Rekord, dann war sie auch noch nett zu Marta, einem Mädchen, dass wirklich keinen guten Ruf hatte. Naja, vielleicht gerade deshalb, ich weiß genau, dass ich mit Leonie und den anderen aus meinem Jahrgang nicht mithalten kann, vielleicht suche ich mir deswegen Leute, die genau so sind wie ich, die mich bewundern und noch nicht darauf achten, dass sie immer beliebt sind und nur mit beliebten Leuten rumhängen. Ich suche Leute auf meinem Niveau.
„Ja, die Schule war gut. Heute habe ich mich in Bio sogar getraut mich zu melden.“, erzählte sie stolz und Elvira lächelte aufmunternd. Ihr Gesicht zuckte unter der ungewohnten Bewegung. Es musste lange her sein, seit dem sie das letzte Mal gelächelt hatte. Sie hoffte, dass es nicht zu sehr auffiel.
„Toll. Ich hab dir doch gesagt, dass du es kannst. Und, was hat dein Biologielehrer gesagt? Er hat sich doch bestimmt gefreut, dass du dich mal getraut hast, oder?“
Marta blickte traurig auf ihre Hände.
„Nein, er hat gar nichts gesagt. Ich dachte er würde sich freuen, er hat doch beim Sprechtag gesagt, ich solle mich mehr melden, da hatte ich das Gefühl, dass er sich wirklich freuen würde. Doch das war bestimmt nur gelogen, er wollte mich nur ermutigen, doch eigentlich konzentriert er sich viel lieber auf andere, hübschere als ich.“ Elvira wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Es stimmte, Marta war nicht hübsch, dick, pausbackig und rothaarig war nicht gerade das Schönheitsideal.
„Ja, vielleicht stimmt das, aber wenn es dich interessiert, mir geht es nicht anders. Ich glaube, wir müssen uns mit dem Gedanken abfinden, dass Lehrer auch nur ihren Beruf ausüben, Zuhause lachen sie darüber, wir sind nur zwei von wenigen, wenn wir auffallen wollen, müssen wir wahrscheinlich extrem aufdringlich sein, doch das bist weder du, noch ich. Lehrer sehen in uns wahrscheinlich keine Individuen, für sie sind wir Objekte, Dinge, die sie dazu bewegen müssen, das aufzunehmen, was sie wollen. Ich weiß, das tut weh.“, erklärte sie Marta bitter, doch dabei kamen ihr selber die Tränen, sie selber wollte bei den Lehrern etwas Besonderes sein, sie wollte nicht eine von Vielen sein, wenn sie schon nicht bei ihrem Bekanntenkreis Jemand sein konnte, dann doch wenigstens in der Schule, wo sie sich wohl fühlte und sich wirklich Mühe gab, gut zu sein.
Sie nahm Marta in den Arm, wahrscheinlich mehr, um sich selbst zu trösten als sie. Auch ihr rollten jetzt Tränen über ihr Gesicht.
An der jetzt offenen Tür lief ein Mädchen entlang. Elvira konnte durch ihren Tränenschleier nicht viel erkennen, doch als das Mädchen sie anschaute, sah sie unendliche Traurigkeit in ihren Augen. Der Blick war wie brennendes Eisen. Ihre Tränen erstarben sofort, sie konnte sich nicht von dem Blick so voller Traurigkeit lösen. Geschockt blickte sie auf die Türöffnung. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch immer die tiefe Traurigkeit.
Elvira bekam kaum mit, wie Marta wieder ging, dass sie auf dem Boden hockte und dass alle der Kinder, die an der Tür vorbeikamen sie verwundert anstarrten.
„He Elvira, du siehst ziemlich merkwürdig aus, vielleicht solltest du lieber zurück in dein Zimmer gehen, dass ganze Waisenhaus spricht schon von dir.“
Ich hasse sie alle. Sie sollen mich in Ruhe lassen, sonst wollen sie ja auch nichts von mir. Doch sie unterdrückte ihre Wut und ging langsam in ihr Zimmer, ohne den Jungen anzublicken.
Nie, nie wieder werde ich so reagieren. Wenn ich mich öffne, wie eben bei Marta, nutzen das so wieso wieder alle aus. Die können mich nicht unterkriegen.
Elvira nahm ihr Buch über die Transzendenz von π wieder heraus und erwartete das sie, wie sonst auch immer, sofort im Thema wäre. Doch das geschah nicht. Sie konnte sich, zum ersten Mal in ihrem Leben nicht auf das Buch konzentrieren.
Nach einer Weile war sie so wütend auf sich selbst und so angegriffen von dem traurigen Blick des Mädchens, dass sie aufgab und sich auf ihr Bett legte, die Hände an ihren Seiten verkrampfte und die Augen fest schloss.
Eigentlich wollte sie sich nur abreagieren, doch wegen der emotionalen Aufregung und der Ausnahmesituation heute, war sie so müde, dass sich ihre Hände entspannten und ihr Atem wieder ruhiger ging. Sie war eingeschlafen.

Mit einem Ruck erwachte sie. Im Raum war es dunkel. Sie blickte auf ihre Uhr, es war zwei Uhr in der Nacht.
Sie lag völlig angezogen auf ihrem Bett. Lautlos stand sie auf und zog ihre Schuhe und ihre Kleidung aus und ihr Nachthemd an. Bevor sie sich erneut ins Bett legte, ging sie noch zum Schrank und nahm eine Bürste heraus und fuhr damit durch ihre langen schwarzen Haare, die ihr fast bis zur Hüfte reichten. Die Nonnen hatten sie immer lang wachsen lassen, in der Hoffnung, dass sie deswegen von einer Familie adoptiert werden würde. Doch die Familien hatten immer andere Kinder genommen, die die artig lächelten oder einfach nur süß aussahen. Da konnte sie nicht mithalten.
Sie legte sich wieder in ihr Bett, doch sie konnte nicht einschlafen.
Da bekam sie plötzlich Lust, in einem Buch zu lesen, dass sie bekommen hatte, als sie alt genug war, um zu lesen. Es war ein Märchenbuch, doch die Märchen in ihm waren nicht die normalen, von den Gebrüdern Grimm oder anderen typische Märchen, sondern sie handelten von italienischen Legenden und Sagen.
Sie erinnerte sich noch genau, wie sie es in die Hände bekommen hatte, sie war mit den Schwestern und noch ein paar anderen Kindern auf den Flohmarkt gegangen, da hatte sie eine Frau angesprochen, sie war hübsch gewesen, hatte braune lange Locken gehabt und in ihrem Gewand hatte sie zauberhaft ausgesehen. Sie hatte keinen Stand, sondern ging über den Markt und sprach die Leute an, die ihr gefielen. Als sie sie gesehen hatte, war sie sofort zu ihnen gekommen und hatte einem anderen Kind ein Buch angeboten, doch die Schwestern hatten sie von der Frau weggezogen, als wäre sie kein guter Umgang für sie.
Später hatte Elvira eine tolle Brosche zu sehen bekommen. Auf ihr war ein Wappen zu sehen, mit sechs Kugeln in der Mitte, oben und unten jeweils eine und in der Mitte jeweils zwei. Auf der obersten Kugel waren drei Blumen.
Die Brosche faszinierte sie und sie blieb lange vor dem Stand stehen. Die Schwestern bemerkten sie nicht und dann kam die Frau wieder zu ihr.
„Das Wappen fasziniert dich, nicht wahr? Es könnte bedeutsam für dich sein.“, hatte sie mit leiser Stimme erklärt.
Elvira hatte ihr alles geglaubt und ehe sie antworten konnte, hatte die Frau ihr ein Buch und die Brosche mit dem Wappen darauf geschenkt. Dann war sie schon wieder verschwunden gewesen.
Jetzt nahm Elvira ebendieses Buch in die Hand und schlug es auf. Es war schon ganz zerlesen, so oft hatte sie es durchgeblättert.
Am liebsten mochte sie die Geschichte von dem Herrscher, der so gut war, er konnte allein mit seiner Konzentration Gegenstände verändern und konnte sich so stark konzentrieren, dass für ihn nichts unmöglich war.
Ein bisschen hatte sie sich immer in ihn versetzt, ihr gefiel die Vorstellung, dass nichts unmöglich ist, wenn man sich nur stark genug darauf konzentrierte.
Auch auf dieser Seite des Buches war das Wappen abgedruckt gewesen. Als sie älter war, hatte sie oft nach der Bedeutung dieses Wappens gesucht, doch sie hatte nichts gefunden, was sie weiterbrachte, doch sie hatte die unwahrscheinliche Hypothese, dass sie vielleicht mit den Medicis, von ihnen kam das Wappen, verwandt sein könnte. Doch das war sehr unwahrscheinlich, denn die Medicis waren sehr verteilt und sie hätten keinen Grund gehabt sie abzugeben, noch dazu in Deutschland und sie hätten ihren Nachnamen bestimmt nicht verschwiegen.
Es war wahrscheinlicher, dass die Frau fantasierte und ihr ohne Grund die Brosche und das Buch geschenkt hatte, doch sie wollte nicht glauben, dass die Frau, so hübsch und immer mit einem Lächeln auf den Lippen die Unwahrheit gesagt hatte.
Sie hatte die Frau nie wieder gesehen, obwohl sie ganz oft zu dem Flohmarkt gefahren war, jedes Jahr stand sie wieder dort, doch die Frau ließ sich nicht mehr blicken.

Sie las die Geschichte des Herrschers wieder, immer wieder, sie konnte sie bereits auswendig.
Irgendwann, es ging schon auf halb vier Uhr morgens zu, blätterte sie das Buch durch und blieb auf der letzten Seite hängen. Das Buch hatte einen festen Einband, doch er begann sich langsam zu lösen.
Da entdeckte sie einen Stern, ganz unten, dort, wo sich das letzte Blatt, das normalerweise an dem festen Einwand klebte, um es zusammenzuhalten, schon gelöst hatte.
Merkwürdig, der Stern war mit Tinte gemalt worden, nachträglich, doch wer würde denn unter das Blatt, das keiner abnehmen würde, einen Stern mit der Hand malen?
Ihr kam sofort die Frau in den Kopf. Sie stand unter Spannung und zog langsam, vorsichtig, damit das Blatt sich vollkommen lösen würde, das Blatt von dem Einband.
Ein Text war auf den Einband geschrieben worden. Elvira war fasziniert von den Worten. Sie las es laut vor, sie wusste nicht warum, doch sie tat es, aus einer Laune heraus.


“Vi prometto che continuare l'eredità dei Medici e di accettare i doni. Mi onore e la mia famiglia compiere il mio lavoro con onore.”


Ich verspreche, dass ich das Erbe der Medicis weiterführe und die Gaben annehme.
Ich werde meine Familie ehren und meine Aufgabe ehrenvoll erfüllen.

Ein Energiestoß durchfuhr Elvira, doch sonst blieb alles wie es gewesen war. Verwirrt blickte sie auf das Buch, doch es schien ihr keine Antworten zu geben, so legte sie es beiseite und fiel endlich in einen tiefen Schlaf.


Kapitel 4

Sonnenstrahlen weckten Elvira. Noch immer war sie an die Sonnenstahlen gebunden, und selbst die schwächlichen Strahlen hier in Deutschland machten sie glücklich. Sie sprang aus dem Bett und zog sich an. Sie konnte es kaum erwarten sich an das Fenster zu stellen und die warmen Strahlen auf ihrer Haut zu spüren. Sie stellte ihren Wecker aus, der genau in dieser Sekunde anfangen wollte zu klingeln, packte ihre Schultasche und rannte aus ihrem Zimmer und die Treppe hinunter, lautlos, sie wollte die anderen Kinder nicht aufwecken, die konnten noch mindestens eine Stunde lang schlafen.
Doch Elvira stand gerne früh auf, mit der Sonne und genoss es, durch das stille Haus zu gehen und dem morgendlichen Trubel zu entgehen. In der Küche traf sie Rosie, auch sie war schon früh auf, sie schmierte gerade Brote.
Elvira rief ihr einen Guten-Morgen-Gruß zu und nahm sich ein Brot. Dann war sie auch schon weg und lief draußen, in der frischen Morgenluft zur Bushaltestelle.
Die Sonne hatte immer eine krasse Wirkung auf sie, dann fühlte sie sich wie aufgeladen.
Während sie auf den Bus wartete, aß sie ihr Brot, dann holte sie wieder ihr Buch über π heraus und las darin, bis sie sich durch die ganzen Busse gearbeitet hatte und endlich bei ihrer Schule angekommen war.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es noch früh war, sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis ihr Unterricht anfing. Also setzte sie sich an einen Tisch. Sie hatte die Lehrerzimmer gut im Blick und jeder Lehrer musste unweigerlich an ihr vorbeikommen, um zum Lehrerzimmer zu kommen. Sie wusste nicht wieso, doch sie fühlte sich den Lehrern näher als den Schülern.
Sie holte ihren Block heraus und versuchte sich an die Informationen über Venedig zu erinnern, die sie einmal gelesen hatte.
Sie ordnete ihre Gedanken und schrieb alles nieder. Es war doch mehr gewesen, als sie gedacht hatte. Auf ein Mal zog sich ihr Magen zusammen. Sie blickte auf und ihr Herz tat einen Sprung.
Doch noch hatte sie die Ursache nicht gefunden. Langsam füllte sich die Schule, Lehrer und Schüler kamen und gingen an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Doch ganz hinten, in der Ferne, sah sie ein Auto. Sie wusste nicht wieso, doch sie mochte dieses Auto. Sie wusste auch, dass sie es noch nie gesehen hatte.
Eine Frau stieg aus und Elvira kam sie gleich bekannt vor. Sie mochte diese Frau, ja sie liebte sie fast.
Sie konnte sich diese Gefühle nicht erklären. Neugierig blickte der Frau nach, die jetzt über den Schulhof auf das Gebäude zuging. Sie wollte den Blick nicht von ihr wenden.
Sie kam die Tür hinein, auf dem Weg zum Sekretariat. Jetzt war sie näher und Elvira wusste, wer diese Frau war. Es war die Frau, die ihr auf dem Flohmarkt vor knapp sieben Jahren das Buch und die Brosche gekauft hatte.
Da fiel es ihr wieder ein, die merkwürdige Schrift auf der letzten Seite, der Energiestoß und überhaupt ihr Rätsel um ihre Herkunft.
Der Anblick der Frau war einzigartig.
Elvira sah sie durch den Korridor laufen, ihr weiter bunter Rock raschelte um ihre Füße, die in leichten römischen Sandalen steckten. Durch ihren schwungvollen melodiösen Gang wippten ihre schweren, großen Locken, mit bunten, zu ihrem Rock passenden Bändern durchsetzt, auf ihren Schultern. Ihr Oberkörper war ungewöhnlich zierlich, doch ihr Gesicht zog alle Blicke auf sich. Sie sah jung aus, obwohl sie einige Falten um die Augen hatte. Ihr Ausdruck war einzigartig unbeschreiblich, selbstbewusst und doch sensibel, zart aber bestimmt. Ein schneller Blick durch die ganze Halle, mit dem sie alles zu erfassen schien, blieb an Elvira hängen und ein wunderschönes Lächeln, dass sie mit ihrem ganzen Körper zu formen schien, ließ sie erstrahlen. Die Fältchen um die Augen verschwanden.
Die Zeit schien anzuhalten.
Nichts war jetzt mehr wichtig.
Die Frau war zurückgekehrt. Zu ihr.
Doch so schnell dieses Gefühl gekommen war, verging es wieder und zurück blieb nur die Realität. Der Unterschied war radikal. Die Frau war gekleidet in Jeans und ein weißes T-Shirt und einen schwarzen Blazer. Sie trug schwarze Schuhe und ihre tollen Locken waren kurz geschnitten. Ihr Gesicht war hart, Falten zierten ihre Züge.
Und trotzdem, ihr Gang war schwungvoll und sie zog alle Blicke auf sich. Und als ihre Blicke sich begegneten, strahlte sie ihr Lächeln und Elvira erkannte, wie sie wirklich war.
GLÜCKLICH
Wie heißt sie wohl? Fragte sich Elvira. Irgendeinen tollen Namen musste sie doch haben, einen Namen, der ihre Art zum Ausdruck brachte. Gabrielle. Nein, besser die italienische Aussprache, Gabriella.

Ein Lachen – in deinen Augen… vertreibt die blinde Wut
Ein Licht – in dir geborgen… wird Kraft in tiefer Not.
So wie die Nacht flieht vor dem Morgen, so flieht die Angst aus dem Sinn
So wächst ein Licht in dir geborgen, die Kraft zum neuen Beginn

Elvira ging zum Unterricht, doch sie konnte sich nicht so richtig darauf konzentrieren, immer wieder schweiften ihre Gedanken zu der Frau.
In den Pausen setzte sie sich extra an den Tisch bei dem Lehrerzimmer, um sie noch einmal zu sehen. Ich bin doch verrückt. Dachte sie, doch sie konnte es nicht lassen, immer, wenn sie die Frau sah, tat ihr Herz einen Sprung. Sie fühlte sich merkwürdig verbunden mit der Frau, doch diese beachtete sie nicht weiter, ein Lächeln, wenn sie sich in die Augen schauten, nichts weiter, sie sprach sie nicht mehr an, obwohl sie doch die war, die vielleicht etwas über ihre Vergangenheit wusste.
Elvira hätte sich selber schlagen können, für ihre Angst zurückgewiesen zu werden, dafür, dass sie sich nicht traute die Frau anzusprechen.
In den Stunden dachte sie nur noch an die Pausen, wenn sie die Möglichkeit bekommen würde, die Frau wiederzusehen. Sie wusste noch nicht einmal ihren Namen, geschweige denn ihre Fächer.

Von der Geschichtslehrerin wurde sie brutal aus ihren Gedanken gerissen. Mit einem Ohr hatte sie zwar zugehört, und sie wusste auch, worum es ging, doch auf die Frage wusste sie keine Antwort, da es darum ging die Handlung von König Ludwig dem 14. zu interpretieren. Sie antwortete nicht, sah ihr jedoch in die Augen, zum Zeichen, dass sie zwar aufpasste, aber keine Antwort hatte. Die Lehrerin bekam jedoch einen Anfall, was zwar nichts Neues war, es aber doch ungewöhnlich war, dass der Anfall ihr galt. Sie fühlte sich sehr schlecht, denn sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte und wollte eigentlich eine gute Schülerin sein.
Doch sie blickte der Lehrerin weiterhin in die Augen.
„Warum hast du nie eine Antwort auf meine Fragen? Bei der Lehrerkonferenz gestern wurde nur Gutes über dich gesagt, dass du so intelligent wärst und so aber ich konnte mich dem Lob nicht anschließen. Wenn du in der Oberstufe wärst, müsste ich dir eine fünf geben, mündlich.“ Das traf Elvira schwer. Sie konnte eine fünf kriegen. Dann würde sie das Abitur nicht schaffen. Sie, die doch eigentlich so viel von sich selber hielt, würde das Abitur nicht schaffen, sie würde schlechter sein als ihre Mitschüler, die doch teilweise nur schlecht waren, die einfach irgendetwas sagten, das noch nicht einmal gut durchdacht war, und die bekamen dann eine gute Note. Das war nicht gerecht.
Unverwandt blickte sie der Lehrerin in die Augen. Sie mochte sie nicht. Doch damit war die Lehrerin noch nicht fertig. Scheinbar störte sie noch etwas an ihr und weil sie gerade dabei war, wollte sie gleich alles sagen.
„Warum guckst du eigentlich so böse? Das ist komisch, es hat dir doch keiner etwas getan.“ Als Elvira nicht antwortete - sie fand nicht, dass sie böse guckte, vielleicht hatte die Lehrerin zu viel in den Blick interpretiert, deswegen blieb Elvira gerne bei den Tatsachen, um keine Fehler wie diesen zu begehen - hatte die Lehrerin wieder ein Problem damit.
„Ach, antworten tut man auch nicht mehr, du hältst dich auch noch für etwas besseres, ja?“
Elvira runzelte missbilligend die Stirn. Sie hatte nicht gedacht, dass die Lehrerin so schlecht von ihr dachte. Das erschütterte sie. Hinterließ sie einen so schlechten Eindruck? Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass ihr Blick böse war, aber wer weiß, Frau Kraupen war sowieso etwas eingebildet, alles, was nicht so war, wie sie es wollte, war falsch. Sie hatte Elvira auch schon als neunmalklug und ähnliches bezeichnet, vor der ganzen Klasse natürlich, damit es sie noch mehr traf.
„Na, kannst du mir dann wenigstens sagen, wann und womit die Französische Revolution angefangen hat?
Ja, das wusste sie. Natürlich. Es war ja auch eine Zahl. Es war der 14.07 (denn Zwei mal 7 war 14) 1789 (1+7=8, 1+8=9) es war der Sturm auf die Bastille.
„Die Französische Revolution fing am 14.07.1789 mit dem Sturm auf die Bastille an.“
„Na, immerhin hast du das wichtigste aus meinem Unterricht mitgenommen. Ist ja mal etwas Neues.“ Danach ignorierte sie sie.
Doch Elvira hatte schon lange gelernt, dass sie da einfach nicht mehr hinhören durfte, Frau Kraupen war einfach nur beleidigend.

Als Elvira endlich wieder im Waisenhaus war, stürmte sie direkt, ohne erst in die Küche zu Rosie zu gehen, in ihr Zimmer. Sie wollte in dem Buch nachschauen, was es mit der geheimnisvollen Schrift auf sich hatte, die sie gestern in der Nacht entdeckt hatte. Als sie in ihr Zimmer kam und das Buch von dem Schreibtisch nahm, blätterte sie aufgeregt zu der letzten Seite.
Doch die war leer.
Sie wusste genau, dass hier die Schrift gewesen war, und man konnte auch deutlich sehen, dass das letzte Blatt von dem festen Einband gezogen wurde. Doch die Schrift war nicht mehr da.
Wie konnte das sein? Sie wusste doch ganz genau, was da gestanden hatte, sie konnte die italienischen Worte immer noch vor ihrem inneren Auge sehen, sie hatte ein fotographisches Gedächtnis. „Vi prometto che continuare l'eredità dei Medici e di accettare i doni. Mi onore e la mia famiglia compiere il mio lavoro con onore.”
Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Warum sollte irgendjemand in ein Buch sein Versprechen schreiben, dass er die Gaben der Medicis annehme, die Familie ehrt und die Aufgaben erfüllt? Scheinbar hatte dieses Buch einem der Medicis gehört. Die Medicis waren eine italienische Familie gewesen, die ihr Geld durch Banken gemacht hatte. Sie waren in Italien die einflussreichste Familie in der Renaissance gewesen und sie hatte in der Hauptstadt der Kultur, in Florenz in dem Palazzo gewohnt. Doch welche Gaben sollte sie annehmen? Die Medicis waren im Bankenwesen begabt, ja, aber jetzt war diese Linie ausgestorben, es gab zwar Nachkommen, aber keine direkten und die waren auch nicht im Bankenwesen tätig. Das gab also keinen Sinn. Und außerdem, warum sollte sie das Buch bekommen haben, in dem dieses Bekenntnis stand und wieso war es verschwunden, sobald sie es gelesen hatte?
Ihr kam ein Gedanke. Vielleicht war sie ein Nachkomme der Medici und vielleicht hatte sie mit dem Bekenntnis die Gaben der Medici angenommen, deswegen war es verschwunden. Einen Moment war sie sehr gut gelaunt, doch dann kamen die Zweifel.
Wahrscheinlich hatte sie das alles geträumt und beim Träumen hatte sie die letzte Seite abgezogen, oder die letzte Seite war schon immer davon gelöst und sie hatte es vorher nicht bemerkt. Sie sollte sich keine Hoffnungen machen, sie war weiterhin nur das Waisenmädchen, das außerdem noch eine fünf in Geschichte bekommen könnte.
Traurig ging sie die Treppe wieder hinunter und schleppte sich in die Küche zu Rosie.
Diese bemerkte ihre traurige Miene nicht und fing sofort an, ihr alles Neues aus dem Waisenhaus zu erzählen, was Elvira verpasst hatte.
„Wusstest du, dass ich eine Fortbildung habe? Direkt nächste Woche Montag. Der Montag nach den Zeugnissen.“, fragte sie irgendwann und Elvira sah von ihrem Essen, Rinderfleisch und Nudeln, auf, um ihr zu antworten.
„Nein, dass wusste ich nicht. Das ist der Tag, an dem ich frei habe, weil die Lehrer einen pädagogischen Tag haben. Ich glaube, die Schwestern sind dann auch weg, weil die doch im Haus helfen gehen, da, das am Ende der Stadt, wie hieß es noch gleich?“ Sie wusste nicht genau, warum sie diese Floskel wählte, sie wusste eigentlich genau, wie das Haus hieß, es war das Haus am Steinfels, weil dort ein riesiger Stein stand. Von alleine benutzte sie die Floskeln, wahrscheinlich, weil sie nicht immer neunmalklug, allwissend dastehen wollte. Eigentlich war das idiotisch, warum sollte sie sich den anderen anpassen, sie sollte stolz sein, dass sie so ein gutes Gedächtnis hatte.
„Bei dem Haus am Steinfels.“, setzte sie schnell nach.
„Ja, da hast du recht. Wow, dann hast du ja sturmfreies Haus. Ist ja cool. Weißt du schon was du dann machst? Du kannst ja mal ein paar deiner Freunde von deiner Schule einladen und ihr macht euch hier einen schönen Tag.“
Elvira schüttelte nur den Kopf. Sie hatte keine Lust mit Rosie darüber zu diskutieren oder zu bekennen, dass sie gar keine Freunde hatte. Rosie ließ sie in Ruhe. Sie wusste genau, wann sie nachzuhaken hatte und wann nicht.
Nach dem Essen ging Elvira sofort hoch in ihr Zimmer, um dort ihre Hausaufgaben zu machen. Konzentriert bearbeitete sie jede Aufgabe, sie hatte nichts anderes zu tun, sonst konnte sie noch lesen oder etwas lernen, doch das tat sie sonst auch. Es wurde langweilig. Sie konnte jedoch auch in die Stadt gehen und dort nach den Computern mancher Geschäfte gucken gehen, vielleicht hatten diese ein Problem und sie konnte sich etwas Geld dazuverdienen, wenn sie sie reparierte.

Also ging sie in die Stadt. Zuerst ging sie zu der Post, sie hatten den Kollegen erst kürzlich erklärt, wie das Internet funktionierte, vielleicht hatten diese Schwierigkeiten.
„Oh, hallo Elvira! Du guckst bestimmt nach dem Computer. Ich hätte da auch ein kleines Problem mit dem Internet, falls du also etwas Zeit hättest?“ Hoffnungsvoll blickte er Elvira an.
„Kein Problem. Was funktioniert denn nicht?“, fragte sie, während sie hinter den Tresen trat und den Computer einschaltete.
„Naja, wenn ich den Computer einschalte, dann kann ich nicht ins Internet, weil er das Netzwerk nicht finden kann.“. Etwas verwirrt schaute der Postangestellte Elvira an. Vielleicht sollte man ihn lieber dafür einsetzten, die Post auszuliefern dachte Elvira, doch in dem Moment nahm sie den Gedanken auch schon wieder zurück, sie wusste, das er nicht gerechtfertigt war, denn in dem kleinen Dorf kannte man das Internet noch nicht und musste es erst kennenlernen.
„Siehst du, das kam dann immer!“, sagte der Angestellte glücklich, als ein kleines Fenster auf dem Bildschirm auftauchte, dessen Sinn es war, die Nichtaktivität der Internetverbindung zu verkünden.
„Vielleicht ist das Internet kaputt.“, überlegte der Mann, doch Elvira schüttelte nur den Kopf.
„Mit Sicherheit nicht. Ich denke, der Computer kann nur die Verbindung nicht finden. Wir hatten hier eine W-LAN Verbindung eingerichtet, nicht wahr?“ Sie konnte sich das Gesicht von dem Angestellten vorstellen, sie musste ihn nicht angucken.
„Sehen sie mal, ich stelle hier ein, dass der Computer sich immer automatisch mit dem Netzwerk verbindet, wenn er es findet, okay, dann müssen sie nichts mehr machen, sie können jetzt immer direkt ins Internet. Wenn sie noch Fragen haben, können sie mich aber immer erreichen, sie wissen ja wo ich bin…“
Mit einem schnellen Blick durch die Post stellte sie fest, dass ein Mädchen am Schalter stand und erwartungsvoll zu ihnen hinüberschaute. Sie wohnten in einem so kleinen Ort, dass es nur einen Angestellten in der Post gab.
„Vielleicht sollten sie dem Mädchen helfen.“, bemerkte sie deshalb und schlüpfte schnell hinter dem Schalter hervor. Sie kannte das Mädchen, es war Leonie aus dem Waisenhaus. Nur um nicht unhöflich zu sein, ging sie zu ihr hinüber und sprach sie an.
„Hallo Leonie. Na, ganz allein unterwegs?“ Leonie schüttelte den Kopf.
„Nein, Marie ist eben noch in der Buchhandlung, sie kommt gleich.“ Na, das hatte sie ja geahnt. Als ob die tolle Leonie jemals alleine in die Stadt gehen würde. Keiner außer ihr tat das, schon gar nicht Leonie.
„Na, musstest du wieder den Computer reparieren?“, fragte sie, doch Elvira war abgelenkt. An der Glastür der Post stand wieder das Mädchen mit dem unglaublich berührenden Blick. Sie wartete scheinbar auf Leonie.
„Das ist Marie. Sie wartet schon.“, sagte Leonie, die Elviras Blick gefolgt war. „Sie ist ziemlich traurig, nicht wahr?“, fragte Leonie, und diese Frage verwirrte Elvira. Normalerweise hätte sie jetzt fragen müssen, ob sie nicht traurig aussieht oder sie einen traurigen Blick hätte, doch stattdessen fragte sie, ob Marie traurig war.
„Das kann ich wohl schlecht beurteilen, dass kannst du wohl besser.“, antwortete Elvira ihr, das stimmte, sie konnte nur auf naturwissenschaftlicher Ebene interpretieren, wenn es um einen Charakter ging, lag sie immer falsch.
„Ja, wahrscheinlich kann ich das.“, antwortete Leonie, leise, entgegen ihrer sonstigen Art, nachdenklich, wie zu sich selbst. Elvira warf Leonie einen irritierten Blick zu, sie benahm sich irgendwie anders als sonst. Doch diese ging nicht weiter darauf ein und ging endlich zum Tresen um sich ihre Briefmarken zu besorgen und Elvira verließ das Geschäft mit einem kurzen Tschüss in die Runde gesagt.
Nachdenklich ging Elvira wieder zurück ins Waisenhaus. Sie grübelte noch immer über Leonie nach, es kam ihr vor, als wäre sie etwas komisch, verändert gewesen.

Noch immer nachdenklich ging Elvira zum Abendessen, alleine, wie immer. Sie war spät dran, alle Tische waren schon besetzt, so suchte sie sich einen freien Platz an einem Tisch aus, wo eine Gruppe von Mädchen um ein anderes, blondes Mädchen gescharrt war. Dieses erzählte gerade etwas und die anderen hörten gebannt zu, so bemerkten sie Elvira nicht. Na, wahrscheinlich hätten sie sie auch sonst nicht bemerkt.
Während des Essens beobachtete sie dieses Mädchen eingehend. Sie sah eigentlich ganz nett aus, sie hatte eine offene und sehr herzliche Art, doch was wahrscheinlich am Meisten auffiel, waren die Haare des Mädchens. Sie trug sie zusammen, doch in dem Licht der Sonne, die durch die Fenster schien, glänzten die blonden glatten Haare silbrig. Sie schnappte ein paar Worte der Erzählung mit auf:
„Und dann, als ich dachte, ich könnte nicht noch schneller laufen, erreichte ich eine Phase, wo alles um mich herum langsamer wurde, nur ich konnte noch normal schnell handeln. Das mag sich komisch anhören, aber es ist war. Es hat sich angefühlt wie Magie…“
So, dieses Mädchen war also auch erfolgreich und beliebt. Nichts für sie. Mit Sport konnte sie nicht viel anfangen.
Da fiel ihr ein, dass sie am darauffolgenden Tag Sport hatte und ihre Laune sank, soweit das überhaupt noch möglich war, noch tiefer.


Kapitel 5

Sport war schrecklich. Wieder einmal.
Elvira starrte auf die Sportlehrerin, die versuchte ihnen zu zeigen, wie man am Reck einen Aufschwung machen sollte. Doch Elvira wusste genau, dass sie das nie schaffen würde.
Sie hatte ihre schwarzen Locken zusammengebunden und hochgesteckt, sie waren ein ständiger Streitpunkt der Lehrerin, doch das würde ihr auch nicht helfen. Denn ihre Unsportlichkeit lag nicht, wie die Lehrerin es behauptete, an der Gefahr ihre Frisur zu ruinieren, sondern es lag einfach an der reinen Tatsache, dass sie unsportlich war. Einfach unbegabt. Talentlos. So einfach war das.
Sie war an der Reihe. Sie konzentrierte sich und lief an, steigerte ihre Konzentration noch mehr und sah vor ihrem inneren Auge den Schwung vor sich. Ihre Konzentration erreichte bald eine neue Marke, sie brauchte viel mehr, als eine komplizierte mathematische Gleichung zu lösen.
Sie sprang ab. Zu wenig Schwung, das merkte sie gleich.
Doch sie steigerte ihre Konzentration noch ein Stück, auf eine noch höhere Ebene, eine Ebene, die sie nie zuvor erreicht hatte, und spürte einen Moment der reinen Elektrizität, bevor sie, wie vorgegeben, auf dem Reck landete.
Verwirrt stieg sie herunter. Hatte sie sich diesen Moment nur eingebildet? Wie konnte das sein, sie hatte ein deutlich zu wenig Schwung gehabt, wie konnte sie es geschafft haben, das war unlogisch.
„Na, geht doch. Siehst du, du solltest deine Haare immer so hochmachen.“, sagte die Sportlehrerin, doch Elvira achtete nicht auf sie. Sie lag so falsch.
Doch was an ihrem Erfolg schuld war, wusste sie selber nicht. Da war ein komisches elektrisches Gefühl gewesen, doch woher kam das?
War das das Gefühl, dass das blonde Mädchen beschrieben hatte? Wie Magie? Doch nein, das konnte nicht sein, es wurde um sie herum ja nicht langsamer, es war nur so merkwürdig.
Doch in einem war Elvira mit dem Mädchen gleich. Es fühlte sich an wie Magie.

Sie bekam kaum mit, wie der Unterricht an ihr vorbeizog, oder wie sie in die Pause ging. Erst als sie am Tisch vor dem Lehrerzimmergang saß, kam sie wieder richtig in die Realität zurück, jedoch nur, weil sie hoffte, dass die Frau wieder hier vorbeikam. Sie nahm ihren Erdkundeaufsatz aus der Tasche und schrieb weiter, ein Auge hatte sie jedoch immer auf den Gang geheftet.
Doch sie wartete vergeblich. Scheinbar kam sie an Donnerstagen nicht in die Schule.
Sie hasste Donnerstage.
Also ging sie wieder in den Unterricht. Teilnahmslos saß sie da und versuchte vergeblich herauszufinden, was das für ein Gefühl gewesen war. Auch versuchte sie mit aller Kraft das Gefühl zurückzuholen. Doch sie schaffte es nicht. Sie kam nicht mehr auf die Ebene der Konzentration, um das Gefühl zurückzuholen, hier wurde sie im entscheidenden Moment immer abgelenkt. Auch hatte sie Angst davor, was passieren würde, ob es den anderen auffallen würde.

Sie stand an der Bushaltestelle. Obwohl sie sich immer wunderbar konzentrieren konnte, war sie binnen einigen Millisekunden sofort wieder bereit, wenn sie angesprochen wurde oder der Bus kam. Das war normalerweise sehr hilfreich, doch wenn sie versuchte sich in die höchste Ebene der Konzentration zu versetzten war es sehr störend.
Fast hätte sie es geschafft, doch wieder wurde sie abgelenkt. Andrew sprach sie an. Schonwieder.
„Hey Elvira. Du warst gut in Sport heute.“
Für einen kurzen Moment schloss Elvira die Augen und atmete langsam ein und aus. Sie befürchtete, sie würde ihm an den Hals springen, wenn sie sich nicht beruhigte. Warum interessierte die Leute eigentlich immer nur der Sport? Was konnte man eigentlich damit anstellen?
Andrew hasste sie, und jetzt war er gekommen um sie wegen ihrer schrecklichen Leistungen in Sport auszulachen. Toll.
„Danke. Das hatte ich nicht beabsichtigt.“, setzte sie hinzu und drehte sich langsam um. Ihre schlechte Laune stieg noch, als sie sah, wie Andrew die Stirn in Falten legte und sie schief ansah.
„Vielleicht hätte ich mich klarer ausdrücken sollen. Eigentlich wollte ich nicht besser sein als sonst, allein wegen der Tatsache, dass du kommen würdest und mich darauf ansprechen würdest. Ich weiß, dass ihr euch nur darum kümmert, wer die dicksten Muskeln hat und wer der Beste in Sport ist. Aber könntest du mich aus diesem plumpen und stumpfsinnigen Wettkampf raus lassen? Ich kann da sowieso nicht mithalten.“
Nur für eine Sekunde war Andrew überrascht, dann erwiderte er ziemlich schnell, wobei er sich sichtlich ziemlich toll fand:
„Ja, aber weißt du, weswegen wir die dicksten Muskeln haben wollen oder der Beste in Sport sein wollen? Damit wir die Herzen unserer Liebsten erobern können.“ Dabei schaute er Elvira mit einem leichten Zucken seiner Brauen in die Augen.
Er mochte sich dabei vielleicht sexy vorkommen, doch Elvira war angewidert, sie gab sich spöttisch.
„Es gibt aber auch Mädchen, die etwas anderes als Muskeln wollen, denn wer will denn irgendeinen Freund haben, der nichts in der Birne hat, mit dem man sich nicht unterhalten kann und der einen nicht versteht, wenn man mit ihm spricht? Als ob irgendein Mädchen, dass auf etwas Festes aus ist, sich mit einem Typ abgibt, der zwar Muskeln hat, aber auf dem niedrigen Niveau eines ausgewrungenen Schwammes ist.“
Das sollte eigentlich keine Andeutung auf ihre Bedürfnisse sein, und Elvira war im Nachhinein unzufrieden, da sie ihm nicht unmissverständlich klargemacht hatte, wie wenig Chancen er bei ihr hatte, da er sie immer zuvor ausgeschlossen hatte und wie lächerlich sie ihn fand.
Deshalb antwortete Andrew mit einem Funkeln in den Augen:
„Woher willst du denn wissen, dass ich nichts in der Birne hab? Du hast es doch noch nie ausprobiert.“
Da wurde Elvira wütend. Sie zeigte es nicht, doch es brodelte in ihr und sie überlegte einen Moment lang, ob sie Andrew eine klatschen sollte. Doch sie ließ es bleiben und begnügte sich damit, ihm ihre Worte wie Peitschenhiebe an den Kopf zu werfen.
„Hör zu, ich lasse mich nicht von dir verarschen. Das kannst du deinen Freunden sagen und die sollen das Wetten lassen, denn ich werde nie auch nur ein nettes Wort mit euch wechseln. Verstanden?“ Doch Andrew sah nicht gedemütigt aus. Im Gegenteil, er schien fast amüsiert.
In dem Moment kam Gott sei dank der Bus, was Elvira davor rettete, ihm doch noch eine zu klatschen.

Im Internat angekommen ging sie abermals erst in ihr Zimmer, bevor sie zum Essen zu Rosie ging. Seit dem einen emotionalen Tag mit der Nacht, wo sie das Bekenntnis im Buch gefunden hatte und die Frau wieder aufgetaucht war, war wirklich vieles anders geworden.
Angefangen hatte es mit dem Hund, der merkwürdigerweise an ihre Seite gekommen war, als sie alleine zur Bushaltestelle gelaufen war.

Sie freute sich auf den nächsten Tag. Sie wusste ihren Noten nicht, die Lehrer sagten die Noten nicht früher, wie an allen anderen Schulen, denn es gab einen Elternsprechtag nach den Zeugnissen, an dem die Eltern mit den Schülern über die Zusammensetzung der Noten in Kenntnis gesetzt wurden, da wollten die Lehrer nicht schon vorher mit den Schülern darüber diskutieren.
Sie hoffte auf gute Noten, klar, in den Naturwissenschaften würde es auch gut aussehen, aber in den anderen Fächern? Kunst und Religion waren an ihrer Schule keine Pflichtfächer und sie hatte sich stattdessen für Informatik und Wirtschaftsmathematik entschieden, doch sie hatte auch Englisch, Deutsch, Geschichte und andere Fächer, in denen es nur darum ging, Zusammenhänge zu erkennen oder zu interpretieren, das fiel Elvira schwer. Sie las immer fleißig im Schulbuch, mit ihrem fotographischen Gedächtnis half ihr das schon weiter, doch es ging kaum noch darum, dass sie die richtigen Daten kannte, sondern dass sie sagen konnte, welche Sachen dahin geführt hatten und was daraus gefolgt war.
Naja, so schlimm würde es sicher nicht werden, wenn doch konnte sie allerdings nicht zu dem Sprechtag gehen, denn ihr fehlte die Mutter, die sie begleitete.

Kapitel 6

Erstaunt starrte sie auf ihr Zeugnis.
Das hatte sie wahrlich nicht erwartet. Sie hatte in allen naturwissenschaftlichen Fächern, Mathematik, Biologie, Physik, Informatik, Chemie und Wirtschaftsmathematik eine Eins. Doch das wunderte sie nicht. Was sie eher wunderte, war die Zwei in Deutsch, Englisch, und Sport. Auch die Einsen in Erdkunde, Französisch – das dem Italienischen sehr ähnlich war – und Musik überraschten sie nicht sehr, auf jeden Fall nicht sosehr wie das „schwache Ausreichend“ in Geschichte. Sie hatte es also wirklich gemacht, dass hätte Elvira nicht von ihr erwartet. Die Note kam überraschend und unberechtigt. Sie meldete sich jede Stunde einmal, nur dank ihrer Lektüre, aber das wusste die Lehrerin ja nicht. Auf jeden Fall war ihre Leistung besser als eine Vier.
Gerade verkündete Frau Kraupen, wen sie gerne am Elternsprechtag sehen würde. Es war kaum einer, außer den Schlechtesten, die nie etwas sagten. Dann, in dem Moment, als die Klasse ganz besonders ruhig war, wandte sie sich an Elvira.
„Deine Eltern möchte ich auch gerne sehen.“, sagte sie mit ihrer Stimme, die sie von ihrem sonst harten Ton in einen weichen umgewandelt hatte.
Die Klasse verharrte regungslos. Sie was überrascht und erwarteten Elviras Reaktion wie eine Katze vor dem Mauseloch.
„Es tut mir Leid, aber das wird nicht möglich sein.“, antwortete Elvira höflich, doch sie wusste, dass es nichts bringen würde.
„Oh, doch, ich denke sie werden es möglich machen müssen, Elvira.“, sprach sie, noch immer mit zu weicher Stimme.
„Es tut mir Leid, aber es handelt sich um etwas persönliches, ich werde ihnen es gerne nach der Stunde erklären.“, versuchte Elvira sich aus der vertrackten Situation zu retten, doch als ob die Lehrerin sie bloßstellen wollte, trieb sie Elvira zu der Antwort.
„Ich würde es gerne jetzt hören.“, forderte sie und einen Moment überlegte Elvira, ob sie so dreist seien konnte, ihr zu widersprechen, doch sie sah ein, dass Frau Kraupen es nicht zulassen würde, dass ihre Beute ihr entkam.
Dann wollte sie es gerne genießen, wollte alle damit aus den Socken hauen.
„Wie sie meinen.“, fing sie an, mit einem spöttischen Lächeln auf dem Gesicht. Frau Kraupen zog ihre Augenbrauen verärgert zusammen und Elviras Laune wurde etwas besser.
Ich hätte es sowieso nicht für immer verbergen können.
„Meine Eltern sind tot.“, fuhr sie dann mit spöttischer Stimme fort.
Frau Kraupen schien erschrocken und entgeistert rief sie:
„Du bist ein Waise?“ Mit großen Augen blickte sie Elvira an, doch nach ein paar Sekunden verschwand ihre entgeisterte Miene und wich einer gleichgültigen.
„Ja“, Elvira nickte, „das versteht man meistens darunter.“ Noch während sie das aussprach, hätte sie sich auf die Zunge beißen wollen, doch zu spät.
Die Köpfe ihrer Mitschüler drehten sich erwartungsvoll zu Frau Kraupen, als ob sie ein spannendes Tennisspiel verfolgen würden.
„Na, ich kann es dir auch jetzt sagen, mir macht es ja nichts aus.“
Ach, jetzt war es wieder ihre Schuld, dass sie keine Eltern hatte. Toll.
„Aber jetzt, wo ich nachdenke wird mir einiges klar.“, setzte sie noch hinzu. Auf ihren verständnislosen Blick hin antwortete sie:
„Na, ich weiß jetzt, woher das kommt, dass deine Erziehung so schlecht ist, in Waisenhäusern hat man so viel zu tun, da kann man sich nicht auch noch darum kümmern. Ja, das erklärt einiges.“
Gehässig blickte sie Elvira an. Oh Gott, die hat es ja nötig. Ich hoffe sie hat keinen Mann, der müsste ja leiden. Ich hasse diese Frau, aber ich lasse mich nicht von ihr provozieren, schlimm genug, dass sie es geschafft hat, mir eine schwache Vier zu geben…
Sie blickte Elvira weiter an, doch als diese nichts dazu antwortete, sondern auch gar keine Notiz davon zu nehmen schien, wandte sie sich ab und fuhr mit weiteren oberflächlichen Dingen fort, Stundenplan, Klassenliste, Bücherliste und so.
Elvira kümmerte sich nicht weiter um Frau Kraupen. Sie war wütend gewesen, im ersten Moment, doch auch das hatte sie sich Gott sei Dank nicht anmerken lassen. Sie hatte gelernt, dass gezeigte Emotionen immer schlecht waren, besonders wenn man sich Schmerz, Trauer oder Ärger anmerken ließ. Fröhliche Emotionen kannte sie kaum, sie war noch nie richtig glücklich gewesen, noch nie vorbehaltlos glücklich gewesen, sie hatte sich noch nie einfach nur gefreut.
Meistens unterdrückte sie ihre Emotionen direkt im Kern, sodass sie nie etwas tat, nur einer Emotion wegen, was sie nachher bereute und damit keiner aus ihrem Gesicht lesen konnte, wie es ihr gerade ging.

Sie war zufrieden mit ihrem Zeugnis, sie konnte mit gutem Gewissen zu Schwester Elise gehen, am Tag der Zeugnisse bekam jedes Kind bei ihr einen Termin, damit es das Zeugnis zeigen konnte und über mögliche Probleme und seine Zukunft sprechen konnte.
Sie klopfte an ihre Tür. Kaum eine Sekunde später hörte sie schon das „Herein“ und öffnete die Tür.
Schwester Elise saß in einem Lehnstuhl am Fenster, ein Buch lag in ihren alten, faltigen Händen. Obwohl sie schon so alt war, organisierte sie alles, was das Waisenhaus anging.
„Ah, Elvira, ich habe dich schon erwartet. Auf dein Zeugnis bin ich schon gespannt. Es ist bestimmt wieder das Beste. Setz dich, setz dich.“ Sie deutete auf einen Stuhl ihr gegenüber und Elvira folgte ihrer Aufforderung. Dann reichte sie Schwester Elise ihr Zeugnis und ließ ihr Zeit, das Zeugnis zu studieren.
„Ah, ich hab es mir doch gedacht. Neun Einsen, drei Zweien, das sieht sehr gut aus. Was mich nur wundert, ist die schwache Vier in Geschichte. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Wahrscheinlich hast du ein Problem mit der Lehrerin, nicht wahr?“
Schwester Elise lächelte über Elviras verdutzte Miene, die sie sah, obwohl Elvira sich so schnell wieder fasste, dass alle anderen ihre Verwirrung nicht bemerkt hätten. Sie fragte sich, wieso Schwester Elise wusste, dass sie Probleme mit Frau Kraupen hatte und woher sie überhaupt wusste, dass sie eine Lehrerin hatten.
„Die gute Frau hat hier angerufen und beschwerte sich fürchterlich über dich, deine Manieren und über dein Verhalten ihr gegenüber.“
Elvira verdrehte die Augen.
„Es tut mir Leid, dass sie sie gestört hat. Ich wollte nicht…“, doch Schwester Elise unterbrach sie.
„Schon gut. Es war sehr amüsant. Ich habe sie nach Fakten gefragt, nach einem Beleg, dass du wirklich unhöflich bist, und sie konnte nicht antworten. Danach hat sie mich wegen meiner miserablen Führung des Waisenhauses beschimpft. Ich kann dich verstehen. Sie hat wohl ein Problem mit deiner Art, da kannst du nichts gegen machen… Was ich dich aber eigentlich fragen wollte, war, ob du weißt, was du eigentlich mal erreichen willst, ob du ein Berufsziel hast. Was bringen denn die guten Noten, wenn du kein Ziel hast?“
Schwester Elise blickte sie mit ihren blauen Augen an und Elvira dachte nach. Was wollte sie werden? Sie wusste, dass sie nach Italien zurück wollte und sie wusste, dass ihr Beruf in die naturwissenschaftliche Richtung gehen sollte, wahrscheinlich Physik, aber was sie genau machen wollte, wusste sie noch nicht.
„Also, ich weiß, dass ich in die Physik, Mathematik gehen will, aber ich weiß noch nicht genau, in welchen Bereich.“
Schwester Elise nickte.
„Ja, das habe ich mir gedacht. Hast du schon einmal darüber nachgedacht in die Forschung zu gehen? Ich weiß, es ist schwierig, doch du bist so gut, dass du es bestimmt schaffen würdest.“
Elvira dachte nach. Ja, das war wirklich eine schöne Vorstellung. Physikerin. Sie hatte noch nicht konkret darüber nachgedacht, doch jetzt schien es ihr beinahe lächerlich, dass sie diesen Gedanken noch nicht früher gehabt hatte. Klar, Physikerin, Forscherin. Sie würde große Entdeckungen machen, und der Welt damit wirklich helfen. Alle würden ehrfürchtig ihren Namen aussprechen, nicht mehr gehässig und keiner würde sie mehr ärgern.
Dankbar verabschiedete sie sich von Schwester Elise und ging schnell in die Küche zu Rosie, um dort zu essen.

In der Nacht träumte sie. Normalerweise träumte sie nie, doch in Zeiten großen Stresses und großer Aufregung, wie jetzt, träumte auch sie.
In ihrem Traum war sie in der Kantine, sie hatte sich entschieden, dem großen, blonden Mädchen von ihrem magischen Gefühl zu erzählen, vielleicht konnten sie zusammen es schaffen, das Gefühl wieder zurückzuholen. Sie nahm ihr Tablett und setzte sich zu ihr, da sie, komischerweise, alleine an einem Tisch saß.
„Hallo.“, fing sie an, und das Mädchen blickte auf.
„Hi.“, antwortete sie, und wäre es nach ihr gegangen, wäre ihr Gespräch jetzt beendet gewesen. Doch Elvira wollte ihr Ereignis mit jemandem teilen, also ignorierte sie den Missmut des Mädchens.
„Ich hab dich gehört, vor ein paar Tagen, als du erzählt hast, wie du dieses magische Gefühl hattest, in Sport. Ich habe so etwas ähnliches erlebt.“, erzählte sie, doch Linda blickte genervt auf. Das überraschte Elvira. Sie hatte gehofft, dass Linda sie mit Interesse bedachte, doch das tat sie nicht, und das verletzte Elvira. Sie hatte sich endlich jemandem anvertraut, Emotionen gezeigt und hatte ihr etwas erzählt, dass sie sonst keinem erzählen würde, doch das Mädchen war genervt.
„Ich weiß.“, antwortete es stattdessen. Elvira war noch verwirrter, doch sie ließ es sich nicht anmerken. Sie hatte sich sofort wieder verschlossen, und nichts was das Mädchen noch sagen würde, konnte sie noch verletzten.
„Es haben ziemlich viele ein magisches Gefühl gehabt, seitdem ich davon erzählt habe. Es geht mir auf den Geist. Ich erwartete so eine Reaktion, da alle so unbedingt mit der beliebten Linda befreundet sein wollen, doch ich hätte es nicht von die gedacht, Elvira.“
So, Linda hieß sie also. Es war Elvira nicht peinlich, dass Linda ihren Namen kannte und sie Lindas nicht. Sie traute ihr zu, dass sie ihr magisches Gefühl nur erfunden hatte um beliebt zu sein, dass ließ sie wütend werden. Sie stand auf. Sie würde Linda nicht die Gelegenheit geben, sie noch mehr zu verletzten.
„Ja, du hättest nicht erwartet, dass ich dich durchschauen würde. Und jetzt bist du beleidigt. Ich weiß, dass du keine Freunde hast Elvira, aber ich dachte immer, dass du dazu stehen würdest und das du auf eine richtige Freundin wartest, auf eine, die dich wirklich zur Freundin haben will, dich und nicht deine Fähigkeiten. Ich zumindest sehe das so, ich hoffte ich hätte in dir ein Synonym. Da habe ich mich wohl vertan.“
Sie nahm ihr Tablett und setzte sich an einen anderen Tisch, an einen Tisch mit vielen Mädchen, die sie bewunderten.

Am nächsten Morgen, es war Samstag, bekam Elvira den allmorgendlichen Trubel im Waisenhaus mit. Jedoch auch heute war sie nur der Betrachter. Da sie fast eine Stunde später aufstehen konnte als alle anderen, fiel es ihr schwer, bis halb acht auszuschlafen. So konnte sie vor allen anderen das Bad benutzen und musste sich nicht mit allen anderen Mädchen gleichzeitig waschen, das hasste sie.
Um den Trubel beim Frühstück kam sie jedoch nicht herum. Sie stellte sich, wie alle anderen, mit dem Tablett in die Reihe.
Das Frühstück mit den anderen war lange nicht so gut, wie wenn sie alleine morgens in der Küche aß. Der ehemals heiße Kakao war nur lauwarm und die Brötchen, die wirklich lecker waren, waren am schnellsten weg. Auch sie musste sich dem Waisenhausstandard fügen.
Sie setzte sich alleine an einen Tisch, sie würde nicht den Fehler machen, den sie in ihrem Traum gemacht hatte. Schlagartig war er ihr wieder eingefallen, als sie Linda an einem Tisch gesehen hatte, von ihren Bewunderern umringt. Sie war immer noch verletzt von Lindas Reaktion.
Ohne großen Appetit aß sie ihr Brot und trank ihren Kakao. Sie aß immer wenig und trinken tat sie fast noch weniger. Das war ungesund, dass wusste sie, doch sie hatte eigentlich zu wenig Zeit um etwas zu trinken, sie hätte sonst immer etwas dabei haben müssen, doch das störte sie nur.
Sie stellte ihr Tablett ab und ging aus dem Saal.

Das ganze Wochenende verlief ereignislos. Sie arbeitete, für die Schule, und sie informierte sich auch sonst noch etwas, zum Beispiel über ein Praktikum im Forschungslabor für Physik in ihrer Umgebung. Doch keiner wollte eine so junge Schülerin im Labor haben.
Am Montagmorgen hatte sie frei. Sie schlief nicht länger als sonst, blieb aber länger im Bett liegen, das Frühstück ließ sie ausfallen, vielleicht ging sie nachher in die Küche um sich etwas zu essen zu nehmen, vielleicht ließ sie es aber auch ausfallen.
Sie hatte sich vorgenommen, an diesem Morgen, wo kein anderes Kind im Waisenhaus war, ihr magisches Gefühl wieder hochkommen zu lassen. Sie musste sich konzentrieren, sonst konnte es nicht gehen.
Sie setzte sich auf den Zimmerboden in den Schneidersitz und blickte auf ihre Brosche der Medicis, die sie vor sich auf den Boden gelegt hatte.
Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Brosche und spürte, wie sie in ihrer Konzentration versank.
Lange Zeit blieb sie einfach sitzen, in ihrer Konzentration versunken und ließ sich von ihr leiten. Nach einiger Zeit jedoch versuchte sie ihre Konzentration noch zu erhöhen, sich in das nächste Level der Konzentration zu begeben.
Langsam begann die Ebene sich zu öffnen, sie einzulassen, da hörte sie auf ein Mal ein ohrenbetäubendes Lärmen und schlagartig befand sie sich wieder in der Gegenwart. Sie ging hinaus auf den Flur, um zu sehen, wer sie so brutal aus ihrer Konzentration geholt hatte und sah Linda in der großen Eingangshalle stehen, die Büste von Theodor Heuss lag auf dem Boden neben ihr.
Sie war nicht kaputt, doch sie war so schwer, dass Elvira sich fragte, wie Linda die Büste wieder auf den Sockel befördern würde.
„Elvira, du bist hier? Warum bist du nicht in der Schule?“, fragte sie, sie ignorierte das sie mit der Büste am Boden lag.
„Das gleiche könnte ich dich fragen, doch ich vermute, dass du auch frei gekriegt hast, auf welche Schule du auch immer gehen magst, so ist es nämlich bei mir, ich gehe auf das private Gymnasium und die Lehrer haben heute einen pädagogischen Tag. Was mich eigentlich viel mehr interessiert ist, was du mit der Büste gemacht hast. Ich hatte nicht gedacht, dass jemand sie jemals ohne Kran vom Sockel heben könnte, so schwer wie sie ist.“ Fragend blickte sie Linda an, die schuldbewusst noch immer am Boden lag und die Büste von Theodor Heuss neben sich betrachtete.
„Ja, also ich, ich bin nur mit Speed dagegen gelaufen, das ist alles…“ Elvira runzelte die Stirn. Sie hatte sofort an Lindas magisches Gefühl gedacht, als sie Linda dort liegen gesehen hatte und sie glaubte es Linda nicht, dass sie mit Geschwindigkeit gegen die Büste lief, vielleicht hatte es etwas mit der Magie zu tun. Elvira ging langsam die Treppe hinunter, um Linda zu helfen, die Büste wieder aufzustellen, allerdings bezweifelte sie, dass sie das schaffen würden, denn die Büste war eindeutig zu schwer.
„Hast du dir etwas getan?“, fragte sie, denn Linda lag noch immer auf dem Boden, ohne die Anstalten zu machen, aufzustehen.
„Nee, prinzipiell nicht, aber ich glaube, ich habe mir etwas das Bein verdreht, als ich dagegen gerannt bin.“ Sie nahm Elviras Hand und zog sich daran hoch, vorsichtig belastete sie ihr Bein und zuckte zusammen, als sie den stechenden Schmerz spürte.
„Wir müssen die Büste wieder auf den Sockel heben.“, meinte Linda, die jetzt auf einem Bein stand. Elvira nickte und fasste Theodor Heuss Ohr an, um, zusammen mit Linda, die das andere Ohr nahm, den Versuch zu starten, Theodor Heuss auf den Sockel zurückzustellen. Sie zogen und zerrten, doch er war so schwer, dass sie es nicht schafften. Elvira konzentrierte sich, und unbewusst erreichte sie abermals die hohe Ebene der Konzentration, die sie die ganze Zeit über erreichen wollte.
Die Büste wurde ganz leicht und mit einem Ruck von Linda beschrieb sie einen Bogen und landete auf dem Sockel.
Linda und Elvira starrten sich verwundert an und Linda schüttelte verwirrt den Kopf.
„Was war das denn eben?“, fragte Linda, doch Elvira antwortete nicht. Zum zweiten Mal hatte sie dieses unbeschreibliche, magische Gefühl gehabt, wie reine Elektrizität, die wie Energie durch ihren Körper stob.
„Ich muss noch Hausaufgaben machen und etwas lernen, wir schreiben morgen eine wichtige Arbeit.“, sagte Elvira. Das war eine glatte Lüge, doch sie wollte nicht, dass Linda sie weiter über die Angelegenheit ausfragte oder irgendwelche Vermutungen anstellte, die das merkwürdige Verhalten der Statue erklärte. Sie wusste selbst, dass es physikalisch nicht zu erklären war.
Es musste etwas mit ihrem magischen Gefühl zu tun haben. Das erste Mal hatte sie es bei Sport, sie wurde ganz leicht und konnte, obwohl sie zu wenig Schwung hatte, den Aufschwung machen und das zweite Mal, eben, wurde die Büste leicht. Vielleicht gab es Magie wirklich und sie hatte die Gabe, Dinge leicht zu machen.
Irgendwie kam sie sich lächerlich vor, wie sie das dachte. Trotzdem führt sie den Gedanken weiter. Vielleicht hatte sie die Kräfte mit dem Bekenntnis, das sie laut vorgelesen hatte, entfesselt. Vielleicht war das mit den „Gaben“ gemeint gewesen.
Aber vielleicht war es auch vollkommener Unsinn, was sie dachte, und sie hatte es sich einfach nur eingebildet.
Trotzdem setzte sie sich zurück auf den Zimmerboden, nachdem sie sich einen Spiegel aus dem Bad genommen und vor sich aufgestellt hatte.
Sie fixierte ihre Brosche, und verfiel langsam wieder in den meditativen Zustand der Konzentration.
Diesmal schaffte sie es, sie kam in die höchste Ebene der Konzentration. Es war ein wundervolles Gefühl. Die Energie pulsierte in Herzschlägen durch ihren Körper und stärkte sie. Die Brosche wurde kleiner. Merkwürdig, vielleicht konnte sie die Gegenstände auch schrumpfen lassen?
Doch kaum, dass sie näher drüber nachdenken konnte, war sie wieder auf dem Boden der Tatsachen, der Zustand der Konzentration hatte schon wieder nachgelassen. Doch es war keine Einbildung, dass stand jetzt fest. Sie besah sich die Brosche, doch sie war wieder normal groß.
Also versuchte sie es wieder. Auch dieses Mal schaffte sie es. Sie fand, dass die Brosche wieder kleiner wurde, doch sie hielt sich damit nicht auf, sie wollte dieses Gefühl besser kennenlernen. Sie blickte in den Spiegel, den sie extra deswegen aufgestellt hatte, sie wollte wissen, wie sie aussah, wenn sie dieses merkwürdige Gefühl hatte.
Auf den ersten Blick sah sie ganz gewöhnlich aus, doch beim zweiten Blick erschrak sie sich so sehr, dass sie abermals aus der Konzentration schreckte. Sie hatte in der Luft geschwebt.
Vor Elviras Augen begann sich alles an zu drehen, der Raum verschwamm und sie ließ sich auf den Boden sinken.
Sie lag eine Weile da, bis sie sich wieder beruhigt hatte, dann setzte sie sich auf, steckte die Brosche in ihre Tasche und räumte den Spiegel zurück.
Sie wollte nichts mehr davon wissen, es war alles Einbildung, das konnte nicht wahr sein, vielleicht hatte sie Halluzinationen.

Sie nahm ein Buch heraus, sie hatte es erst kürzlich aus der Bücherei ausgeliehen.
Es war ein Yoga-Buch, denn sie fand die Methode faszinierend und wollte mehr über die Geschichte erfahren. Außerdem wollte sie einige Übungen daraus ausprobieren und die Wirkungsweise herausfinden. Vielleicht konnte sie dann die besten, und die Sinnvollsten zu einem Übungsprogramm zusammensetzten, nach Schwierigkeitsstufen geordnet, denn damit konnte man sicherlich einige Erfolge erzielen, sie hatte bereits erfahren, das Yoga den ganzen Körper stärkte und auch die tiefer liegenden Muskeln stärkte.
Sie vertiefte sich darin, um nicht mehr an ihre magischen Gefühle denken zu müssen, denn sie hatte sofort an die Legenden in ihrem Buch denken müssen, worin der Mann allein mit seiner Konzentration so viel erreichen konnte und hatte den Wunsch es nachzulesen, auch wenn es eigentlich unnötig war, da sie ein fotographisches Gedächtnis hatte und den genauen Wortlaut der Legende kannte. Doch bevor sie noch weiter darüber nachgrübeln konnte, vertiefte sie sich in ihr Buch und erstellte dabei eine Systematik für ihre eigene Zusammenfassung.

Kapitel 7

Auch Linda saß alleine in ihrem Zimmer, doch sie leugnete ihre Magie nicht.
Boah, ist das merkwürdig, fast wie bei Harry Potter, immer passieren mir so komische Dinge, erst habe ich, weil ich mich wieder so schnell bewegen konnte die Statue umgeworfen und dann habe ich sie auch mit Zauberkraft wieder aufgesetzt. Wie diese Elvira geguckt hat, als die Statue wieder auf den Ständer geflogen ist. Das Gefühl war aber ganz anders als sonst. Nichts ist langsamer geworden oder so, es ist einfach nur leicht geworden und hat plötzlich ganz viel Schwung bekommen. Ob diese Elvira etwas davon bemerkt hat? Ich habe gehört dass sie sehr intelligent sein soll. Merken tut man ja nichts davon, sie spricht ja nie mit uns. Okay, sie ist auch auf einer anderen Schule, aber schließlich bin ich auch auf der Sportschule angemeldet, morgen, zum Anfang des neuen Halbjahres wechsel ich dahin, aber ich glaube nicht, dass ich dann nichts mehr mit den Leuten hier zu tun haben will. Die ist wahrscheinlich nur eingebildet, hält sich für etwas besseres, weil sie auf dieses Gymnasium geht.
Merkwürdig…
Ich hab gehört, dass sie wieder am längsten bei Schwester Elise gewesen war. Bestimmt steht die ganz gut mit der, die kriegt ja wegen ihrer Schule tausend Extrawürste gebacken, die darf immer alleine essen und so.
Ich weiß auch nicht wie ich meine Magie wieder heraufholen kann, sie kommt einfach, es ist so ein Gefühl aus der Magengegend, immer wenn ich es brauche kommt es. Das ist so cool. Ich wusste ja, dass ich anders bin… Wenn ich erst einmal auf der Sportschule bin, kann ich allen zeigen, wie gut ich bin, dann werden mich alle bewundern.
Okay, das tun sie hier ja auch, aber die heucheln alle nur, außerdem kann ja keiner mit mir mithalten, schon gar nicht hier, vielleicht können sie es auf der Sportschule, ich freue mich schon so! Die sind da bestimmt besser und der Sportunterricht ist bestimmt toller da, viel anspruchsvoller, vielleicht haben wir dann auch Wettkämpfe gegen andere Schulen und ich werde berühmt.
Scheiße!
Ich hab noch gar nicht gepackt. Jetzt muss ich mich aber beeilen. Also gut, meine Tasche, was brauche ich alles….
Socken, T-Shirts, Hosen, Unterwäsche, Waschzeug, Schulsachen, Sportsachen…
Ich darf ins Internat! Ins Sportinternat!
Naja, eigentlich ist es ja kein richtiges Internat, ich komme ja an den Wochenenden ins Waisenhaus zurück, aber es ist bestimmt so toll, wenn ich da bleiben kann, ich kann den ganzen Nachmittag Sport machen, die haben da bestimmt ein großes Angebot und die Plätze werde ich auch alleine benutzen dürfen…
Wow, ich freue mich so!

Während Linda froh summend ihre Tasche packte und Elvira sich in ihr Buch vertieft hatte, kamen die ersten Kinder schon ins Waisenhaus zurück und auch Rosie und eine der Schwestern kehrten zurück, um für Ordnung zu sorgen.

Das Essen ließ Elvira ausfallen, obwohl sie heute mit allen anderen essen könnte. Doch sie befürchtete, dass sie wieder an das magische Gefühl denken müsste und beim essen kann sie sich so schlecht ablenken.
Also blieb sie, weiter in ihr Buch vertieft, in ihrem Zimmer.

Linda ließ sich das Essen jedoch nicht entgehen. Sie hatte schon wieder Hunger.
„Linda?“, sprach sie eine Schwester an, die an der Tür gewartet hatte, „bist du fertig mit packen, du weißt doch, dein Bus fährt nach dem Essen los. Ich hatte dir ja gesagt, sie wollen dich noch einführen, bevor du morgen mit dem Unterricht anfängst.
Linda schlug sich mit der Hand vor die flache Stirn. Das hatte sie vollkommen vergessen. Gott sei Dank, dass sie schon gepackt hatte.
„Ja, da hast du wirklich Glück Linda.“ Einen Moment war sie verwirrt, doch dann begriff sie, sie hatte mal wieder ihre Gedanken laut ausgesprochen, das passierte ihr gelegentlich, wenn sie aufgeregt war. Da hatte sie sich inzwischen fast gewöhnt. Sie musste sich damit abfinden.

Elvira hatte ihr Buch durch. Sie hatte ein paar Stunden am Stück gelesen, so lang war es ja auch nicht gewesen.
Jetzt schrieb sie nieder, was sie davon gebrauchen konnte. Dank ihrer Systematik dauerte es nicht lang und das ganze Blatt war mit ihrer sauberen, klaren Schrift gefüllt.
Noch einmal blickte sie ihre Notizen an, dann nickte sie.
Sie legte das Buch auf einen Stapel, auf dem schon andere Bücher lagen, die sie zur Bücherei zurückbringen wollte. Dann lehnte sie sich zurück. Sie hatte mehrere Stunden entkommen können, doch jetzt überrollten sie die Gedanken fast. Es kribbelte sie in den Fingern, das Buch, was sie von der Frau bekommen hatte in die Finger zu nehmen und darin zu lesen. Doch sie widerstand der Versuchung und schaute stattdessen auf die Uhr. Es war bereits 16 Uhr. Sie hatte nicht gemerkt, dass soviel Zeit vergangen war. Jetzt gab es auch nichts mehr, was sie noch tun musste, keine Hausaufgaben und keine Bücher, die sie noch lesen wollte. Außer dieses eine…
Unsinn schimpfte sie in Gedanken alles ist haarsträubender Unsinn. Ich und Magie… Magie gibt es nicht, ist nicht vorhanden, niente, una tale sciocchezza. Ich hab wahrscheinlich einfach zu wenig gegessen, deswegen habe ich jetzt Wahnvorstellung, träume ich etwas in mein Leben hinein.
Wütend ging sie im Zimmer umher, bis sie beschloss, dass sie vielleicht mal raus gehen konnte, sie musste sich irgendwie ablenken, doch sie wusste nicht, was sie machen sollte.
Also nahm sie ihre Tasche und lief die große Steintreppe hinunter. Auf dem Weg nach unten kam ihr Leonie entgegen, wie so oft in letzter Zeit, mit Marie in Begleitung.
Elvira hatte sich noch immer nicht von dem Blick von Marie erholt, jedes Mal wieder traf es sie mit einer Härte, dass es sie schockte. Jetzt war sie in ein Gespräch mit Leonie vertieft. Elvira bekam nur einen Satz von ihr mit, sie sprach leise und jeder Satz klang wie eine Frage, da sie so zögerlich und schüchtern war. Doch dieser eine Satz, den sie jetzt mitbekam hatte nichts Fragendes an sich. Er klang fest und hart, als ob sie darüber nicht diskutieren wolle.
„…ich bin Vegetarier, ich werde nie wieder auch nur ein bisschen Fleisch essen. Nie!“ Marie sah Elvira und warf ihr einen Blick zu. Er war nicht freundlich, doch das störte Elvira nicht. Sie war fasziniert von den großen, weiten Augen, die so viel von Marie preisgaben.
„Hallo Elvira.“, grüßte Leonie, dann gingen die beiden weiter und Leonie schien beschwichtigend auf Marie einzureden.
Doch Elvira wusste, dass es sinnlos sein würde.
Sie ging hinaus, ohne noch einem der anderen Kinder des Waisenhauses zu begegnen. Sie hatte kein besonderes Ziel, wollte nur etwas Luft schnappen, da es ausnahmsweise mal sonnig und etwas wärmer als sonst war. Sie zog keine Jacke an, stattdessen einen dicken Pulli und ging vor die Tür.
Der Platz vor dem Haus war schattig, wie immer, doch trotzdem spielten Kinder hier.
Sobald sie den Platz verlassen hatte, wurde es wärmer, Elvira gab dem Schatten die Schuld, doch sie wusste, dass die bedrückende Atmosphäre, die das Waisenhaus auf sie hatte, mindestens zu einem großen Teil dazu beitrug.
Als sie die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spürte, wollte sie losrennen und einfach nur laufen. Das war völlig untypisch für sie, Sport hatte sie noch nie gemocht.
Sie lief an einer Schule vorbei, die achte Stunde war gerade vorbei und ein paar Autos der Lehrer standen noch auf dem Parkplatz. Unter ihnen war auch ein Opel Astra. Sie liebte Opel Astras. Sie wusste nicht warum, aber sie mochte die Form. Sie kam ihr so bekannt vor, doch sie wusste nicht woher. Eine Sekunde später wusste sie, woher. Eine Frau kam über den Schulhof gelaufen und stieg geradewegs in das Auto ein. Es war die Frau.
Sie wusste gar nicht, dass sie auch hier unterrichtete, sie hatte gedacht, dass sie nur an ihrer Schule unterrichtete.
Ging das, an zwei Schulen zu unterrichten?
Vielleicht wollte sie sich die Schule bei ihnen nur angucken und war jetzt auf der Suche nach anderen Schulen, weil ihr ihre nicht gefallen hat?
Elvira spürte einen Stich im Magen. Sie blieb stehen. Auf ein Mal wurde ihr schwindlig. Sie war es ja gewohnt, dass die Leute sich immer gegen sie entschieden, doch das war meistens nur unter gleichaltrigen, Lehrer taten das sonst nie. Doch eine ihr so wichtige Person hatte sich gegen sie entschieden, das traf sie mit voller Wucht. Die Tatsache, dass sie seit Tagen kaum etwas gegessen und nichts getrunken hatte, verbesserte ihren Zustand auch nicht und, kurz bevor ihr endgültig schwarz vor Augen wurde und sie sich an einen Baum klammerte, war sie peinlich berührt, sie schämte sich, das die Frau das mit ansehen musste, dass sie sich von ihrer zerbrechlichen Seite zeigen musste, sie schämte sich.

Als Elvira wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden. Es war ziemlich unbequem. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, doch ihre Beine und Arme waren eiskalt.
Sie öffnete ihre Augen und sah direkt in die braunen, ernsten Augen der Frau. Sie stand über Elvira gebeugt und lächelte sie an, als Elvira die Augen aufschlug.
Es war kein normales Lächeln und kein normaler Blick. Elvira konnte daraus vieles lesen. Sie hatte sich nichts eingebildet, die Frau war etwas Besonderes für sie und sie für die Frau. Elvira sah so viel Wärme in dem Blick, so viel Liebe für sie, dass ihr fast die Tränen kamen.
Diesen wichtigen Augenblick unterbrach eine andere Frau, die ebenfalls über sie gebeugt dastand.
„Na, gut, dass du wieder da bist. Wie geht es dir?“ Widerwillig wandte Elvira den Blick von dem Gesicht der Frau ab und antwortete:
„Mir geht es gut, vielen Dank.“ Sie stand auf, doch sie schwankte leicht.
„Vielleicht sollte ich dich nach Hause bringen, oder vielleicht auch ins Krankenhaus. Wie heißt du denn und wo wohnst du?“
„Ich heiße Elvira“ Sie glaubte zu sehen, wie die Frau sich zu freuen schien, doch es konnte auch Einbildung sein.
„Und ich wohne in der Theodor Heuss Straße, es ist nicht weit von hier, bloß dort um die Ecke, da komme ich schon alleine hin, danke.“, fuhr sie fort.
„Es ist okay.“, mischte sich die Frau wieder ein. Ihre Stimme war melodiös und sie hatte den Blick nicht von Elvira gewandt.
„Ich kenne sie. Ich kann sie nach Hause bringen.“ Sie legte einen Arm um Elvira und diese war glücklich, so glücklich wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Sie hatte jemanden, der sich um sie sorgte.
„Ach, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Ich bin Frau Klausel. Ich unterrichte hier.“ Frau Klausel. So hieß sie also. Der Name passte nicht zu ihr, er klang irgendwie plump. Elvira überlegte, wie sie wohl mit Vornamen hieß. Vielleicht Brigitte? Nein, das passte auch nicht. Sie brauchte schon einen tollen Namen, einen der die Anmut von ihr beschrieb. Wie Gabriella.
„Einen Moment noch.“, unterbrach die andere Frau sie. Sie hatte einen besorgten Zug um die Augen.
„Kind, du weißt das das nicht gut ist!“ Elvira runzelte die Stirn. War es nicht gut, sich zu freuen, wenn sie endlich eine Person hatte, die sie liebte und für sie da war? Durfte sie das nicht?
Doch die andere Frau meinte etwas anderes.
„Du bist schon dünn genug. Es ist nicht gut zu wenig zu essen, siehst nicht, wie mager du bist? Warum machst du das?“ Was machte sie? Es war doch nicht ihre Schuld, dass sie dünn war? Die Frau konnte doch nicht glauben, dass sie aus Absicht so dünn war?
Doch auch dieses Mal half Frau Klausel ihr.
„Lassen sie es gut sein. Ich glaube nicht, dass sie absichtlich so dünn ist. Sie ist mit Sicherheit nicht magersüchtig. Ich kenne solche Mädchen und ich kenne auch sie. Nein, das wäre Unsinn. Ich rede aber mit der Erziehungsberechtigten.“
Sogar jetzt sagte sie ihr nicht, dass sie Waise war. Die Frau war so toll.
Doch, woher wusste sie denn, dass sie Waise war? Vielleicht noch von ihrem Ausflug zum Flohmarkt? Ja, wahrscheinlich, es war da ja nicht zu übersehen gewesen, dass sie bei den anderen Waisenhauskindern gewesen war.
Jetzt schämte sie sich dafür, dass Frau Klausel sie für ihre Magerkeit rechtfertigen musste. Ihr war es unangenehm, dass sie vor ihren Augen zusammengeklappt war. Sie streifte Frau Klausels Arm ab und sagte:
„Vielen Dank, aber ich kann schon alleine gehen, ich hab nur leichte Kreislaufprobleme, das geht aber immer nach kurzer Zeit vorbei.“
Das war eine Lüge, doch sie kam sich dann besser vor. Sie war nicht Magersüchtig, das sollten sie ruhig wissen.
„Na, wenn das so ist.“, sagte die eine Frau erleichtert und Frau Klausel lächelte sie an, wie wenn sie sagen wollte, dass es doch klar ist, dass sie nicht Magersüchtig war.
Doch in Wirklichkeit war sie besorgt.
Mein Gott, sie hat keine Kreislaufprobleme, und ich ahne auch, warum sie wirklich zusammengeklappt ist, sie hat Kummer, sie hat Probleme, und im Waisenhaus wird nicht gut auf sie geachtet, irgendwann ist sie vielleicht so unglücklich, dass sie…
Ich will nicht daran denken. Ich muss sie da raus holen, doch ….
Sie war schon immer so ein ernstes Mädchen, ich verstehe schon, dass es schwer für sie sein würde, zu akzeptieren…
Das Waisenhaus ist nicht gut…
Sie hat noch nicht einmal Freunde gefunden. Sie tat sich immer schwer damit, aber ich hatte gehofft, das wenigstens die anderen nicht…
Nur noch ein Jahr, höchstens noch ein Jahr, dann kommt sie wieder zu mir.
Ein Jahr…

Mit einem schlechten Gewissen ging sie zurück zum Waisenhaus. Sie hatte sich ja toll verhalten. Klasse, einmal hatte ich die Gelegenheit sie noch einmal zu sehen, da muss ich mich so blamieren. Alles nur, weil ich so zimperlich bin, wenn es um Gefühle geht. Das ist ja schrecklich.
Sie ging schon wieder nicht zum Essen, sie hatte auch keinen Hunger, stattdessen legte sie sich früh schlafen.

Sie träumte wieder. Sie träumte, dass sie auf einer einsamen Insel war, nur ein paar andere waren mit ihr dort, Schwester Elise, Rosie, Linda, Leonie, Marie, Martha und ihre Nachhilfeschülerin aus dem Internat, Andrew und Colin aus der Schule und natürlich Frau Klausel. Die Sonne schien, doch es war kalt, so kalt, dass sie sich alle Jacken anzogen, die sie mit hatten.
Sie sah, wie alle einen anderen hatten, mit dem sie sich unterhielten, sich anfreundeten, immer zwei, Leonie und Marie, Rosie und Schwester Elise, Andrew und Colin, das war ja klar gewesen, auch Martha und ihre Nachhilfeschülerin, Carolina, waren nicht weiter verwunderlich, doch das Frau Klausel sich für Linda entschied, versetzte ihr einen Schlag, dass sie fast ohnmächtig geworden wäre. Doch sie hielt durch, sie schaffte es, sie schloss sich ab, die Gefühle erreichten sie nicht mehr und sie konzentrierte sich darauf, ihr Leben auf der Insel bequemer zu machen. Sie verdrängte die traurigen Gefühle, weil sie wusste, dass sie innerlich zerstört werden würde, wenn sie sich weiterhin der Qualen aussetzten würde. Es war nie gut Gefühle zu zeigen. Das hatte sie gelernt, das würde sie nur bereuen. Sie baute ihnen eine Feuerstelle, sammelte Holz und Früchte, die nicht giftig waren, sie fand einen guten, geschützten Unterschlupf, sie organisierte alles, kümmerte sich um ihre Heimreise.
Sie machte sich unentbehrlich, doch trotzdem wollte keiner weiter etwas mit ihr zu tun haben, sie merkte wie gemein die Menschen wirklich waren, wie hinterhältig sie waren und wie eiskalt sie sie ausnutzten.
Doch ihr konnte das nichts mehr anhaben, denn sie berührte es nicht mehr, ihr war es egal. Sie war zufrieden damit, ihr Leben bequem zu machen und ihr eigenes Wissen zu mehren, um irgendwann etwas richtig Wichtiges tun zu können.

Ihr Wecker weckte sie am nächsten Morgen, es war wie immer sehr früh. Sie stand aus Routine auf, wusch sich und zog sich an, packte ihre Schultasche und ging hinunter um bei Rosie in der Küche zu frühstücken. Das tat sie alles nur, weil sie es jeden Morgen tat, auch gegessen hätte sie nicht, hätte sie es nicht jeden Morgen gemacht.
Obwohl Rosie besonders fürsorglich war, Frau Klausel hatte im Waisenhaus angerufen, kümmerte Elvira sich nicht darum, ihr einziges Bestreben war in die Schule zu kommen, wo sie etwas lernen konnte und außerdem neue Bücher aus der Schulbibliothek auszuleihen.

Im Unterricht war sie wieder die beste, sogar in Geschichte, da sie es nicht mehr störte, was die Mitschüler dachten oder sagten. Es war ihr vollkommen gleichgültig. Auch die Tatsache, dass sie wieder die Beste war, schmeichelte sie nicht, wie sonst.
Als Frau Klausel an ihr vorbeikam, es war Dienstag, war sie emotional nicht berührt. Im Gegenteil, ihre heftigen Gefühle - erst Schwärmerei, Bewunderung und auch Liebe, in ihrem Traum dann Abscheu und auch Hass - waren einer kühlen Gleichgültigkeit gewichen.
Frau Klausel dagegen bemerkte die Veränderung sofort. Sie war sofort alarmiert.
Was ist mit ihr passiert? Sie sieht aus, als ob sie keine Gefühle mehr hätte, sie reagiert nicht mehr, sie hat mich doch immer so nett angelächelt, jetzt guckt sie nur so, ja, so gleichgültig! Elvira!
Du bist doch…

Die nächsten Tage waren für Elvira schnell vorüber. Da sie nur noch für das Lernen lebte, hatte sie ihren emotionellen Teil von ihr, das eigentliche Bewusstsein, abgelegt. Sie bemerkte alles, was um sie herum passierte und reagierte auch auf einige Reize, doch sie nahm es nicht mehr bewusst auf. Sie bemerkte den Hund nicht, der ihr wieder zur Bushaltestelle folgte nicht, und auch Rosies schlechte Laune nicht, war diese jedoch ihrerseits nicht bemerkte. Sie war sauer, weil eines der Waisenhausmädchen beschlossen hatte, Vegetarier zu werden und sie jetzt auch noch vegetarische Mahlzeiten zubereiten musste, zusätzlich zu den üblichen Sachen.
Auch als der Hund vor dem Waisenhaus rumlief, reagierte sie nicht und sie machte sich keine Gedanken über Marie, die sich zu dem Hund hinunter gebeugt hatte und scheinbar mit ihm sprach. Selbst wenn sie es bemerkt hätte, wäre es ihr egal gewesen, Leute, die mit Tieren sprachen, als ob sie sie verstehen würde, mochte sie nicht.
Keiner schien ihre Veränderung bemerkt zu haben, so konnte auch keiner etwas dagegen machen. Alleine Leonie schaute sie manchmal besorgt an, doch auch das bemerkte Elvira nicht.

Oh mein Gott, was ist denn mit Elvira los, ich kann keine Gefühle bei ihr spüren, es ist als ob sie keine haben würde, das ist ja beängstigend, so etwas habe ich noch erlebt. Okay, ich kann es auch erst seit ein paar Tagen, das mit den Gefühlen, aber alle Menschen müssen doch etwas fühlen, keiner kann einfach leer sein, es ist als würde sie eine Art Roboter sein, aber sie ist trotzdem so intelligent. Obwohl, ihre Intelligenz hat sie auch abgelegt, eigentlich ist es nur Wissen. Intelligenz ist wohl auch an die Gefühle gebunden. Ich wünschte, ich könnte ihr irgendwie helfen, doch sie will ja keine Hilfe annehmen.
Marie ist ja im Moment ja auch beschäftigt, sie ist ja so tierlieb, ich wusste gar nicht, dass das noch möglich ist… Sie scheint Tiere mehr zu mögen als Menschen. Ich wüsste so gerne, warum sie sich so in sich zurückgezogen hat.
Ich gehe jetzt am besten mal zu ihr, wer weiß auf welche Gedanken sie jetzt wieder gekommen ist.
Ja, da hockt sie, bei einem Hund, nein, einer Hündin, sieht ziemlich alt aus und etwas struppig, bestimmt ist sie ein Hund auf der Straße ohne Besitzer und Marie hat Mitleid mit ihr.
Ja, da gibt sie ihr etwas Wurst, die hat sie heute vom Tisch mitgenommen…
Sie kennt sie also schon länger.
Na, ich will ihr ja nicht hinterher spionieren. Ich gehe lieber und lese mein Buch weiter. So eine Schnulze und die Gefühle sind auch noch so blöde beschrieben. Naja, egal.
Wo habe ich das Buch denn hingelegt?
Ah, da ist es ja. Unter meiner Decke. Ich habe auch eine Unordnung. Ich sollte mir mal angewöhnen aufzuräumen.
Und dieses Buch ist wirklich der Gipfel der Schnulze:

„Liebe ist alles, Liebe ist alles, was wir brauchen…“, sangen die Rosenstolze weiter und weil ich da ganz ihrer Meinung war, ließ ich mich wieder zurück ins Gras fallen. Das heißt, eigentlich drehte ich mich ein wenig so, dass ich etwas dichter an Markus zu liegen kam. Der verstand sogleich den Wink und zog mich in seine Arme.
Heftiges Knutschen, schmatzende Glücksseufzer und seliges Kicher. Wirklich, was brauchte der Mensch ehr? Liebe Sonne Zärtlichkeit.
Seit ich mit Markus zusammen war, fühlte ich mich, als hätte ich eine Schmetterlingsfarm im Bauch. Ständig schlüpften neue Falter aus ihren harten Puppen, in denen sie so lange eingesperrt gewesen waren.“

Und obwohl das Buch so eine Schnulze ist, mag ich es und lese sehr gerne Schnulzen. Vielleicht weil ich mich insgeheim nach so einer Beziehung wie die sie haben sehne. Schön wärs ja, wenn ich auch einen Freund hätte. Aber was will ich, ich bin erst 13. Oder 14, das weiß hier keiner. Geburtstag habe ich einfach an dem Tag, an dem sie mich aufgenommen haben. Tristes Datum, der 23.11. Mitten im Spätherbst. Toll.
Naja, zurück zu der Schnulze.

„Manchmal jedoch befiel mich ein großes, innerliches Zittern.
Und dann stand ich vor dem Spiegel, fand meine dunklen langen Haare langweilig, meine Nase zu groß, den Hals zu dick und jeden Leberfleck oder Pickel katastrophal. Wieso sollte Amor gerade für mich einen Pfeil abgeschossen haben? Und dann noch ausgerechnet in das Herz unseres obercoolen Markus! Das war doch wirklich verrückt.“

Oh Gott! Dieses Mädchen sollte die Gefühle des Jungen spüren können, so wie ich, dann würde sie nicht immer an sich zweifeln. Na, dann würde sie aber auch nicht verrückt werden, so wie ich im Moment. Nicht ihre lächerliche Beziehung war verrückt, sondern meine komische Gabe. Was soll ich nur machen? Anfangs war es noch toll, aber langsam wird es doch wirklich beängstigend. Ich hatte nie gewusst, wie es sich anfühlen würde, wenn man verrückt wird.
Aber, wenn man verrückt wird, merkt man dann, dass man verrückt wird? Langsam kriege ich wirklich Angst. Was ist das denn hier? Was passiert mit mir? Ich begreife nicht, warum ich so komische Sachen spüre, warum ausgerechnet ich so etwas Merkwürdiges erleben muss. Ja, okay, ich wollte früher immer wissen, was mein Gegenüber spürt, doch ich wollte es doch wahrscheinlich nicht wirklich. Ich lebe dafür, mit anderen Menschen zusammen zu sein, ja, aber wieso passiert dann so etwas mit mir?
Eigentlich sollte ich mich ja freuen, es akzeptieren, aber…
Mein Gott, jetzt werde ich auch noch hysterisch. Ich bin schon fast wie diese anderen, die nie ungeschminkt herumlaufen und bei dem kleinsten Wassertropfen einen Anfall kriegen, die nichts auf die Reihe kriegen, die immer hysterische Anfälle haben, wenn man ihnen begegnet. Das ist ja erbarmungswürdig. Ich will nicht so sein. Ich möchte meine echt außergewöhnliche Gabe akzeptieren, sie nutzen und mich an ihr erfreuen. Ich kann richtig etwas damit bewegen. Wenn ich die Gefühle richtig spüre, weiß ich alles. Ich kann immer sehen, wenn mich jemand belügt, weiß, wenn jemand nervös ist oder Angst hat und denen kann ich dann helfen. Toll!
Vielleicht kann ich dann auch Elvira oder Marie helfen. Hoffentlich.
Ich werde jetzt gleich zu Elvira gehen und mit ihr reden.
Oh, es ist ja gar keiner mehr im Haus. Ist es so gutes Wetter, dass sie alle draußen sind? Scheinbar. Aber Elvira ist mit Sicherheit in ihrem Zimmer und liest irgendein Buch.

Elvira saß in ihrem Zimmer. Sie war sich gar nicht richtig bewusst, was sie tat, aber sie wusste, dass sie gerade Unmengen von Wissen in sich aufnahm. Vielleicht war es Physik, aber vielleicht auch Informatik, das wusste sie nicht. Aber so lange sie es nicht brauchte, musste sie es ja auch nicht wissen.
Da klopfte jemand an ihre Zimmertür. Sie öffnete die Tür. Wenn derjenige gleich wieder gehen würde, konnte sie auch wieder weitermachen mit, … was auch immer.
Wer stand draußen? Das wusste sie nicht. War ja auch egal, Hauptsache er ging bald wieder. Die Person redete mit ihr, doch sie wusste nicht was sie sagte. Sie antwortete auf die normalen Floskeln automatisch, ohne richtig darüber nachzudenken.
Doch langsam sollte sie wieder gehen, Elvira wollte weitermachen. Sie spürte einen Drang, doch vor diesem Eindringling konnte sie nicht einfach weitermachen, vielleicht würde er Verdacht schöpfen und irgendwen anderen schicken.

Sie kann doch nicht alle Emotionen abgeschaltet haben. Wie sollte man das schaffen?
Vielleicht kann ich ja noch tiefer in ihre Gefühle eintauchen. Nun gut, sie hat keine, aber ich bin sicher, dass sie sie nur verdrängt. Ich muss mich für die Gefühle öffnen, bisher habe ich mich ja versschlossen, auf jeden Fall ein bisschen. Ich muss mich öffnen, öffnen für alles, für alle Gefühle, die hier sind.
Da, ich habe es! Ich wusste doch, dass sie ihre Gefühle unterdrückt. Aber so grausam. Wie soll sie denn jemals wieder dahin kommen, sie zu fühlen?
Sie fühlt, ähh, hat ja nur schlechte Gefühle gefühlt. Enttäuschung, Schmerz, Abneigung, Gleichmut.
Warum hat sie denn nie Freude gefühlt? War sie nie fröhlich?
Eigentlich gibt es ja nur zwei Möglichkeiten, entweder war sie nie glücklich, oder die negativen Emotionen waren so schlimm, dass sie alles andere verdeckt haben.
Oh, da! Eine kleine Ecke der ganzen Emotionen ist doch glücklich. Darin hat sie die glücklichen Erinnerungen aufbewahrt. Ist das schön. Sie ist ja doch so glücklich, wie nur möglich. Es tut so gut ihre glücklichen Emotionen zu spüren.
Nur wie kann sie jemals wieder dahinein kommen?
Wie kann ich ihr bloß helfen?
Wahrscheinlich nicht alleine, dafür brauche ich die Hilfe von anderen Menschen, die sie besser kennen. Doch, hat sie überhaupt Freunde?
Wahrscheinlich nicht.
Am besten gehe ich jetzt wieder. Es hat ja doch keinen Sinn…

Elvira war erleichtert, als die Person den Raum wieder verließ. Sie hatte ein komischen Gefühl gehabt, denn sie wollte nicht gehen und dann musste sie sich an alle Gefühle erinnern die sie gehabt hatte. Doch jetzt war sie wieder weg. Glück gehabt.
Doch diese kurze, ganz minimale, schwache Emotion dauerte nicht lang, danach nahm sie sich wieder ihr Buch und las weiter, mit ihrem einzigen Ziel, sich mehr Wissen anzueignen.

Hier ist ja keiner mehr. Nur Marie woah….
Irgendetwas ist passiert! Ich fühle die Emotionen jetzt viel stärker als vorher. Es ist überwältigend. Ich spüre jede kleinste Emotion in Marie. Die Emotionen sind so komplex, aus so vielen kleinen Facetten wird eine Einheit, die wir dann kurz als Zuneigung beschreiben, das kann doch nicht sein.
Ich habe ein so großes Band mit Marie, jetzt wo ich ihre Gefühle so genau kenne und nachvollziehe, sie spüre wie meine eigenen.
Es ist einfach unglaublich, wie ich diese Gefühle spüre. Dabei gehen meine eigenen Gefühle richtig unter. Wie kann das nur sein, dass ich diese wundervolle Gabe habe, dass ich die Gefühle von ihr so genau nachempfinden kann.
Jetzt ist alles viel klarer als vorher, so genau, als hätte ich einen neuen Sinn. Naja, habe ich auch, aber es ist, als würden meine Augen jetzt viel mehr sehn, als wenn ich noch ein Augenpaar mehr haben würde, eines, dass Sachen erkennt, das das andere nicht sieht, es ist einfach atemberaubend, wie sich meine ganze Ansicht geändert hat, es ist, als ob ich immer auf diese Sicht gewartet habe, als ob vorher ein ganz wichtiger Aspekt gefehlt hätte, vielleicht der wichtigste in meinem Leben.
Ich kann es gar nicht richtig beschreiben, wie toll es sich anfühlt, als könne ich jetzt alles sehen, alles, was für die Augen sonst verborgen bleibt.
Marie, ich muss mich um sie kümmern. Sie ist etwas glücklich, aber so selten, im Moment schon, aber nur, weil sie bei diesem Hund ist. Sie liebt diesen Hund, ich weiß nicht warum, andere nicht so stark. Was ist an diesem Hund dran? Er sieht noch nicht einmal gut aus, und ich wüsste nichts, was er sonst haben könnte.
Was soll ich nur zu ihr sagen. Ich kenne ihre Gefühle, doch sie weiß nicht, dass ich es weiß, das ist sehr unfair, sie ist im Nachteil.
Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich wüsste nicht, wie ich es ihr beschreiben sollte, ich kann es nicht ausdrücken.
Was soll ich nur machen, wenn ich irgendwie auf ihre Gefühle reagiere, wird sie vermutlich ihr Vertrauen zu mir verlieren und misstrauisch werden. Ich muss sehr vorsichtig sein.

„Hallo Leonie!“, sagte Marie. Sie war glücklich mit ihrer Situation. Sie hatte einer Hündin geholfen und eine Freundschaft aufgebaut. Indem sie ihr etwas zu Essen gebracht hatte, weil sie Mitleid hatte, hatte sich die Hündin bei ihr bedankt. Nun war sie auf der Suche nach einer Bürste, mit der sie das Fell reinigen konnte, sie sah arg zerfetzt aus.
Auf dem Flur war sie zufällig auf Leonie getroffen. Leonie war immer so nett zu ihr gewesen und hatte sie mit in die Stadt genommen, obwohl sie doch mit so vielen anderen hätte gehen können, alle wollten Leonies Freundin sein.
„Hallo Marie.“, antwortete Leonie mit einem komischen Unterton in der Stimme. Sie sah so glücklich aus wie sie sich fühlte. Komisch.
„Was machst du hier?“, fragte Leonie sie und Maries Misstrauen löste sich auf. Es war dumm zu glauben, dass Leonie glücklich wegen ihr war.
„Ich suche eine Bürste für die Hündin, die ich draußen getroffen habe.“ Marie hätte so gerne eine Person gehabt, die für sie sorgte. Die sich Sorgen machte, wenn es ihr schlecht ging und sich freute, wenn es ihr gut ging. Doch sie war Waise. Im Waisenhaus hatte man keine Mutter. Manche Kinder im Waisenhaus hatten sich Freundinnen im Waisenhaus gesucht, die füreinander sorgten. Sie bewunderte diese Mädchen. Sie hatten einander und ihre Freundschaft war so tief, dass sie für einander wie eine Familie waren. Wie gerne wäre Marie dabei gewesen. Doch sie war nicht der Typ für solche Freundschaften, sie war so schüchtern und andere Mädchen dachten immer, dass sie arrogant wäre.
Ein tiefer Schmerz in der Magengegend überkam sie.
Plötzlich krümmte Leonie sich, scheinbar vor Schmerz. Marie wurde abgelenkt und sprang auf Leonie zu. Doch diese hatte sich wieder erholt und stand aufrecht vor ihr.
„Leonie, geht es dir gut? Was ist mit dir?“
„Nichts, es ist okay, alles gut.“ Antwortete sie und Marie wusste, dass es nicht die Wahrheit war. Leonie wollte sich ihr nicht anvertrauen. Das traf sie tief.
Doch schon wieder wurde sie abgelenkt. Leonie hatte sich abermals gekrümmt und hatte sich umgedreht. Jetzt lief sie in ihr Zimmer zurück.
Marie sah ihr nach. Nie würde sich irgendjemand ihr anvertrauen. Keiner vertraute ihr.
Doch! Die Hündin, Eleonora! Sie wartete doch draußen auf sie!
Schnell lief sie in ihr Zimmer und nahm ihre Bürste aus dem Schrank, dann lief sie wieder nach draußen, wo Eleonora schon wartete. Es war merkwürdig, wenn sie Tiere aller Art anschaute, und dann zu ihnen sprach, schienen sie sie zu verstehen. Manchmal antworteten sie sogar auf sie, wenn sie sie um etwas bat zum Beispiel. Marie überlegte sich, ob Tiere wohl immer mitbekamen, wenn man zu ihnen sprach oder ob sie nur das von ihr mitbekamen. Vielleicht merkten sie, dass Marie anders war, dass sie Tiere liebte.
Es kam ja oft vor, dass Tiere, die lange bei Menschen gelebt hatten die Stimmung des Menschen mitbekamen, dass sie merkten, wenn sie Angst hatten.
„Eleonora.“, sprach sie die Hündin an, die erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelnd auf einem der Plateaus stand, die vor dem Waisenhaus standen.
„Ich bin wieder da. Ich habe die Bürste mitgebracht, von der ich dir erzählt habe.“ Sie deutete auf ihre Bürste und Eleonora kam und blickte sie aus ihren braunen Augen an. Die Augen sahen klug aus. Nicht wie die treuen Hundeaugen, mehr wie die Augen eines Menschen, eines alten, weisen Menschen.
Sie hockte sich neben Eleonora und begann mit ihrer Bürste durch das Fell zu gehen.
Anfangs war es schwer, das Fell war verdreckt und teilweise auch verfilzt. Eleonora schien es gut zu tun. Sie fühlte sich wohl und Marie fand wieder zu ihrer glücklichen Miene zurück. Tiere in ihrer Umgebung glücklich zu machen, war einer ihrer größten Antriebe. Und es war so viel leichter als Menschen glücklich zu machen.
Sie schaute ihre Bürste an. Die konnte sie jetzt nicht mehr für ihre Haare benutzen. Sie war so verdreckt. Naja, sie hatte auch noch einen Kamm, es war jetzt nicht so schlimm, nichts im Vergleich zu der Freude, die sie Eleonora bereitet hatte.
„Wo schläfst du denn heute, Eleonora? Es wird wieder kalt.“ Eleonora schüttelte sich, als wolle sie Marie komische Frage abweisen.
„Du schläfst immer draußen, nicht wahr?“ Eleonora sah Marie in die Augen und Marie wusste, die Antwort war ja.
Wenn sie nur eine Möglichkeit hätte, Eleonora aufzunehmen, im Waisenhaus, doch Tiere waren verboten. Wenn sie doch nur in einem normalen Haus gewohnt hätte. Wenn sie adoptiert geworden wäre. Doch keines der Paare hatte sie gewollt. Problemkind hatten sie immer gesagt. Sie hatte nicht die Möglichkeit, Eleonora aufzunehmen. Sie akzeptierte die Regeln im Waisenhaus und wusste, dass ein Hund eine Belastung wäre, eine Belastung für das ganze Haus, für die Kinder, die Köchin und die Angestellten.
Die Köchin hatte sie ja schon genug geärgert. Es war komisch gewesen, ein schlechtes Gefühl, jemandem absichtlich den Job zu erschweren. Sie hatte sich dazu entschlossen Vegetarier zu werden, sie konnte einfach kein Fleisch mehr essen, besonders seit sie die neue Verbindung zu allen Tieren hatte. Die Köchin hatte das nicht gefreut, das war ihr bewusst gewesen, doch sie konnte einfach kein Fleisch mehr essen. Es ging nicht, es kam ihr vor wie Kannibalismus.
Da sie es sonst immer allen recht machen wollte, war es für sie schlimm gewesen auf ihren Wunsch zu bestehen.
„Aber du kommst doch morgen wieder, oder? Ich muss morgen in wieder in die Schule. Ich gehe hier auf das Theodor-Heuss-Gymnasium. Das kennst du bestimmt. Es ist gleich hier um die Ecke. Vielleicht sehen wir uns ja, wenn ich auf dem Weg dorthin bin?“ Hoffnungsvoll blickte sie Eleonora an. Eleonora war für sie eine Freundin.

Kapitel 8

Marie hüpfte die Treppe hinunter zum Frühstück. Sie hatte strahlend gute Laune. Sie freute sich auf das Treffen mit Eleonora auf dem Schulweg und auf die zwei Stunden Bio, die sie heute hatten. Biologie war ihr absolutes Lieblingsfach, das einzige Fach, in dem sie keine Hemmungen hatte aufzuzeigen und in dem sie glatt Eins stand. Als einzige.
Im Esssaal angekommen, nahm sie sich ein Tablett und ging an der Anrichte entlang.
Eine Schale, Haferflocken rein, Milch dazu, einen Löffel und eine Tasse Kakao, dann suchte sie sich einen Platz. Leonie saß an einem Tisch in einer der Ecken und war ganz alleine. Gerade als Marie sich zu ihr setzten wollte, nahm sie ihr Tablett und stand auf.
„Tut mir Leid, Marie. Ich bin gerade fertig und muss noch schnell etwas erledigen.“ Und schon war sie weg. Verwundert schaute Marie ihr nach. Komisch. Es war noch so früh, Leonie war nie so früh auf, sonst kam sie oft auf den letzten Drücker. Auch wenn sie so früh ist, hätte sie sonst trotzdem gewartet, bis Marie gegessen hatte und war dann mit ihr hochgegangen. Naja, sie hatte ja noch etwas scheinbar sehr wichtiges zu erledigen.
So aß sie alleine. Als sie fertig war, ging sie nach oben und machte sich fertig für die Schule.
Sie wollte zu Leonies Zimmer gehen und sie zur Schule abholen, doch eine der Schwestern kam aus ihrem Raum und sprach sie an.
„Ah, Marie, gut dass ich dich treffe, du bist doch bei Leonie in einer Klasse, nicht? Dann könntest du bitte Bescheid sagen, dass sie krank ist und heute nicht zur Schule kommt, ja? Danke.“
Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, ging sie davon. Marie runzelte die Stirn. Leonie war krank? Beim Frühstück sah sie ganz gesund aus, zwar etwas gestresst, doch nicht krank.
Alleine machte sie sich auf den Weg zur Schule. Ihre gute Laune war fast verflogen. Heute würde die Schule doch nicht so toll sein. Die anderen würden es wohl ausnutzen, dass Leonie nicht da war und sie wieder ärgern. Na toll. Trotzdem, sie hatte heute Bio.
Eleonora stand hinter der Hausecke. Marie strahlte und lief auf sie zu.
„Eleonora! Du bist gekommen!“, rief sie. Diese blickte sie mit einem so vorwurfsvollen Blick an, als ob sie das für selbstverständlich gehalten hätte.
„Du meinst es ist selbstverständlich?“, fragte Marie, und sah jetzt die Zustimmung in dem Blick von Eleonora.
„Du meinst, ich bin dir wichtig?“, fragte sie aus einer Ahnung heraus weiter. Wieder die Zustimmung in ihrem Blick. Konnten Hunde Emotionen und so etwas für Menschen empfinden? Ging das? Laut ihrem Biologielehrer nicht. Doch sie hatte die Vermutung, dass Eleonora genau gespürt hat, dass es ihr so schlecht ging und dass sie deswegen zu ihr gekommen war um ihr eine Freundin zu ersetzen.
Sie waren an der Schule schon angekommen. Sie lag direkt neben dem Waisenhaus und fast alle der Kinder im Waisenhaus gingen hier hin. Nur ein paar nicht, diese sportliche, beliebte Mädchen, Linda oder so hieß sie, war auf einem Internat, wahrscheinlich ein Sportinternat, diese sehr intelligente Schülerin, Elvira, die sie letzte Zeit öfter gesehen hatte, war auf einem privaten Naturwissenschaftsgymnasium und dessen Zimmergefährtin, ein sehr großes, dünnes Mädchen namens Eileen, sie war auch auf einem Internat, gingen auf eine andere Schule. Es war komisch, die Kinder aus dem Waisenhaus waren alles Gute Schüler, sie waren alle auf einem Gymnasium.
Marie hatte die Vermutung, dass die Nonnen aus dem Waisenhaus dafür sorgten, dass sie immer guckten, dass die Schüler gut lernten, damit sie nachher einen guten Job bekamen.
Eleonora bellte plötzlich laut und Marie schreckte hoch. Den Grund für Eleonoras Freude erkannte sie schnell. Eine Frau, ungefähr Mitte dreißig, lief an ihnen und schenkte Marie ein strahlendes Lächeln. Unwillkürlich lächelte Marie zurück. Ein tolles Lächeln hatte die Frau. Marie kannte sie nicht, scheinbar war sie neu hier oder arbeitete nur halbtags.
Doch, sie musste sich eingestehen, dass sie noch nie auf die Lehrer geachtet hatte, die an ihrer Schule waren. Sie war zu beschäftigt mit ihren eigenen Problemen gewesen. Das war nicht fair. Die Lehrer waren teilweise bewundernswerte Persönlichkeiten, auch sie mussten gewürdigt werden. Sie war sehr egoistisch gewesen.
Oder einfach depressiv. Das musste sich ändern. Na, sie hatte jetzt Biologie. Das freute sie.
Eleonora sprang noch immer wie wild um Marie herum und blickte zu der Frau, die sich umgedreht hatte und scheinbar nachdenklich auf Eleonora starrte.
„Kennst du sie?“, fragte Marie Eleonora, da diese sich immer noch nicht eingekriegt hatte. Eleonora warf ihr einen bestätigenden Blick zu, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Frau.
„Wer ist sie denn?“, fragte sie weiter. Eleonora warf ihr abermals einen Blick zu und Marie fragte, ohne wirklich zu wissen, wo sie die Frage oder das Wissen, um die Frage stellen zu können, her hatte:
„Sie ist eine Verwandte?“ Komisch, an Eleonoras Blick konnte sie zwar erkennen, dass sie richtig lag, doch sie wusste nicht warum sie das gefragt hatte und wie eine Frau mit einem Hund verwandt sein konnte. Wirklich merkwürdig.
Die Schulglocke läutete und Eleonora verabschiedete sich von Marie und rannte den Weg entlang, in der entgegengesetzten Richtung von der sie gekommen waren.
Ihre Schule war ein heruntergekommenes Gebäude, an allen Ecken und Ende schimmelte es und die Wände, Böden und Decken hatten Wasserflecken und waren von den vielen Schülern, die hier schon gewesen waren, verdreckt.
Sie hatte jetzt Bio!
Eilig lief sie einen Korridor entlang zu den Biologieräumen, die im Erdgeschoss des Hauptgebäudes lagen. Auch sie waren nicht renoviert geworden, sie hatten nur ein Mikroskop und an einen Fernseher war gar nicht zu denken. Einen Over Head Projektor musste man sich ausleihen.
Ihre Klasse stand schon vor dem Raum. Ein Mädchen kam auf Marie zu sobald sie sie sah.
„Wo ist denn Leonie? Du weißt doch sicher, was mit ihr ist?“ Marie seufzte. Keiner würde auf sie zukommen, weil er auf sie gewartet hätte, sie kamen nur um nach Leonie zu fragen.
„Sie ist leider krank.“, antwortete sie dennoch höflich. Das Mädchen guckte geschockt.
„Was hat sie denn?“
„Ich weiß es nicht, sie haben mich nicht zu ihr gelassen. Tut mir leid.“
Schritte hallten durch den Gang und Marie blickte sich erwartungsvoll um. Sie wollte jetzt endlich Bio haben. Doch statt dem Biologielehrer kam die Frau von vorhin den Gang entlang.
„Ihr seid die 8e, nicht wahr?“, fragte sie, sobald sie sie erreicht hatte. Würde Biologie ausfallen? Fragte sich Marie in dunkler Vorahnung, doch die Frau schloss den Raum auf und ließ sie herein, als sie von allen Seiten zustimmendes Gemurmel hörte.
„Gut“, fing sie an, als alle Platz genommen hatten. Marie bemerkte, dass sich die Jungen alle woanders hingesetzt hatten, nebeneinander, sodass sie ungehindert miteinander reden konnten. Sie nutzten aus, dass die Frau ihre Sitzordnung nicht kannte.
„Ich bin Frau Klausel, und ich werde den Unterricht von Herrn Stängel übernehmen, da er für einige Zeit nicht an der Schule sein wird.“ Marie war erleichtert. Bio fiel nicht aus und sie bekamen die nette Frau in Bio. Das war nicht schlecht.
„Ich würde es im Übrigen vorziehen, dass ihr euch nach eurem normalen Sitzplan richten würdet. Ich habe ihn hier und auch eine Liste mit den Namen und Fotos der Klasse, das heißt ich merke ganz genau, dass ihr mich hintergehen wolltet.“
Gemurre war zu Hören und die Jungen wechselten schnell die Plätze, sodass sie wieder so saßen, wie der Sitzplan es vorschrieb.
„Sehr schön. Ich denke, ich kann dann mit dem Unterricht anfangen. Ich habe für heute ein Quiz vorbereitet, damit ich gleich sehen kann, wie weit ihr mit dem Unterricht seid. Ich habe zwar eine genaue Auflistung von Herrn Stängel, aber ich würde es doch vorziehen mir den Lernstand der Klasse mit eigenen Augen zu überprüfen.“ Sie lächelte und die meisten der Schüler lächelten zurück. Das war ein gutes Zeichen, so konnte der Biologieunterricht halbwegs reibungslos ablaufen, da die Klasse sie mochte.
Jetzt wurden Teams gebildet, je vier Leute in einem Team. Diese sollten sich einigen, dass einer von ihnen Botanik, ein anderer Anatomie, wieder ein anderer Zoologie und der letzte Zellbiologie nahm.
Marie übernahm die Zellbiologie, da damit die meisten Fachbegriffe verbunden waren und die anderen sich davor drückten.
Alle, die Zellbiologie hatten, sollten nach vorne kommen und sich in einer Reihe aufstellen. Dann stellte Frau Klausel die Frage und wer als erstes in die Hände klatschte, durfte sie beantworten. War die Antwort richtig, bekam das Team einen Punkt, war sie falsch, bekam es einen Minuspunkt. So sollte man nur klatschen, wenn man sich sicher war die Antwort zu wissen.
„Wie nennt man die Zelle, die aus einem Spermium und einer Eizelle besteht und sich noch nicht in die Gebärmutterschleimhaut eingenistet hat?“, fragte Frau Klausel und kaum dass sie ausgesprochen hatte, klatschte Marie in die Hände. Das wusste sie, das hatten sie schon in der fünften Klasse gemacht. Frau Klausel guckte überrascht und nahm sie dran, sie kannte sogar ihren Namen.
„Die Zelle nennt man Zygote. Sobald sie sich in die Gebärmutterschleimhaut eingenistet hat ist es ein Embryo, nach drei Monaten dann ein Fetus.“ Sie hatte etwas mehr geantwortet als nötig, doch es war richtig.
„Ja, das stimmt. Ich bin erfreut, dass es hier mindestens einen zu geben scheint, der in der fünften und sechsten Klasse aufgepasst hat.“ Der Rest der Schüler stöhnte auf und Marie wurde rot.
Doch Frau Klausel lächelte ihr ermunternd zu und die Reaktion der Klasse war schnell vergessen.
Das Quiz fand auch bei den anderen Schülern Begeisterung, nach einer Stunde der Fragen waren Maries Team und ein anderes gleichauf an der Spitze.
„So, dass wird jetzt die letzte Frage, es wird das Duell zwischen den beiden besten Teams. Ich stelle eine Frage und ihr sagt mir die richtige Antwort mit Begründung. Jetzt kann das ganze Team mitmachen und es kommen Fragen aus allen Bereichen. Insgesamt stelle ich drei Fragen. Klar, wer die meisten Fragen richtig hat, hat gewonnen. Bereit?“ Die beiden Teams nickten. Marie fühlte sich gut, sie konnte richtig zeigen, was sie konnte.
„Okay. Wie heißt der Vorgang, bei dem die Erbinformation aufgeteilt wird und warum ist er nötig?“ Marie warf den anderen einen fragenden Blick zu und als diese lächelten und nickten, klatschte sie in die Hände.
Frau Klausel schien nicht überrascht.
„Der Vorgang heißt Meiose und er ist nötig, da die Zygote sonst die doppelte DNA hätte. Wenn man mehrere Generationen betrachtet, würde er immer größer werden, bis jede Zelle mehrere Gramm DNA hätte. Ich denke es ist klar, dass das sehr schlecht wäre.“
Frau Klausel nickte.
„Ja, das stimmt. Der erste Punkt geht an das Team von Marie. So. Die zweite Frage ist etwas schwieriger, ich hoffe, ihr könnt die Zusammenhänge erkennen. Welche Farbe hat das Blut der Insekten und warum.“
Marie dachte nach. Das Blut der Insekten war farblos. Es war nicht rot. Verantwortlich für die rote Farbe war der Farbstoff Hämoglobin, der die Aufgabe hatte Sauerstoff an sich zu binden. Insekten transportierten Sauerstoff jedoch nicht über die Blutbahnen, sondern über die Tracheen. Der Gasaustausch findet erst direkt an den Organen statt. Dann brauchten sie den Farbstoff natürlich nicht.
Sie klatschte in die Hände.
„Na, wieder Marie. Wir warten noch etwas, wenn dann kein anderer darauf kommt, kannst du die Frage beantworten.“
Doch in der folgenden Minute äußerte sich keiner dazu, so durfte Marie die Frage beantworten.
„Das Blut der Insekten ist farblos. Den roten Farbstoff Hämoglobin brauchen sie nicht, da Hämoglobin im tierischen Blut die Aufgabe übernimmt den Sauerstoff von der Lunge zu den Organen zu transportieren. Die Insekten haben ein anderes System zu atmen, durch die Tracheen gelangt die Luft zu allen Organen, dort findet der Gasaustausch statt, die CO2-reiche Luft wird ausgeatmet. So muss der Sauerstoff nicht transportiert werden und der rote Farbstoff Hämoglobin befindet sich bei den Insekten nicht im Blut.“
Frau Klausel nickte, lächelte und sofort begannen mehrere Schüler sich lautstark über Marie, das Quiz und die Fragen zu beschweren.
„Da muss man ja um drei Ecken denken.“, beschwerte sich ein Mädchen mit blonden Haaren. Doch durch den Lärm, der entstanden war, meinte Marie ein Bellen zu hören. Erschrocken hörte sie genauer hin, und da war es eindeutig, draußen war Eleonora.
Hastig lief sie zu Frau Klausel. Eleonora war so verängstigt, so aufgewühlt, dass sie es mit der Angst zu tun bekam.
„Entschuldigen sie, könnte ich vielleicht auf Toilette gehen?“, fragte sie sie.
„Ja, natürlich. Wir haben jetzt sowieso Pause. Machen wir ein paar Minuten Pause.“, lächelte sie und machte es der Klasse bekannt. Doch Marie hörte es nicht. Sie öffnete die Tür und stürzte auf den Korridor.
Eleonora wartete direkt vor der Tür. Sie stand nicht still, wie sie es sonst zu tun pflegte, sondern lief vor der Tür auf und ab. Marie beugte sich angsterfüllt zu Eleonora und fragte sie:
„Eleonora, was hast du?“ Diese blickte Marie tief in die Augen und Marie ergriff eine bodenlose Angst.
„Ein bewaffneter Junge ist in der Schule? Mit einer Pistole? Alle anderen wissen Bescheid nur wir nicht? Mein Gott!“ Wieder aus einem Bauchgefühl aus, hatte sie Eleonora die Fragen gestellt, die Eleonora haben wollte. Sie nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf.
„Er kommt hierher?“, fragte sie in Panik und Eleonora bestätigte auch dies. Sie lief wieder weg.
Marie fragte sich, was sie tun konnte. Sollte sie Frau Klausel warnen? Wenn dieser Junge wirklich Amok lief, musste sie es Frau Klausel mitteilen, vielleicht konnte sie sie schützen. Doch warum hatte keiner sie gewarnt?
Die Antwort war klar. Erstens hatte keiner an den Bioraum gedacht, zweitens lag er im hintersten Flügel in einer Sackgasse und drittens war das Lautsprechersystem hier ausgefallen.
Sie meinte Schritte auf dem Gang hierher zu hören und stürzte wieder in den Raum. Keiner bemerkte sie und ihre Panik, es war Pause und keiner achtete auf sie. Sie musste Frau Klausel warnen, musste ihr sagen was sie wusste, egal wie merkwürdig es ihr vorkommen würde.
Frau Klausel saß an ihrem Pult und beobachtete die Schüler aufmerksam, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht.
„Frau Klausel?“, fragte Marie zaghaft. Sie fragte sich, wie es wohl bei ihr ankommen würde, wenn sie behauptete zu wissen, dass ein bewaffneter Junge auf den Biologieraum zukam.
„Ja?“, fragte diese.
„Ich weiß, es muss ihnen merkwürdig vorkommen, aber ich habe Anlass zur Vermutung, dass ein bewaffneter Junge hier auf den Biologieraum zukommt und uns keiner warnen kann.“
Schlagartig verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie schaute alarmiert zur Tür.
„Bist du dir sicher? Woher weißt du das? Ach, vergiss es, das war eine dumme Frage.“, korrigierte sie sich selbst. Sie wusste selber, dass Marie, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre, nicht zu ihr gekommen wäre.
Sie lief zur Tür und verschloss sie, drehte den Schlüssel zweimal herum. Marie fühlte sich etwas besser, doch die Panik blieb.
„Warum schließen sie uns ein?“, fragte eine blonde Mitschülerin und die Aufmerksamkeit der Klasse wandte sich Frau Klausel zu.
„Das erkläre ich euch später. Wir machen jetzt mit dem Unterricht weiter.“ Marie bewunderte, dass Frau Klausel so ruhig blieb, obwohl sie unmittelbar in Gefahr waren. Sie stand ruhig vor der Klasse und wartete einige Sekunden, bevor sich die Unruhe gelegt hatte.
Vielleicht glaubte sie ihr gar nicht und hatte die Tür nur abgeschlossen, damit sie Ruhe gab. Doch diese deprimierende Einsicht wurde zerstört, als Frau Klausel sich abrupt zu den Fenstern wandte, einer plötzlichen Idee folgend, und die Fenster schloss.
„So, die dritte Frage lautet, soll ich sie überhaupt noch stellen, eigentlich ist ja schon klar, wer gewinnt?“
Doch scheinbar waren die Schüler jetzt wieder so gut drauf, dass sie das Quiz zu Ende spielen wollten. Bejahendes Gemurmel setzte ein, und Frau Klausel dachte kurz nach.
„Okay. Es gibt Pflanzen, die haben ihre Blätter so umgewandelt, dass ihr Durchschnitt Hufeisenförmig ist. Sie haben also ihre obere Epidermis vergrößert, sie bildet jetzt den größten Teil der Oberfläche, der dem Klima ausgesetzt ist. Wo wird diese Pflanze wohl wachsen, warum hat sie sich so entwickelt und was bezweckt sie durch diese Entwicklung?“
Sie warf Marie einen Blick zu, indem sie ihr bedeutete, dass sie sich dieses Mal zurückhalten sollte, war jedoch nicht tadelnd, sondern belustigt. Fast hätte sie sich davon täuschen lassen, doch sie konnte gerade noch erkennen, wie auch Frau Klausel nervös war.
Nach einiger Zeit meldete sich ein Junge aus dem anderen Team.
„Ich glaube, das hat mit den Spaltöffnungen auf der Unterseite des Blattes zu tun.“, stotterte er. Als Frau Klausel ihm aufmunternd zulächelte, sprach er weiter.
„Die Spaltöffnungen liegen an der unteren Epidermis und sind durch diese Form geschützt. Vielleicht ist in der Luft zu viel CO2 enthalten, denn dann kann durch diese Form nicht so viel in die Pflanze kommen.“ Er brach ab und schaute erwartungsvoll zu Frau Klausel.
Marie lächelte leicht. Es war lustig, was der Junge behauptete. Das man auf solche Ideen kommen konnte… Doch sie verstand die logischen Schritte des Jungen, er hieß Alexander. Die Spaltöffnungen sollten wirklich geschützt sein, und da durch die Spaltöffnungen der Gasaustausch stattfindet, unter anderem zwischen Co2 und O2, schlussfolgerte er logisch, dass es damit etwas zu tun haben musste. Doch er hatte den Gasaustausch nicht zur Gänze betrachtet.
„Ja, das war schon mal sehr gut. Der erste Teil war auch richtig, doch mit der Begründung, warum die Spaltöffnungen an der Unterseite liegen, bin ich noch nicht einverstanden. Wer kann helfen?“
Sie sah sich in der Klasse um und sah, dass sich ein paar Schüler meldeten.
„Ah, ich sehe, dieses Thema liegt euch besser. Ja, du dahinten, im grünen T-Shirt. Lena, richtig?“
Lena nickte und antwortete dann:
„Durch die Spaltöffnungen wird auch die Wasseraufnahme reguliert. Kondensiertes Wasser bildet eine Transpirationsglocke, die bei Wind weggeblasen wird und dadurch wird Wasser durch die Wurzel aufgenommen wird. Wenn die Spaltöffnungen geschützt liegen, liegt auch die Glocke geschützt und nicht so viel Wasser verbraucht. Die Pflanze hat sich also in einer trockenen oder windigen Gegend entwickelt, aufgrund des Wassermangels.“
Frau Klausel nickte und lächelte sie an. Sie schien immer zu lächeln, egal zu wem, egal wie sie sich fühlte, sie verlor ihr Lächeln nicht. Marie fand das toll.
„Ja, das ist richtig. Wirklich sehr gut, Lena.“
Lena lächelte zurück. Scheinbar hatte das Lächeln nicht nur auf Marie eine so atemberaubende Wirkung.
Da fiel ihr wieder ein, warum sie so angespannt war und sie lauschte angestrengt und jetzt wieder in Panik. Hatte Eleonora sich geirrt, was den bewaffneten Jungen anging?
Doch, waren das nicht Schritte im Korridor? Konnte sie nicht auch ein gedämpftes Bellen von Eleonora hören, und dann einen Schuss?
Sie sprang auf. Und an den Reaktionen ihrer Mitschüler konnte sie erkennen, dass diese Geräusche nicht aus ihrer Fantasie entstanden waren.
Hatte der Junge auf Eleonora geschossen?
Die Klasse wich instinktiv von der Tür weg, doch Marie trat noch einen Schritt weiter nach vorn. Konnte sie Eleonora helfen? Schließlich hatte sie sie gewarnt!
Auch Frau Klausel trat auf die verschlossene Tür zu. Jäh stieg ein Bild in Marie Kopf auf: Die Tür wurde aufgetreten und der Junge, sein Gesicht war von einer schwarzen Kapuze verdeckt, drückte auf den Abzieher der Pistole, wobei er auf Frau Klausel zielte. Heldenhaft warf Marie sich vor sie und rettete ihr damit das Leben. Frau Klausel stand in ihrer Schuld.
Das Bild, oder eher, den Traum, schob Marie von sich. Oft träumte sie, tagsüber, von Situationen, die eintreten könnten oder auch nicht, Situationen, wo sie Freunde gewann und positiv im Mittelpunkt stand. Es war unrealistisch. Besonders jetzt, da sie in ihren Träumen nie den Schmerz, den sie dabei erfahren würde, berücksichtigte.
Und doch trat sie bei ihrem nächsten Schritt etwas näher an Frau Klausel heran.
Der Junge, der draußen stand, wenn es ein Junge war, drückte die Klinke herunter und die Klasse hielt den Atem an. Doch die Tür war ja abgeschlossen. Draußen war ein Fluch zu hören, dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie ächzte und Marie befürchtete, dass sie aus den Angeln brechen würde.
Doch sie hielt. Auch die weiteren Stöße des Jungen hielt sie aus. Die Klasse zitterte und mehrere mussten sich an Tischen festhalten, um das Gleichgewicht zu halten oder nicht in Ohnmacht zu fallen.
Ein Amoklauf! Eleonora hatte Recht gehabt. Marie hatte Angst. Jedoch nicht um sich. Sie hatte Angst, dass jemand verletzt oder gar getötet werden würde, draußen, sie hatte Angst, dass Eleonora von dem Jungen angeschossen worden war, obwohl sie sie gewarnt hatte und sie hatte Angst davor, dass er hereinkam und Frau Klausel oder ihre Klassenkameraden angreifen konnte, denn er hatte eine Pistole.
Die benutzte er jetzt, er schoss auf die Tür in der Hoffnung das Schloss oder gar die ganze Tür zu zerstören. Doch die Tür war eine alte Schultür. Sie war so dick, dass sie sogar den Schüssen standhielt. Zwar hörten sie, wie die Kugeln gegen die Tür prallten, sie schafften es dagegen nicht ganz durchzukommen. Der Junge fluchte und jetzt hörten sie auch andere Geräusche. Mehrere Männer kamen den Gang entlang und Marie hoffte mit allen Zellen ihres Körpers, dass es die Polizei war, die verhinderte, dass der Junge irgendeinen Menschen verletzte.
Spannungsvolle Sekunden vergingen, die Zeit verstrich langsam, so langsam, dass Marie so nervös wurde, dass sie kurz davor stand durchzudrehen.
Ihr kam es so vor, als ob die Schritte draußen Stunden dauerten, wie konnte jemand so langsam gehen?
Dann, endlich, schienen sie angekommen zu sein. Eine harte Stimme ertönte im Flur.
„Lassen sie die Waffe fallen!“ Also war es wirklich die Polizei! Was für ein Glück!
Da fiel ein Schuss. Und noch zwei weitere.
Marie stockte der Atem. Schwindlig wurde ihr auch. Jemand wurde verletzt. Sie wollte zur Tür stürzen, doch Frau Klausel packte sie am Arm und hielt sie zurück. Dann hielt sie plötzlich alarmiert inne und blickte hinter sich, auf den Rest der Klasse.
„Marie“, keuchte sie, „wo ist Leonie?“ Marie war erschrocken über die emotionale Reaktion Frau Klausels, sie konnte sich nicht erklären, warum Frau Klausel jetzt ausgerechnet auf Leonie kommen sollte.
„Sie ist krank.“, antwortete sie, noch immer saß ihr der Schreck in den Knochen. Frau Klausel atmete auf. Noch ein Schuss ertönte und Marie hörte ein ersticktes Bellen im Gang, das mit einem Gurgeln erstarb. Das war zu viel für Marie. Sie rannte zur Tür, schlüpfte unter Frau Klausels Arm hindurch und wollte die Tür öffnen. Das war Eleonora gewesen, da war sie sich sicher. Sie musste nach draußen um zu erfahren, was mit ihr passiert war, sie konnte nicht warten, wenn Eleonora draußen verletzt war, vielleicht würde sie sterben.
Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie hatte doch nur sie! Sie drückte die Klinke, doch die Tür war abgeschlossen. Sie ließ sich an der Tür entlang zu Boden sinken, die Aussichtslosigkeit der Situation hatte ihre Energie in Sekunden in das Gegenteil umgewandelt und das traf sie hart. Ihr wurde schwarz vor den Augen und sie verlor ihr Bewusstsein.
Frau Klausel lief mit einem unvorstellbar verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht zu ihr und bettete ihren Kopf in ihren Schoss.

Kapitel 9

Als Marie wieder erwachte, lag sie noch immer in dem Klassenzimmer. Die Tür war wieder offen und sie bekam das Chaos mit, das jetzt draußen herrschte.
Mit einem Ruck wollte sie aufstehen, doch Frau Klausel hielt sie mit sanfter Gewalt fest.
„Bleib noch eine Weile ruhig liegen, meine Liebe. Du wirst bald wieder aufstehen können, warte nur etwas.“
Doch Marie wollte nicht warten. Sie musste nach draußen zu Eleonora und wissen, was mit ihr passiert war. Wurde sie angeschossen, vielleicht sogar getötet? Sie wehrte sich gegen Frau Klausels Griff, doch vergeblich, Frau Klausel ließ sie nicht los.
„Was ist passiert? Wer ist verletzt?“, fragte sie stattdessen, die Panik war aus ihrer Stimme leicht herauszuhören.
„Bleib ruhig. Du darfst dich jetzt nicht zu sehr aufregen. Alles ist gut.“ Ein bitterer Unterton mischte sich jetzt in ihre Stimme. Wahrscheinlich regte es auch sie auf, dass sie angegriffen worden sind. Sie war an ihrem ersten Tag in ihrer Klasse toll begrüßt worden.
Doch was war mit Eleonora? Sie musste unbedingt wissen, was passiert war. Sie konnte sich nicht beruhigen. Nicht bevor sie wusste, was passiert war.
„Was ist mit ihr passiert?“, fragte sie. Frau Klausel, die eigentlich nach dem sie hätte fragen müssen, blieb stumm.
„Was ist mit ihr?“, fragte sie noch einmal, sie legte ihre ganze Kraft in ihre Stimme. Doch sie erhielt keine Antwort. Sie blickte in Frau Klausels Gesicht, die netten Lachfältchen waren nicht mehr sichtbar, ihr Gesicht war wie versteinert. Ihre Augen, braun, sahen in weite Ferne, doch es war nichts Schönes, was sie sahen.
„Frau Klausel?“, fragte Marie, jetzt leise und mitfühlend.
Frau Klausel kehrte in die Gegenwart zurück, sie blickte Marie an, dann seufzte sie.
„Es tut mir Leid, Marie. Sie ist bei einem Schuss in die Schusslinie geraten. Sie hat es nicht überlebt.“ Marie setzte sich kerzengerade auf. Tränen stiegen in ihre Augen.
Frau Klausel nahm Marie in den Arm, doch diese sträubte sich. Sie wollte jetzt allein sein. Allein mit sich und ihrem Schmerz.
„Marie. Wir haben alle einen Verlust erlitten. Mach es jetzt nicht noch schlimmer.“
Doch Marie hörte nicht hin, sonst hätte sie sich vielleicht über die Bedeutung dieser Worte Gedanken gemacht. Sie stand auf, schwankte leicht, fing sich jedoch direkt wieder. Sie war überwältigt. Eleonora war ihre einzige Freundin gewesen. Die einzige, die sie verstanden hatte. Die einzige, die Marie wirklich gemocht hatte. Jetzt war sie tot. Das konnte nicht wahr sein.
Sie trat durch die Tür und in den Korridor. Den alten, schrecklichen Korridor, der ihre Falle gewesen war.
Sie achtete nicht auf die Menschen, die um sie herum standen, sondern suchte auf dem Boden nach Eleonora. Sie fand sie, Eleonora lag in einer Ecke, das Blut lief aus einer großen Wunde an ihrem Bauch. Wie betäubt kniete Marie sich neben sie und legte ihr ihre Hand auf das Fell.
Sie spürte Eleonoras Gedanken. Sie wusste, dass es genau das gewesen war, was sie von Anfang an bei ihr gespürt hatte.
Marie. Träume. Nur mit Fantasie erreichst du dein Ziel. Suche deine eigene Magie.
Doch bevor Marie noch versprechen konnte, dass sie es versuchen würde, was Eleonora wünschte, sprach Eleonora schon weiter.
Trauere nicht um mich, Marie .wende dich an die Personen, die du besonders schätzt.
Eleonora starb. Sie starb in dem Moment, als sie ihre letzten Gedanken übermittelt hatte.
Marie stand auf, betäubt von ihrem Schmerz. Sie konnte nicht mehr weinen, es wäre besser gewesen, hätte sie es gekonnt. Sie musste jetzt allein sein. Schweigend ging sie zurück zum Waisenhaus. Die Nonnen würden nicht zu viele Fragen stellen und die Schule hatte bestimmt kein Recht sie dazubehalten, nach alledem, was passiert war. Wahrscheinlich würde ihre Abwesenheit noch nicht einmal auffallen.
Was hatte Eleonora ihr gesagt? Sie sollte träumen, mit Fantasie ihre Ziele erreichen, ihre Magie suchen? Magie? Marie liebte alles fantastische, Märchen, Legenden, Fantasiegeschichten.
Doch sie sollte Magie haben? Das wäre toll, Marie glaubte auch, dass es eine Form von Magie in der Welt gab, doch warum sollte es ausgerechnet sie treffen? Sie war nur der Beobachter, derjenige, der Bücher las und sich vollkommen in die Person hineinversetzte und heulen konnte, wenn der Person etwas Schreckliches passiert und wenn das Buch endet.
Nie war sie unmittelbar beteiligt.
Sie sollte sich an Personen wenden, die sie besonders schätzte. Eleonora. Sie war ihre Vertrauensperson gewesen, ihre Freundin und auch ein Mutterersatz.
Wer sonst würde sich um sie kümmern, sie mögen? Keiner.
Sie war allein.
Doch als sie ins Waisenhaus trat und eine Gestalt am Treppenhaus ausmachte, erinnerte sie sich schlagartig an die eine Person, die sich noch als einzige um sie gekümmert hatte. Leonie.

Kapitel 10

Marie zögerte etwas. Sollte sie Leonie nur von Eleonora erzählen und die Sache mit der Magie weglassen, oder sollte sie Leonie um Rat fragen?
Das würde sie entscheiden, wenn sie Leonies Reaktion sehen würde. Wenn sie dann spontan den Bedarf hatte, ihre Gefühle mit ihr zu teilen, würde sie das tun.
Sie klopfte vorsichtig an Leonies Tür. Keiner antwortete. Komisch, sie hatte Leonie doch eben noch auf dem Flur gesehen?
Vorsichtig öffnete sie die Tür. Leonie lag auf dem Bett und hatte die Decke über ihren Kopf gezogen.
„Leonie?“, fragte sie leise.
„Geh weg!“, kam eine Stimme unter der Decke hervor.
„Leonie, ich bin es doch!“, machte Marie noch einen Anlauf. Doch Leonie änderte ihre Meinung nicht.
„Ist mir egal. Geh einfach weg.“, beharrte sie.
Das war ganz und gar untypisch für Leonie. Nie hatte sie sie so behandelt. Sie wollte schon verletzt aus dem Zimmer treten, doch dann fing sie sich wieder und dachte an die vielen Male, bei denen Leonie ihr geholfen hatte, als es ihr schlecht ging. Sie machte sich Sorgen um Leonie.
„Leonie. Was ist denn los?“, fragte sie noch einmal.
„Hörst du schwer? Du sollst gehen!“, schrie Leonie jetzt. Marie hatte sie noch nie schreien gehört. Leonie war eigentlich ruhig. Behielt immer den Überblick. Hatte viel Mitgefühl und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.
Marie setzte sich zu Leonie auf die Bettkante. Sie legte ihr die Hand auf die Stelle, an der sie ihren Rücken vermutete.
Leonie warf sich herum und schluchzte.
„Leonie, was ist denn los? Sprich doch mit mir.“ Da auf ein Mal zog Leonie ihre Decke mit einem Ruck von ihrem Kopf. Ihre Haare waren zerzaust und sie war sehr blass.
„Es ist wegen dir!“, sagte sie nur, laut, als ob sie Marie dafür schuldig erklären würde.
„Aber, was, was habe ich denn gemacht?“, fragte Marie unglücklich. Sie hatte Leonie helfen wollen, nicht sie erneut quälen.
„Hör auf zu heulen!“, keifte Leonie. „Kannst du nicht einmal fröhliche Gefühle haben?“ Marie war entsetzt. Leonie hatte sie nie dafür verurteilt, dass es ihr schlecht ging. Schon gar nicht ohne den Grund zu kennen.
Sie stürzte, ohne einen weiteren Blick auf Leonie aus dem Zimmer.
Eleonora war tot, Leonie war durchgedreht und sie war alleine, ganz allein.
Was sollte sie jetzt tun?
Träumen, kamen ihr die Gedanken von Eleonora wieder in den Sinn. Ich soll träumen um meine Magie zu finden. Meine Magie.
Vielleicht kann ich dadurch Leonie helfen.
Aber wie sollte sie träumen? Hatte Eleonora es wörtlich gemeint, sollte sie sich schlafen legen und auf Träume warten? Sie träumte oft, und sie wusste ganz genau, dass sie damit die Ereignisse des Tages verarbeitete. Konnte es funktionieren?
Na, einen Versuch konnte nicht schaden. Sie legte sich auf ihr Bett, doch da es mitten am Tag war, konnte sie nicht schlafen.
Vielleicht hat sie es auch nicht wörtlich gemeint. Nach dem Träumen sprach sie von Fantasie.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm eine Zeitung zur Hand, Eleonora hatte sie ihr eines Morgens mitgebracht, vielleicht hatte sie darin eine Nachricht hinterlassen. Konnte ja sein, sie hatte schließlich oft genug bewiesen, dass sie kein normaler Hund war.
Als sie die Zeitung auffaltete, kam ihr ein kleiner, schmutziger Zettle entgegen.
Cholo si sogna puo volare.
Eleonora Medici
Das war italienisch!
Was bedeutete es? Dass es von Eleonora kam, war klar. Doch warum hatte sie einen Nachnamen? Medici? Das klang so italienisch. Sie brauchte jemanden, der ihr das übersetzt. Doch wer konnte denn italienisch?
Elvira. Sie kam aus Italien, wenn man den Gerüchten aus dem Haus Glauben schenken konnte. Sie konnte sie dann ja fragen, wenn Elvira von der Schule zurückgekehrt war. Doch das konnte noch dauern, da sie ja auf dieser Luxusschule war, für besonders Begabte.
Rastlos ging sie im Zimmer umher. Was konnte sie tun? Der erste Schock war überwunden, doch bald würde die nächste Welle kommen, das kannte sie.
Doch jetzt musste sie sich erst einmal auf Eleonoras Botschaften konzentrieren. Auf Eleonora Medicis Botschaften.
Vielleicht konnte Elvira ihr auch helfen, etwas über die Familie Medici herauszufinden. Sie hatte den Computer ja im Griff. Sie fürchtete sich ein wenig vor dem Gespräch, sie sprach kaum mit den Leuten, nur vor Leonie hatte sie keine Angst.
Menschen sind so grausam. Sie zerstören die Natur, das Leben, Pflanzen und Tiere, sie züchten Tiere um sie zu verspeisen, sie mästen sie, und stellen sie wie berühmte Gebäude in Zoos aus. Und, als ob das nicht genug wäre, sie machen sich untereinander das Leben so schwer wie möglich. Sie konnte sich nicht durchsetzten, aber sie wollte allen helfen, die sie erreichen konnte. Das waren dann eben Pflanzen und Tiere. Sie liebte sie, da sie so nett waren, sie waren nicht bösartig wie die Menschen, sondern griffen Leben nur an, wenn sie irgendjemanden verteidigen wollen. Oft handelte es sich dabei um ihre Familie.
Das machte Marie immer besonders traurig. Sie war dabei gewesen, als ein Amselmännchen das Nest mit dem brütenden Weibchen und einem schon geschlüpften Jungen verteidigte.
Sie hatte geweint, da sie so gerne auch Eltern hätte, die sich um sie kümmern, die sie verstehen würde und sie lieben und gegen andere Leute verteidigen würden. Sie hatte niemanden, der sie vor der gemeinen Welt schützte, der sie auf das vorbereitete, was kommen würde.
Wenn sie den Schulabschluss haben würde, war sie auf sich allein gestellt, sie hatte niemanden, den sie fragen konnte, keiner war mehr da. Sie war allein.
Nicht überall war ein liebes Mädchen wie Leonie, das sich wenigstens ein bisschen um sie kümmerte.
Leonie.
Was sie wohl hatte? War es wirklich wegen ihr? Marie klangen die Worte noch in ihrem Kopf.
Es ist wegen dir! Hör auf zu heulen. Kannst du nicht mal fröhliche Gefühle haben?
Was hatte sie ihr getan? Sie verletzt? Beim Frühstück war sie doch noch normal gewesen. Nein, ganz normal nicht, sie war schon da abweisend gewesen. Sie wollte nicht mit ihr Frühstücken. Da hatte sie sich einmal getraut auf sie zuzugehen, da wurde sie schon wieder abgestoßen.
Eine Träne lief über Maries Wange. Die ganze Situation überforderte sie. Auf ein Mal schien alles auf sie einzustürzen. Ein Vogel hoch über ihr zwitscherte. Es war ein Rotkehlchen.
Sie war nicht allein. Die gesamte Natur stand hinter ihr, denn sie stellten sich nicht gegen Menschen, die ihnen nichts getan hatten. Sie war immer für sie da, auch wenn es ihr schlecht ging.
Sie blickte auf das Moos unter ihren Händen und ihre Augen schienen schärfer zu werden, noch einmal wanderte sie in die Welt im Moos, ihre Traumwelt.

Kapitel 11

Was soll ich tun?
An allem ist nur diese doofe Elvira Schuld. Wäre sie nicht so übergeschnappt, wäre das alles nicht passiert.
Oh wie ich sie hasse. Wie ich sie alle hasse, sie sollen mich alle in Ruhe lassen. Besonders diese kleine dumme unglückliche Marie.
Nur weil sie keinen hat, bei dem sie sich ausheulen kann, soll sie nicht zu mir kommen. Wer bin ich denn? Eine Kummerkastentante?
Ich will nur allein sein. Ihre ganzen blöden Gefühle will ich gar nicht spüren. Was soll ich denn damit?
Sie gehen mir näher als meine eigenen. Wie kann ich das denn beenden? Ich muss mich irgendwie wieder verschließen. Wenn das nur ginge. Sonst konnte sie nie wieder unter Menschen gehen. Nie.
Die ganzen Gefühle die mir entgegenkommen würden, wenn ich eine Menschenmenge treffen würde. Da wird mir ganz anders.
Mein Gott! Die sollen aufhören, da im Zimmer unter mir, soll er seine Freundin doch wo anders hinbringen, dann kann er mit ihr machen, was er will.
Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich alle diese anderen Gefühle im mir habe, wie kann ich sie aufhalten?
Hilfe!

Marie fror. Sie schaute auf die Uhr und beschloss dann, dass es Zeit wäre, in das Waisenhaus zurückzukehren. Ohne Probleme fand sie ihren Weg aus dem Wald heraus, obwohl sie doch so weit von dem Pfad abgewichen war, so weit in das Innere des Waldes vorgedrungen war. Der Wald selber zeigte ihr, wo sie raus musste.
Sie achtete sorgfältig darauf, keine Spuren zu hinterlassen, keine Zweige und Blätter zu knicken und den Wald nicht zu beschädigen. Das war ein etwas schwieriges Unterfangen, doch Marie gelang es recht gut.
Als sie von einem kleinen Weg wieder auf den Platz vor dem Waisenhaus trat, sah sie das hohe, alte Gebäude drohend über ihr.
Eigentlich konnte sie Elvira ja auch morgen fragen. Dann hatte sie sich wieder etwas beruhigt und hatte vielleicht auch eine saubere Hose an. Wäre ja ein Vorteil. So ging sie in ihr Zimmer und zog ihre dreckige Hose aus, um sie in dem kleinen Waschbecken im Zimmer notdürftig zu reinigen.

Warum lernte sie eigentlich?
Kleine Zweifel züngelten in Elvira hoch und leckten an ihrem kalten Ego, dass sie jetzt hatte.
Warum lernte sie? Wofür sollte sie lernen, um dann noch mehr zu lernen? Das hatte keinen Sinn. Sie brauchte schon ein Ziel. Ein richtiges.
Doch sie schob den Gedanken beiseite. Das war Unsinn.
Sie. Musste. Weiter. Lernen.

Das hatte doch keinen Sinn, in ihrem Zimmer zu bleiben und sich zu verstecken. Sie musste einfach lernen damit umzugehen. Sie durfte die Leute nicht so anschnauzen wie sie Marie angemotzt hatte. Sie konnten nichts dafür. Marie brauchte sie. Sie war nicht umsonst so traurig. Es war ein Geschenk, dass sie die Gefühle spüren konnte, damit konnte sie vielen Leuten helfen.
Es brachte nichts, sich zu verstecken. Sie musste jetzt handeln. Endlich.

Als Marie mit einem Stück Seife versuchte die Moosflecken von ihrer Hose zu waschen und ihre Hände in dem warmen Wasser wieder wärmer wurden, im Wald war es doch etwas kalt gewesen, im Regen, stand sie sich selbst ein, dass sie nur Angst hatte mit Elvira zu sprechen.
Sie würde jetzt zu ihr gehen. Morgen würde sie glücklich darüber sein. Sie würde es für Eleonora tun.

Sie konnte nicht weiter lernen.
Das hatte ja keinen Sinn. Doch was sollte sie stattdessen tun? Sie warf ihr Buch von sich und schaute sich in ihrem Zimmer um. Sie hatte wohl ihre Poster von Italien abgehängt.
Sie blickte aus dem Fenster. Es regnete. Sie hasste Regen.

Marie holte noch einmal tief Luft, dann klopfte sie an Elviras Zimmertür. Als sie ein „Herein“ hörte, öffnete sie zaghaft die Tür.
„Elvira?“ fragte sie, und als Elvira sie auffordernd anschaute, sprach sie stockend weiter.
„Ich habe eine Frage. Ich habe ein Zitat, auf Italienisch und ich würde gerne wissen, was es bedeutet.“ Sie schob den zerknitterten Zettel zu Elvira auf den Tisch. Elvira betrachtete ihn.
Erst wurde ihre Aufmerksamkeit von dem italienischen Satz angezogen, solo chi sogna puo volare, nur wer träumt kann fliegen, doch dann sah sie den Namen, der darunter gesetzt war und ihr stockte der Atem. Eleonora Medici.
Dieses Zitat hatte eine Medici verfasst. Marie hatte wohl auch einen Hinweis auf die Familie Medici erhalten. Das konnte nicht sein.
Deshalb hatte sie Elvira gebeten, es für sie zu übersetzten.
„Was weißt du von Eleonora Medici?“, fragte Elvira schnell. Doch damit hatte sie scheinbar Marie eingeschüchtert, denn diese blickte sie nur mit großen Augen an, in der sie meinte, die Angst zu sehen. Sie musste wohl etwas langsamer sein.
„Also dein Zitat heißt: Nur wer träumt kann fliegen. Sagt dir das etwas Besonderes?“
Marie antwortete noch immer nicht. In ihren großen Augen spiegelte sich noch immer Panik und Elvira seufzte genervt. Langsam und zitternd drehte sich Marie um und ging aus dem Zimmer, noch einen verängstigten Blick auf Elvira werfend.
Elvira widersprach, doch Marie hörte sich scheinbar nicht mehr.
Sie musste wissen, was Marie über die Medicis wusste, das konnte der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis um ihre Brosche, ihrem Buch und auch ihrer Vergangenheit und Abstammung sein.
Sie musste vorsichtiger sein, sie durfte sie nicht so verängstigen. Was konnte sie ihr denn Gutes tun? Sie war doch die Naturfanatikerin. Eine Blume? Draußen auf dem Weg zur Bushaltestelle wuchsen doch schöne weiße Tulpen, vielleicht konnte sie davon eine pflücken.
Sie machte sich auf den Weg und sie fand auch schon nach kurzer Zeit die Stelle, an der die Tulpen waren.
Als sie wiederkam machte sie noch einen Abstecher in die Küche zu Rosie, sie wusste, dass Rosie für ein anderes Waisenhaus, dass sie am Wochenende besuchen wollte, Schokomuffins gebacken hatte, vielleicht konnte sie Marie einen davon mitbringen.
Auch dieses Mal lag sie richtig, es war ja auch eigentlich keine Vermutung gewesen sondern eine Aussage. Elvira war sich immer sicher, wenn sie etwas sagte, oder sogar nur dachte.
Sie klopfte an Maries Tür. Jetzt war ihr ganzes Feingefühl gefordert. Na, sie hatte eigentlich noch nie Schwierigkeiten damit, höflich zu sein.
„Marie? Erschrick nicht, ich bin es. Sieh mal, ich habe dir Kuchen mitgebracht. Und eine Blume. Du sahst eben ganz schön verängstigt aus. Ist etwas los?“, fragte sie mit einer sanften Stimme und einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Es war ungewohnt für sie zu lächeln, doch Marie wirkte so klein und hilflos, dass sie keine Probleme hatte. Sie setzte sich neben Marie aufs Bett und reichte ihr den Kuchen und die Blume stellte sie in ein Glas mit Wasser an das Fenster.
„Was ist denn los, Marie? Du siehst ganz durcheinander aus.“ Marie blickte sie an und eine Träne lief an ihrer Wange hinunter. Es war so ungewohnt für sie, dass jemand sich Sorgen um sie machte, dass die Ereignisse wieder auf sie einzustürzen begannen.
„Marie, ist ja schon gut.“ Vorsichtig nahm Elvira Marie in den Arm und drückte sie an sich. Sie bewunderte Marie, dass sie ihre Emotionen einfach so herauslassen konnte, dass sie, egal wem sie gegenüberstand reagieren konnte ohne jede Reaktion des Anderen analysieren zu müssen. Wenn sie das könnte, würde es ihr auch besser gehen.
Doch das konnte sie nicht. Vielleicht würde sie es lernen.
Als Maries Tränenstrom versiegt war, sagte sie etwas, leise und undeutlich, doch Elvira verstand es:
„Eleonora ist tot. Sie war meine Freundin, meine andere Freundin will mich nicht mehr sehen.“ Elvira wusste sofort, was Marie meinte. Eleonora Medici hatte den Zettel unterschrieben, sie war Maries Freundin gewesen, Leonie war die andere, sie war heute krank gewesen, doch Elvira konnte sich nicht vorstellen, dass sie Marie absichtlich nicht mehr sehen wollte, denn Leonie kümmerte sich fast wie eine Mutter um Marie. Marie musste unter Schock stehen, Rosie hatte ihr schon von dem versuchten Amoklauf in Maries Schule berichtet.
„Eleonora ist tot? Wieso? Woher kanntest du sie?“, fragte Elvira vorsichtig nach den Sachen, die sie wirklich interessierten.
„Eleonora war ein Hund. Sie war meine Freundin. Ich habe ihr immer Essen gebracht und ihr Fell gebürstet. Heute hat sie mich vor dem Amokläufer gewarnt, daraufhin haben wir die Tür verriegelt, doch sie wurde von ihm getroffen.“ Eleonora war ein Hund. Wie konnte ein Mitglied der Familie Medici ein Hund sein?
„Sie hat mir diesen Zettel hinterlassen und mir bevor sie endgültig… sie endgültig…“ Marie stockte und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
„Was hat sie denn getan, in ihren letzten Sekunden?“, half ihr Elvira weiter.
„Sie hat mir gesagt, ich solle nicht um sie trauern und ich solle träumen um meine Magie zu finden. Nur mit Fantasie würde ich an mein Ziel kommen. Und ich solle mich an die Personen wenden, die ich besonders schätze. Das wäre Leonie gewesen. Doch sie will mich nicht mehr sehen.“ Elvira tat so, als würde sie Marie glauben und streichelte ihre Schulter, doch sie war um Marie besorgt. Hunde konnten nicht sprechen. Und sie konnten sich auch nicht so etwas ausdenken. Hunde wurden nur von Instinkten gesteuert. Wenn Eleonora wirklich ein Hund war. Wenn es Eleonora überhaupt gab.
Aber der Name Medici konnte nicht aus Zufall aufgetaucht sein. In einer sehr verqueren Weise passte alles in ihr Puzzle hinein. Doch das konnte nicht sein. Das würde ja bedeuten…

Ist es hier toll im Internat. So viel Sport wird hier gemacht. Und ich bin im Laufen die Beste! Wow, ich bin so glücklich!
Na, da wollen wir doch mal sehen, bei wem ich den Biokurs habe…
Frau Klausel. Aha. Komischer Name. Ich hoffe sie ist nett. Ich muss ja leider eine Naturwissenschaft belegen, Physik und Chemie wären bei mir ja eine Katastrophe.
Na, ich muss mich mal beeilen, ich will nicht zu spät zu meiner ersten Stunde Bio kommen. Mal sehen wie Frau Klausel so ist…

Es klopfte. Elvira blickte Marie an, doch auch sie wusste nicht weiter.
Die Tür öffnete sich und Leonie trat herein. Sie war blass und sie presste krampfhaft ihre Lippen aufeinander. Auch sie hielt eine Blume in der Hand. Elvira erinnerte sie an jemanden, wie sie so krampfhaft die Lippen aufeinander presste, doch ihr wollte nicht einfallen an wen.
Leonie warf Elvira einen bösen Blick zu und sagte dann, mit einer Stimme, die so gar nicht zu ihr passen wollte:
„Was willst du denn hier Elvira?“ Diese erwiderte den bösen Blick gleichgültig und sagte mit Erhabenheit in der Stimme, die Leonie wohl als Arroganz deuten würde:
„Ich unterhalte mich mit Marie. Darf ich das nicht?“ Sie hätte gerne noch hinzugefügt, dass sie für Marie da war, als sie sie brauchte, doch dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen, da sie ja eigentlich nur gekommen war, um Marie die Informationen zu entlocken, die sie brauchte. Das hatte sie jetzt jedoch geändert. Sie mochte Marie, denn in ihrer Gegenwart fühlte sie sich nützlich, Marie hatte nichts gegen sie, hasste sie nicht nur aufgrund der Sachen, die sie von ihr gehört hatte.
„Marie.“, setzte Leonie wieder an, mit einem herausfordernden Blick in Elviras Richtung. „Ich wollte mich entschuldigen, dass ich heute Morgen so unfreundlich dir gegenüber war. Es ging mir nur nicht so gut, das hast du wahrscheinlich mitgekriegt, ich war krank.“ Marie nickte, doch sie fühlte sich sichtlich unwohl. Sie stand im Mittelpunkt, das spürte sie und die bösen Blicke, die sie in Elviras Richtung warf, fand sie unangebracht. Arme Elvira. Scheinbar ging es ihr wie ihr, sie hatte keine Freunde. Sie lächelte ihr entschuldigend zu, bevor Elvira aus dem Zimmer ging.
Sie hoffte, Elvira würde es ihr nicht nachtragen. Sie war gar nicht so doof, wie alle sagten. Doch Leonie dachte das scheinbar nicht.
Was will sie von Marie? Dumme Kuh, ich bin ihre Freundin. Man sieht ja, dass sie mich lieber mag.
„Weswegen warst du so niedergeschlagen, als du zu mir gekommen bist?“, fragte Leonie mitfühlend, doch sie entspannte sich nicht, als sie sich neben Marie setzte, wie zuvor Elvira.
Marie wand sich unter Leonies fragendem Blick, sie konnte Leonie jetzt nicht das Gleiche erzählen wie Elvira, nicht nachdem Leonie ihr noch vor ein paar Stunden gesagt hatte, dass sie schuld wäre und immer nur traurige Gedanken hatte. Aber was sollte sie auch sonst haben, sollte sie bei den Ereignissen noch immer fröhliche Gedanken haben?
Doch dann erinnerte sie sich an Eleonoras Worte, sie sollte sich an jemanden wenden, der ihr nahe stand. War das nicht Leonie?
Eigentlich schon, doch sie konnte es jetzt nicht, so erzählte sie nur von dem Amoklauf und von ihrer Hündin, die gestorben war, dass sie Medici hieß und ihr mehrere Botschaften hinterlassen hatte, verschwieg sie.
Marie war nervös. So kannte sie Leonie nicht. Sie war fahrig und presste ihre Lippen aufeinander, und war so angespannt, dass Marie jede Sekunde einen Angriff erwartete.
Endlich ging Leonie. Sie hatte wohl gemerkt, dass Marie nicht mit ihr reden wollte. Sofort hatte Marie ein schlechtes Gewissen.

Elvira saß im Schneidersitz auf ihrem Zimmerboden. Wenn es stimmte, was sie gerade zu glauben glaubte, war die Sache größer als sie angenommen hatte. Dann hatte sie nur die Spitze des Eisbergs gesehen. Es war unglaublich. Fast unmöglich.
Wer würde dann außer Marie noch in Frage kommen? Leonie, sie war auf jeden Fall etwas merkwürdig. Wer noch? Aus ihrer Schule keiner, dass stand fest. Oder? Vielleicht konnten sie es gut verbergen. Sie zeigte es ja schließlich auch niemandem.
Was gehörte denn noch dazu? Was war außergewöhnliches passiert, seit sie das Versprechen gelesen hatte? Sie war sicher, dass das der Anfang gewesen sein musste. Es konnte nicht anders sein. Vorausgesetzt natürlich, dass ihre Vermutung stimmte.
Was war mit Frau Klausel? Sie war plötzlich aufgetaucht und sie hatte eine so große Zuneigung zu ihr, wie schon damals auf dem Flohmarkt, als sie ihr das Buch und die Brosche gegeben hatte. Welche Rolle spielte sie in dieser Sache? Was hatten die Medici und Frau Klausel mit der Sache zu tun? Es war möglich, dass die Medici diese Gabe in der Familie hatte? Das würde natürlich Eleonora erklären, auch ihr komisches Verhalten als Hund, aber Frau Klausel?
Das würde aber auch bedeuten, dass sie ein Mitglied der Familie Medici war, genau wie Marie und vielleicht auch Leonie. Und Eleonora. Sie hatte eine Familie.
Konnte das möglich sein? Konnte ihre Familie näher sein, als sie gedacht hatte? Konnte sie es denn beweisen? Sie nahm nicht gerne Tatsachen als gegeben an, wenn sie nicht eine stichhaltige Begründung und feste Tatsachen zur Begründung hatte. Doch es geht wohl nicht anders. Was hat man schon für handfeste Tatsachen, die diese haarsträubende Vermutung unterstützen.
Und doch ist es etwas Besonderes. Ich weiß auch nicht.
Man müsste einen DNA- Test machen. Dann hätte man wenigstens richtige Beweise. Doch wo sollte man einen DNA- Test bekommen?
Sie müsste Frau Klausel fragen, sie hatte mit Sicherheit eine Rolle in dem ganzen Spiel. Doch wie sollte sie sie fragen?
Das würde sie entscheiden, wenn Frau Klausel wieder in der Schule war. Normalerweise hasste sie spontane Aktionen, aber sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte und wenn sie so oder so nicht mehr in die Schule kam, hatte das alles keinen Sinn.
Überhaupt hatte Frau Klausel eine ganz besondere Stellung bei der ganzen Sache. Elvira fühlte sie dermaßen zu ihr hingezogen, dass sie ihre Gefühle nicht ganz deuten konnte. Irgendetwas musste sie verbinden. Doch was? Liebe? Die kannte sie nicht. In ihrem Waisenhausleben hatte sie keinen Grund zu lieben. Sie wusste nicht, wie sich Liebe äußerte. Hatte sie es Frau Klausel zu verdanken, dass sie so feinfühlig geworden war, für die Dinge, die seither in ihrem Leben passiert waren? Dass sie erkannt hatte, welche Bedeutung alles bekommen hatte? Vielleicht waren ihr komische Dinge, wie sie jetzt passiert waren, nur nicht aufgefallen.
Frau Klausel hatte sie zwar erst nach dem Bekenntnis im Buch wiedergesehen, aber vielleicht hatte ihre bloße Anwesenheit in der Stadt eine Auswirkung. Das würde sie jetzt auch nicht mehr überraschen.
Was sollte sie jetzt machen? In ein paar Minuten könnte sie schlafen gehen, aber eigentlich könnte sie es auch lassen. Naja, was hatte sie denn für einen Lebensinhalt? Sie hatte keine Freunde.
Stopp! Elvira, du musst dich jetzt auf die ganze Sache mit der Magie und Frau Klausel konzentrieren, lass das Selbstmitleid, das ist widerlich.
Also sollte sie schlafen gehen.

Kapitel 12

Elvira saß wieder an ihrem Tisch vor dem Lehrerzimmer und wartete auf Frau Klausel. Sie musste doch jetzt bald kommen. Es war genau eine Woche her seit sie Frau Klausel hier getroffen hatte. Sie musste einfach kommen. Was würde passieren, wenn sie nicht mehr kommen würde? Ihre Welt würde zusammenbrechen und sie würde mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder in diesen Zustand zurückfallen. War es denn möglich? Sie war so intelligent, warum passierte gerade ihr das?
Weil sie vorher alle Emotionen verdrängt hatte und jetzt, wo sie sie zuließ, damit überfordert war.
Elvira ließ ihren Blick einmal quer durch die Anfangshalle schweifen. Ein Kneifen in der Magengegend sagte ihr sofort, dass Frau Klausel endlich angekommen war. Sie stand auf und packte ihre Sachen hastig in die Tasche. Gerade jetzt hatte sie damit Probleme, kein Wunder, sie schleppte zu viele Bücher mit sich herum als nötig.
Sie wurde sehr nervös. Was sollte sie denn jetzt sagen? Sie war ja sonst so kühl und immer vorbereitet, es machte sie ganz nervös, dass sie keinen Plan hatte. Nie wieder würde sie unvorbereitet zu so etwas gehen.
Oh Gott, jetzt drehte sie durch. Tief durchatmen. Das schaffte sie. Sie war intelligenter als die meisten und schneller als die meisten, also konnte sie unbesorgt sein.
Sollte sie unbesorgt sein.
Sie eilte auf Frau Klausel zu. Das Lächeln von Frau Klausel war umwerfend, wie auch letztes Mal. Es prägte sich in ihr Gedächtnis ein, wie sonst nichts. Fast wäre sie einfach weitergegangen, doch dann überzeugte sie sich, dass die Antworten auf ihre Fragen endlich fällig wären.
„Entschuldigen sie, ich habe eine Frage.“, sprach sie die Frau an, die so viele Fragen in ihr aufwarf, und doch so unheimlich wichtig für sie war, wie es noch nie jemand gewesen war und sie sich auch nicht vorstellen konnte, dass jemand diese Stellung je einnehmen könnte.
„Ja? Vielleicht kann ich dir weiterhelfen.“, antwortete Frau Klausel, weiterhin ein Lächeln auf dem Gesicht, doch sie glaubte die Nervosität in ihrem Gesicht zu sehen, dass ihr so bekannt vorkam.
„Das denke ich wohl.“, antwortete Elvira, doch was sollte sie jetzt sagen? „Ich habe einige Dinge herausgefunden, die mir merkwürdig vorkommen, und ich verstehe die Zusammenhänge und die Hintergründe nicht.“ Das Lächeln auf Frau Klausels Gesicht verschwand und machte einer etwas verzweifelten Miene Platz.
„Komm hier mit rein. Da kommt niemand rein.“ Sie öffnete Elvira die Tür zum Vorbereitungsraum und ließ sie eintreten.
„Es ist etwas schwierig für mich, ich weiß nicht was du weißt und ich weiß auch nicht wie ich es dir verständlich machen soll.“, mit einem traurigen Gesichtsausdruck im Gesicht an.
„Sie haben mir damals auf dem Flohmarkt das Buch gegeben, und ich habe vor kurzem das Bekenntnis auf der letzten Seite gelesen. Seit dem passieren sehr viele ungewöhnliche Dinge. Das Buch war von den Medici, genau wie die Brosche, und ein anderes Mädchen hat auch von den Medici gehört. Das Bekenntnis war von den Medici, und die Gaben, die darin benannt werden, habe ich auch schon bemerkt. Wer sind die Medici und was genau sind die Gaben genau? Und, noch wichtiger, welche Rolle spielen sie hierbei? Es tut mir leid, wenn ich so direkt frage, aber ich weiß genau so wenig, wie ich mit der Situation umgehen soll wie sie, aber ich möchte die Antworten wissen, ich hoffe, dass verstehen sie?“, hoffnungsvoll blickte sie Frau Klausel an und diese reagierte wie erhofft. Ein Lächeln, etwas nervös, doch zweifelsohne von Herzen.
„Okay, ich versuche dir ein paar Antworten zu geben, doch ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll, damit es nicht zu hart kommt. Es wird für dich etwas schwer sein zu verstehen. Du hast das Buch gelesen? Auch die Legende des Herrschers, der eine Art von Magie ausübte?“
Elvira nickte nur. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, jetzt, wo sie endlich die Antworten erhalten würde. Vielleicht würde es nicht das sein, was sie erwartete, doch eigentlich war ihre Theorie die einzige, die alles erklärte, auch wenn sie es erst nicht glauben wollte. Magie. Sie schien zu existieren.
„Sie stimmt. Diesen Herrscher hat es gegeben und er hatte diese Art von Magie. Sie liegt in seiner Familie.“ Prüfend blickte sie Elvira an, ob sie damit zurechtkam, doch Elvira sah nicht erschrocken aus, warum auch, damit hatte sie gerechnet.
„Er ist ein Medici. Es gibt magische Familien. Natürlich sollen sie nicht über Länder herrschen. Sie sollen Schutzengel spielen, Katastrophen verhindern, Unschuldige beschützen. Sie werden natürlich kontrolliert. Von anderen Familien. Naja, die Medici sind die Familie von Italien. Einige der Familien sind böse geworden. Sie sammeln die Magie anderer und wollen die ganze Welt regieren. Sie griffen die italienische Familie an, der Mutter gelang es, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Es waren Zwillinge, vier Schwestern. Sie wurden in ein Waisenhaus gegeben, hier in Deutschland. Der Mutter brach es das Herz. Du bist eine der Schwestern. Mit dem Bekenntnis hast du eure Kräfte aktiviert, die zu eurem Schutz deaktiviert wurden, damit man euch nicht aufspürt. Als ich merkte, dass eure Kräfte bald wieder aktiviert werden würden, bin ich in die Stadt gekommen um euch zu leiten, zu beobachten und euch zu beschützen.“
Elvira schluckte. Das hatte sie nicht erwartet, die Sache war gigantisch. Die ganze Welt hatte keine Ahnung, dass die Familien einen Bund geschlossen haben, um die Welt zu schützen, oder sie zu erobern.
„Das ist ganz schön hart.“, erwiderte Elvira nur. „Was ist mit den magischen Kräften?“
„Jedes Familienmitglied besitzt eine magische Kraft. Meistens ist das mit einer oder mehreren Eigenschaften verbunden, Leute die, sagen wir mal, ihr Aussehen verändern können, haben sich schon immer für die Anatomie des Menschen oder auch für Mode und so interessiert. Aber jeder hat nur eine Kraft. Deine Kraft ist es, dich in einen meditativen Zustand zu versetzten, während dem du dich selbst und andere Dinge bewegen kannst, allein durch die Kraft deiner Gedanken und deiner Konzentration.“
„Wer war Eleonora Medici?“, fragte Elvira weiter. Es passte alles in ihr Bild, doch es war noch größer als sie gedacht hatte.
„Eure Großmutter. Sie konnte die Gestalt eines Hundes annehmen. Wir haben sie verloren.“ Sie senkte den Kopf.
„Der Tod ist nur eine weitere Form des Lebens. Wir sollten nicht um sie trauern, da sie es nicht gewollt hätte.“ Sie wand sich unter Elviras fragendem Blick.
„Was passiert jetzt? Werden sie die anderen Schwe… meine anderen Schwestern informieren?“
„Linda, Leonie, Marie und Elvira. Sprich, du. Sie sind alle in deinem Waisenhaus. Kennst du sie? Ich denke ich werde sie alle informieren, ich habe auch ein paar, ja ein paar Schwierigkeiten und ich denke, bevor wir die Sachen in die Hand nehmen braucht ihr ja auch noch etwas Zeit um euch an den Gedanken zu gewöhnen, es muss sehr hart sein. Ich habe ein Problem, Elvira, ich weiß wirklich nicht wie ich euch begegnen soll, schließlich haben wir uns so lange nicht gesehen und ihr kennt mich ja kaum. Es ist sehr schwer für mich.“
Marie, Leonie und Linda aus ihrem Waisenhaus waren ihre Schwestern. Wow. Sie hatte gedacht, dass sie keine Familie hatte und jetzt das. Drei Schwestern. Noch dazu Zwillingsschwestern. Das war wirklich überwältigend. Marie war ja nett, aber sie war mehr eine Freundin. Keine Schwester.
„Das muss hart für dich sein.“ Frau Klausel nahm ihre Hand auf den Tisch, als wolle sie Elvira berühren, doch sie stockte.
Der Schulgong riss sie aus den Gedanken.
„Oh, du musst ja zum Unterricht. Treffen wir uns wieder, zum Beispiel morgen um drei Uhr am See in dem Park, der neben dem Waisenhaus liegt?“
„Sehr gerne.“, antwortete Elvira, lächelte Frau Klausel an und sie lächelte zurück.
Dann verließ sie den Raum um zum Unterricht zu gehen. Es kam ihr vor, als betrete sie eine vollkommen andere Welt. Eine Welt ohne Magie und ohne ihre Schwestern. Schwestern.

Kapitel 13

Marie wusste nicht, was sie machen sollte. Leonie versuchte zwar nett zu ihr zu sein, aber es kam nicht von Herzen und Elvira ging ihr aus dem Weg. Was war denn los?
Sie beschloss in den Park zu gehen, an den See, dann konnte sie mal gucken, wie es den Enten ging. Oder auch nach den Eichhörnchen sehen. Letzte Woche hatte sie einem Eichhörnchen das Bein verbunden, das eine Schnittwunde hatte. Vielleicht war es schon verheilt und sie konnte den Verband abnehmen.
Doch als sie an den See im Park kam, sah sie Elvira mit Frau Klausel um den See gehen. Eigentlich hatte sie wenig Lust, Elvira zu sehen, doch sie mochte Frau Klausel, sie konnte einfach an ihnen vorbeigehen, grüßen und das tolle Lächeln von Frau Klausel erwidern. Bei diesem Lächeln musste man einfach zurücklächeln. Sie hätte so gerne eine Mutter wie Frau Klausel. Sie seufzte. Man konnte nicht alles haben.
Als sie an Elvira und Frau Klausel vorbeikam, kam das Lächeln zögerlicher als sonst, aber trotzdem sehr herzlich. Sie ging weiter.
„Ich verstehe dich, Elvira.“, hörte sie nur noch von Frau Klausel sagen, dann waren sie zu weit entfernt.
Marie schlug sich in die Büsche und setzte sich auf einen Baumstamm und wartete auf ihr Eichhörnchen. Es kam auch nach ein paar Minuten. Der Verband hatte sich schon halb gelöst und sich verheddert. Sie löste den Verband vorsichtig und betrachtete die Wunde. Sie war gut verheilt. Also konnte sie den Verband ablassen. Sie hoffte, dass das Eichhörnchen dadurch nicht aus seiner Gesellschaft herausgerissen wurde. Herausgerissen, abgesondert wie sie. Das wollte sie keinem antun. Ohne Familie, ohne Freunde, dass es niemanden hatte außer Marie, dass es vollkommen abhängig war von ihr.
Sie hatte nicht bedacht, dass der Baumstamm nahe an dem Pfad war, den Elvira und Frau Klausel gewählt hatten. Jetzt hörte sie wieder einige Gesprächsfetzen.
„Ich weiß, ich bin jetzt nicht mehr für mich, ich bin jetzt eine von vier und nur weil ich die Fakten schneller erfasst habe und richtig kombiniert habe, darf ich keine Vorteile den anderen Gegenüber haben. Wann holen wir sie dazu?“
„Es ist sehr korrekt von dir, dass zu sagen, und ich weiß, dass es wirklich schwer für dich sein muss, aber ich schlage vor, wir suchen jetzt Marie und weihen sie ein. Ich bewundere dich dafür, wie du damit umgehst.“
Marie trat aus den Büschen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es um sie gehen würde. Und das es so viele Fragen aufwerfen würde.

Elvira war beeindruckt. Wie Marie aus den Büschen getreten war, aufgerichtete und selbstsicher, zufrieden und neugierig, hatte sie einen ganz anderen Eindruck gemacht als sonst. In der Natur fühlte sie sich sicher.
Jetzt erklärte Frau Klausel auch ihr alles, etwas langsamer als bei ihr. Marie schien nicht so überrascht zu sein wie Elvira dachte, wie sie wäre. Marie hatte viel Fantasie und schien es alles lockerer zu sehen.
„Das heißt, Elvira ist meine Schwester?“, fragte Marie ungläubig. Sie hatte endlich eine Familie gefunden. Frau Klausel nickte. Maries Augen füllten sich mit Tränen und sie nahm Elvira in die Arme.
Marie nahm alles so viel besser auf als sie. Sie konnte immer noch nicht akzeptieren, dass sie Schwestern hatte, doch Marie nahm alles so gut an, ein paar Tränen und gut war, sie bewunderte Marie dafür.
„Wir müssen Leonie und Linda informieren.“, sagte Marie. „Sie dürfen nicht im Ungewissen sein. Eleonora war also meine Großmutter. Nur deswegen war sie so nett zu mir. Ich habe also doch keine Freunde. Eigentlich habe ich jetzt eine Familie.“ Es war nur eine Feststellung, kein Urteil über gut oder schlecht, einfach die Tatsache, dass alle Menschen, die früher nett zu ihr gewesen waren, jetzt zu ihrer Familie gehörten.
„Was ist mit ihnen? Eigentlich müssten sie ja auch zur Familie gehören.“ Das war sicherlich als Scherz gemeint gewesen, aber Frau Klausel nahm es sehr ernst.
„Naja, also… Ich gehöre wirklich zur Familie. Wir sollten jetzt Linda und Leonie informieren. Wenn das für euch okay ist. Marie?“ Sie nickten.
„Ich hole Linda aus dem Internat und ihr haltet Leonie fest, wir treffen uns dann im Waisenhaus, ja?“ Sie nickten wieder und gingen zusammen zum Ausgang des Parks. Schweigend liefen sie nebeneinander her, dann spürte Elvira eine kleine Hand an ihrer. Marie suchte ihre Hand und hielt sie fest. Elvira lächelte. Sie hatte endlich eine Familie.
„Wir sehen uns.“, sagte Frau Klausel und ging zum Parkplatz, während sie Marie und Elvira nachblickte, die sich noch immer an den Händen hielten. Sie lächelte.
Sie fuhr sofort zum Internat von Linda.

Doch bevor sie Linda suchen ging, klopfte sie an die Tür eines Büros und trat ein, als sie ein „Herein“ aus dem Inneren hörte.
„Gabi! Das ist aber nett. Ist es soweit?“ Die Angesprochene nickte. „Ich brauche deine Hilfe. Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass ich ihre Mutter bin. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll, sie sind bestimmt sauer, weil ich sie so lange im Waisenhaus gelassen habe, und sie nichts wussten. Ich habe ein so schlechtes Gewissen.“
„Ach Gabi. Du hast es bestimmt gut gemacht. Du bist ihre Mutter, sie werden glücklich sein, dass du endlich da bist. Sie sind vier kluge Mädchen, sie werden verstehen, dass du ihnen nichts sagen konntest. Da bin ich sicher. Geh jetzt zu Linda. Nimm sie mit. Ich kläre das mit den Anstellungen, dem Haus und alles wirtschaftliche, dann packe ich meine Koffer.“
„Du willst mitkommen?“, fragte Frau Klausel überrascht.
„Aber natürlich. Ich lasse sie nicht im Stich. Ich werde als ihre Zofe arbeiten. Nehmen sie das als mein Geschenk an die italienische Herrscherfamilie.“
„Du wusstest davon? Die ganze Zeit?“ Frau Klausels Gesprächspartner nickte und ihr stiegen Tränen in die Augen.
„Oh, ich bin dir so dankbar!“ Frau Klausel nahm sie in den Arm. Sie drehte sich um und wollte aus dem Raum treten, da kam sie noch einmal einige Schritte zurück.
„Hör bitte auf mich zu siezen!“, sagte sie und ihr Gesprächspartner deutete mit einer Kopf und einer Handbewegung einen Knicks an. Dann lächelte sie amüsiert und Gabi warf ihr einen missbilligenden Blick zu, doch bevor sie sich umdrehte, war ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen.
Dann verließ sie das Büro und eilte den Gang weiter, um dann eine Treppe hochzueilen und an eine Tür am Ende des darauffolgenden Ganges zu Klopfen. Sie trat ein und erklärte der verdutzten Linda, dass sie unbedingt zum Waisenhaus musste. Linda packte das nötigste zusammen und sie gingen zurück zum Auto.

Jetzt saßen alle vier Schwestern und Frau Klausel, alias Signora Medici, in dem kleinen Büro der Nonnen.
„Jetzt, da ihr alle versammelt seid, kann ich euch endlich einweihen. Es war eine schreckliche Zeit. Ich hoffe wirklich, dass ihr mir Verständnis entgegenbringen könnt, obwohl ich euch Schreckliches angetan habe. In unserer Welt existiert Magie. Es gibt magische Familien. Jede Familie ist dazu bestimmt, die Welt zu schützen, vor Katastrophen und auch sich selber. Wir sollen Kriege verhindern und Unschuldige schützen.
Es gibt leider auch Familien, beziehungsweise Angehörige von Familien, denen diese Macht zu Kopfe gestiegen ist. Da jedes Mitglied nur eine Kraft hat, fühlen sich manche Menschen benachteiligt, die schwächere Kräfte haben oder neidisch auf andere Kräfte sind. Gegen sie müssen wir auch noch kämpfen. Das schreckliche ist, ich war einst eine glückliche Frau, ich wohnte mit meinem Mann und meinen Töchtern in einem Haus in Italien, in Florenz, manchmal Venedig, das mochte einer unserer Töchter besonders, manchmal auch in Rom, die andere war fasziniert von den Menschenmengen.“ Frau Klausel lächelte traurig.
„Mein Mann kümmerte sich um die Politik, ich mich um die Gesellschaft und meine Töchter. Eines Tages bat mein Mann mich um Hilfe gegen einen besonders mächtigen böser Magiekundigen. Wir bereiteten uns vor, doch er griff uns in unserem Haus in Florenz an. Ich musste mit meinen Töchtern fliehen, denn er hatte uns fast getötet. Meine Töchter waren mir am wichtigsten. Ich musste meinen Mann zurücklassen. Doch auch er wollte es so. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Meine Töchter musste ich weggeben und ihnen die Magie blockieren. Es brach mir das Herz.“ Elvira erkannte, von wem Frau Klausel sprach. Sie wollte es nicht wahrhaben, so hörte sie einfach weiterhin zu. Trotzdem rollten ihr und auch den anderen drei, Tränen über die Wangen.
„Wir gingen nach Deutschland. Ich nahm den falschen Namen Klausel an und suchte eine Anstellung als Lehrerin. Ich benutzte meine Magie nicht mehr, damit er uns nicht aufspüren konnte. Die ganze Zeit über musste ich an meine Töchter denken, deren Kindheit ihnen geraubt wurde. Doch jetzt habe ich ein Problem. Er hat meinen Aufenthaltsort erfahren. Jetzt erpresst er mich, weil er auch meine Töchter beobachtet und sie nicht mehr geschützt sind. Ihr seid meine Töchter. Ihr habt die Magie wieder aktiviert. Ich habe euch immer beobachtet und versucht euch das Leben so gut wie möglich zu machen. Könnt ihr mir verzeihen?“ Mit großen Augen blickte sie ihre Töchter an. Sie waren überrumpelt.
Leonie zitterte. Sie presste die Lippen aufeinander. Wie Frau Klausel selber. Dann stand sie auf, sagte: „Entschuldigen sie mich.“ Und verließ den Raum. Frau Klausel senkte den Kopf.
„Es ist etwas viel auf einmal. Ich weiß nicht, und ich denke, da geht es meinen Schwestern“, sie betonte das Wort, als wollte sie austesten, es zu sagen, „genauso, ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll.“, sagte Linda.
„Ich bin glücklich.“, platzte es aus Linda heraus. „Ich habe mir immer so gewünscht, dass ich eine Familie habe, eine Mutter, die mich liebt, Geschwister, mit denen ich über alles reden kann, die mich verstehen und beschützen. Jetzt habe ich das alles. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“ Sie lächelte alle Anwesenden an, und man sah ihrem Lächeln an, wie glücklich sie wirklich war.
Ihre gute Laune war ansteckend. Sie hatte die Fakten, die für sie wichtig waren und die waren absolut gut, wie Linda schon gesagt hatte.
Frau Klausel war auch erleichtert und glücklich.
„Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ihr so gut reagiert.“
„Was sollten wir denn sagen?“, erwiderte Marie, „sie haben dadurch, dass sie uns weggeben haben, zwar eine harte Kindheit beschert, aber sie haben auch bewiesen, dass sie uns wirklich lieben. Ich brauche ein wenig Zeit, um damit klar zu werden, aber ich bin trotzdem sehr glücklich. Wenn ich das richtig verstanden habe, sind wir alle Medici und sie sind unsere Mutter. Wir sind die magische Familie von Italien. Müssen wir dann auch nach Italien ziehen und Italien beschützen, wie sie schon erklärt haben?“
Frau Klausel nickte. „ja, aber das hat wirklich noch Zeit, wir können bleiben, wie lange ihr wollt. Ihr müsst nur wirklich auf euch aufpassen, wegen Herrn Braun. Er will euch in seine Gewalt bringen. Ihr müsst wirklich auf der Hut sein.“
Marie nickte. Sie und Elvira verließen den Raum mit einem kleinen Lächeln. Linda wollte ihnen gerade folgen, da stockte sie und kehrte um. Sie drückte Frau Klausel an sich, dann verließ auch sie ihre Mutter, die wesentlich glücklicher und erleichterter aus als vor dem Gespräch.
Linda fuhr mit dem Bus wieder zurück ins Internat, aber die anderen drei blieben bei dem Waisenhaus, dem Waisenhaus, das ihre Mutter, Frau Klausel, oder Signora Medici für sie ausgesucht hatte.
Bevor Frau Klausel aus dem Zimmer gegangen war, klopfte es an der Tür. Hoffnungsvoll blickte sie auf. Sie lag richtig. Leonie trat ein.
„Es tut mir Leid. Ich brauche ihre Hilfe.“ Frau Klausel lächelte glücklich.
„Deine Hilfe.“, verbesserte sie Leonie, „ich helfe dir sehr gerne. Geht es um deine Magie?“ Leonie nickte und schloss die Tür hinter sich. Eine Träne lief ihr über die Wange. Frau Klausel ging zu ihr und nahm sie in den Arm, ganz vorsichtig nur, und Leonie sträubte sich nicht.
„Ich werde immer für dich da sein.“

Kapitel 14

Elvira saß in der Schule. In Mathe. Es machte ihr nicht so viel Spaß wie früher. Es hatte ihr ganzes Leben verändert. Hätte sie Frau Klausel, ihre Mutter, nicht getroffen, so wäre alles so anders gekommen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, was ohne sie passiert wäre. Sie war eine Einzelgängerin, sie hätte nie Anschluss gefunden. Vielleicht wäre sie berühmt geworden, doch was hätte es ihr gebracht? Frau Klausel, ihre Mutter, hatte ihr die Augen geöffnet. Und obwohl sie so geschockt war von der Nachricht, dass Frau Klausel ihre Mutter war, war sie doch glücklich. Sie schien mit einem Mal aus ihrem ganzen schrecklichen Leben herauszukommen. Ihre Wünsche erfüllten sich, sie durfte nach Italien und sie bekam mit Sicherheit auch einen Computer.
Doch was viel besser war als diese oberflächlichen Wünsche, sie hatte eine Familie. Es war nicht schlimm eine Familie zu haben, sie hatte mehr Freiraum, als sie gedacht hatte. Frau Klausel, ihre Mutter, hatte wahrscheinlich einen großen Drang sie alle wiederzusehen, und doch ließ sie ihnen Zeit. Doch sie brauchte keine Zeit mehr. Sie hatte alles erfasst, und auch wenn sie vor sich so tat, als wäre sie geschockt von der Nachricht, so war sie es doch nicht. Sie wartete noch auf den Schock, der kommen würde, da sie es nicht verstehen konnte, wie man über eine so wundersame Wendung so kühl reagieren konnte, doch eigentlich war sie nicht geschockt. Sie hatte es verstanden, es erfasst. Sie konnte mit ihrer Mutter nach Italien ziehen. Und ihren drei Schwestern. Schwestern. Was bedeutete es, Schwestern zu haben? Musste man sich um sie kümmern? Trug man Verantwortung für sie? Sie mochte Marie, doch Linda und Leonie? Leonie war immer beliebter gewesen und würde es auch jetzt sein. Sie würde ihr alles wegnehmen, wie auch hier. Marie. Wahrscheinlich würden ihre Schwestern sie auch ausgrenzen, sie wären ein Dreierteam. Wie lustig.
Linda war offen, sie konnte mit Menschen umgehen. Nicht wie sie. Linda konnte einfach zu Leuten hingehen, ohne sich doof vorzukommen. Ohne sich sofort ausgeschlossen vorzukommen. Wie machte sie das?
Marie. Die Glückliche. Auch sie war so bewundernswert. Sie nahm es in sich auf, mit viel Liebe, sie schaffte es einfach, viel besser als sie. Sie hatte in Leonie wahrscheinlich die beste Schwester gefunden, die sie sich vorstellen konnte. Sie war allein. Wie immer. Doch sie schuldete ihrer Mutter, nett zu sein. Sie würde ohne ein Wort zu sagen, mit ihr nach Italien ziehen und eine gute Tochter sein. Auch wenn sie damit wenig Erfahrung hatte, würde sie es bestimmt schaffen. Sie war nicht dumm. Und sie liebte ihre Mutter bereits.

Auch Linda saß nachdenklich im Unterricht. Sie nahm nichts von dem auf, was der Lehrer sagte. Es war auch egal. Was sollte sie denn mit Physik, sie war eine mächtige Frau, bald würde sie nach Italien ziehen, da würde sie alles neu anfangen.
Es würde schwer sein, hier alles aufzugeben, sie genoss die Aufmerksamkeit, die ihr hier zuteilwurde, die ganzen Augenpaare, die ihr nachschauten, wenn sie den Raum betrat, wenn sie lief. Die Mienen von allen Leuten, die sie aufsetzten, wenn sie dazukam. Die Freude, wenn sie mit ihnen sprach. Und doch, fühlte sie sich nicht ganz wohl. Sie hatte niemanden, niemanden, dem sie ihre schwache Seite anvertrauen konnte, ohne dass es gleich alle wissen würden. Niemanden, der sie einfach mochte, ohne dass sie Sport trieb. Der sie akzeptierte.
In Italien würde alles anders sein. Sie lächelte. Ihr Leben war von einen auf den anderen Tag so toll geworden, sie war etwas besonderes, wie sie es schon immer sein wollte, sie hatte eine Familie, die sie liebte und sie war einfach nur glücklich. Ausgerechnet die nettesten Mädchen im Waisenhaus waren ihre Schwestern. Die kleine Marie, die so nett und süß war, Elvira, die Klügste überhaupt, trotzdem ganz okay, auch wenn sie dadurch wahrscheinlich etwas eingebildet war und Leonie, das beliebteste Mädchen aus dem Waisenhaus. Es musste ja irgendetwas dran sein.
Sie lachte. Vor kurzer Zeit hatte sie noch so anders von ihnen gedacht, Marie sei zwar süß, habe aber keinen eigenen Willen, Elvira war eine eingebildete Kuh und gar nicht ganz so schlau, wie immer gesagt wurde und Leonie war eine Zicke, weil sie so beliebt war. Wie hatte sich alles verändert, nur weil sie jetzt ihre Schwestern waren. Sie war so subjektiv. Das war okay, sie war, wie sie war, und schließlich hatte das auch seine ganz eigenen Vorteile…
Sie musste sich von dem Waisenhaus und dem Internat verabschieden, ihren Freunden und Lehrern, doch das konnte sie verkraften. Sie hatte die einzigartige Chance bekommen, ihr Leben für immer zu verändern. Wie blöd wäre sie, sie nicht anzunehmen.
Ganz objektiv gesehen, konnte sie auch gar nichts anderes, denn selbst wenn sie hierbleiben würde, sie wusste schon zu viel. Wie im Krimi. Sie wusste zu viel und musste verschwinden.
Sie lachte wieder.
„Na, Linda, da du ja offensichtlich so viel Spaß an meinem Unterricht hast, kannst du uns doch bestimmt mitteilen, was <Spaß haben> auf Französisch heißt?“
Mist. Sie saß ja im Unterricht.
„Stimmt, du sitzt im Unterricht, dass hast du gut erkannt. Genauer gesagt im Französischunterricht.“ Okay, sie sollte aufpassen, was sie sagte. Nicht alle Gedanken sollten ihre Lehrer mitkriegen.
„Ähm, also avoir, hmm être drôle?“
„Gut gerettet. Aber jetzt solltest du vielleicht wirklich beim Unterricht bleiben.“
„Ja, natürlich.“

Leonie konzentrierte sich. Sie wusste, was sie tun konnte, um die Gefühle andere nicht mehr so zu spüren, auch wenn sie versuchte das so wenig wie möglich zu machen.
Sie musste nachdenken. Ihre Mutter war toll, ohne Frage. Gerade schien sie ja zu klären, ob sie sie vier adoptieren durfte. Toll. Sie kam hier weg. Doch das Waisenhaus war ihr trotz allem ans Herz gewachsen. Sie hatte hier ihre tollen Freunde und ihre ganzen Bekannten. Sie war beliebt und fühlte sich wohl hier. Jetzt wollte sie sie hier heraus reißen. Ihre Schwestern. Linda, die Sportlerin. Der Umgang war bestimmt leicht mit ihr, aber… Elvira, sie wollte ihr Marie wegnehmen und hatte es auch fast geschafft. Doch sie würde für Marie kämpfen. Marie, die kleine süße Marie, die so schutzbedürftig war und sich so an sie klammerte. Jetzt, wo es ihr wieder besser ging, dachte sie auch wieder besser von den anderen. Sie durfte die ganzen Vorurteile nicht zulassen. Sie musste Marie helfen, denn sie brauchte bestimmt ihre Hilfe. Sie war die einzige, die diese Hilfe überhaupt annahm. Was sollte sie nur machen? Sie konnte ihre Mutter nicht im Stich lassen, sie hatte ihr geholfen und war auch wirklich nett. Sie fühlte mit ihr, sie konnte nachempfinden, was es für sie bedeutet hatte, ihre Töchter wegzugeben. Auch wenn ihr bewusst war, dass sie nur einen ganz kleinen Teil von dem fühlte, was die eigentlichen Personen fühlten. Genau dieser Grund half ihr diese Gefühle zuzulassen, und sie etwas in den Hintergrund zu schieben. Sie musste egoistisch sein, hatte ihre Mutter gesagt, etwas egoistisch, sonst würde sie an den Gefühlen anderer zerbrechen. Sie konnte nicht egoistisch sein. Sie war nie egoistisch. Deswegen war sie so beliebt. Doch jetzt musste sie alles zurücklassen. Sie war einfach mit den Tatsachen überrumpelt worden, jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Nie mehr. Sie wusste von dem riesigen Geheimnis, deswegen konnte sie nie wieder zurück.
Sie fühlte sich gedrängt. Trotzdem wusste sie, dass sie ihre Mutter nie zurücklassen konnte. Sie war so glücklich jetzt.
Doch sie spürte auch die Gefühle ihrer Schwestern. Es war so viel schwerer, da sie die Gefühle von ihnen spüren konnte. Sie spürte Lindas gute Laune, Elviras Misstrauen und Maries Unentschlossenheit. Für sie musste es auch schwer sein. Sowohl Elvira als auch sie selber versuchten sich Maries Freundschaft zu erkämpfen.
Es wäre so viel einfacher für sie, wenn sie sich selber vormachen könnte, dass die anderen sie mögen würden. Wenn sie einfach in dem Glauben weggehen würde, dass sie dort, wo sie hin ging, nicht völlig fremd war, sondern sie von ihren drei Mitbeteiligten geliebt wurde.
Doch so einfach hatte sie es nicht. Sie musste dadurch. Auch wenn es noch so schwer werden würde.

Marie hatte ihren Entschluss gefasst. Sie würde mit ihrer Mutter gehen. Wie sehr sie es genoss, endlich <Meine Mutter> zu sagen und zu denken. Sie war glücklich. Endlich wurde alles toll. So wie sie es sich immer ausgemalt hatte, eine Mutter und einen Vater zu haben, hatte sie bekommen, was sie sich erwünscht hatte. Eine Mutter, noch eine so tolle Mutter dazu, war ein Traum. Alle Mädchen, sie wussten nicht, wie gut sie es hatten, dass sie eine Mutter haben, die sie lieben. Zu denen sie sich jetzt zählen durfte. Sie würde nicht vergessen, wie toll es war. Nie würde sie es für selbstverständlich hinnehmen. In dieser Hinsicht war ihre Kindheit hier ein Vorteil für sie.
Doch wie konnte sie in Italien gewohnt haben, wenn sie doch kein italienisch konnte und außerdem keine einzige Erinnerung an ihr Leben in Italien hatte. Sie war ja schon vier Jahre alt gewesen, als sie hierher kam.
Es würde ihr wahrscheinlich erst einmal schwer fallen, sich hier zu verabschieden, doch die Hinsicht auf ein so tolles Leben, war es ein kleiner Preis. Sie hatte drei Schwestern. Trotzdem sahen sie sich nicht ähnlich. Rein biologisch war es ja möglich, dass vier verschiedene Eizellen befruchtet werden, doch sie hatte noch nie einen solchen Fall erlebt.
Ihre Schwestern. Sie hatte so ein Glück mit ihnen. Eigentlich sollte sie dann nicht so alleine sein. Sie müsste jede freie Minute mit ihren Schwestern und ihrer Mutter verbringen. Sie wollte gleich heute, nach der Schule zu Linda gehen, sie war ja jetzt auch so glücklich, wenn die anderen noch Zeit brauchten, sollten sie die auch bekommen. Doch eigentlich verstand sie nicht, was daran jetzt so schwer war.
Heute hatte sie wieder Biologie. Sie liebte Bio. Würde ihre Mutter sie wieder unterrichten? Eigentlich müsste sie es ja, aber sie konnte ja auch einen Probevertrag gemacht haben, der es ihr erlaubte, nur eine Woche zu unterrichten?
Doch sie lag falsch, denn ihre Mutter, Frau Klausel, kam pünktlich auf den Gong.
Marie strahlte sie an, und ihre Mutter schenkte ihr ein von Herzen kommendes, unglaublich schönes Lächeln.
Auf den Unterricht konnte sie sich kaum konzentrieren, sie kannte ihre Mutter so schlecht, sie musste sie die ganze Zeit betrachten. Sie warf bei einer Stillarbeit einen Blick nach hinten. Leonie war nicht so begeistert von Bio oder von ihrer Mutter. Sie hatte ein missmutiges Gesicht aufgesetzt und machte ihre Arbeit nur widerwillig. Was hatte Leonie denn? Sie hatte eine supertolle Mutter und drei Schwestern bekommen. Was wollte sie denn mehr? Früher war sie so nett zu ihr gewesen, doch jetzt war sie so unfreundlich. Konnte das denn sein? Sollte man nicht eigentlich glücklich sein? Vielleicht glaubte sie nicht daran, konnte nicht glauben, dass sie so plötzlich, aus heiterem Himmel so eine tolle Chance bekommt? Das hatte sich auch Marie schon gefragt. Ob sie träumen würde, ob es nur ein Traum war, den ihr Unterbewusstsein kreiert hatte, nachdem sie die tolle Frau Klausel getroffen hatte. Doch mittlerweile war sie von der Wahrheit überzeugt.
Doch, vielleicht konnte Leonie sie nicht leiden? Dass sie Elvira nicht mochte, hatte sie ja gesehen, seit sie in ihr und Elviras Gespräch geplatzt war, waren sich Elvira und Leonie nur noch als Konkurrenten begegnet. Wegen ihr. Sie hatten sich wegen ihr auseinanderbewegt. Dann musste sie sie auch wieder zusammenbewegen. Bloß wie?
Sie konnte eine Party veranstalten, um sich näher kennenzulernen. Nein, quatsch, eine Party, dass war Unsinn. Doch die Grundidee war gar nicht schlecht, sie konnte ja eine, wie ihre Mitschüler es immer nannten, Übernachtungsparty machen. Sie würde es am Wochenende machen, damit Linda auch da war, in ihrem Zimmer. Sie konnte ihr Zimmer dekorieren, ein paar Blumen würden sich finden lassen, auch wenn es ihr widerstrebte, Blumen aus ihrem natürlichen Lebensraum zu entfernen, außerdem konnte sie ein paar Süßigkeiten kaufen. Wenn sie ihre Schwestern bat, Kissen und Decken mitzubringen, war es auch etwas bequemer. Irgendwo in ihrem Schrank waren auch noch Kerzen und Streichhölzer.
Das war eine sehr gute Idee. Vielleicht konnte sie ihre Schwestern so dazu bewegen, miteinander zu reden, das war doch der erste Punkt auf dem Weg zu einer langen Beziehung. Wenn es gut lief, würden Elvira und Leonie ihre Streitigkeiten beiseitelegen und Linda würde ihr sicher damit helfen.
Es half auf jeden Fall nichts, wenn jede hinter dem Rücken der anderen beiden, mit einer ihrer Schwestern redete, auf gar keinen Fall durfte sich Linda auf eine der Seiten schlagen, dann würde es umso schwerer sein, richtige Freunde zu sein. Schwestern zu sein.
Wow. Sie hatte eine Familie. Die sie liebte. Cool.

Linda war schon am Freitag aus dem Internat ins Waisenhaus zurückgekehrt. Es zog sie zurück, wahrscheinlich wegen ihren Schwestern. Sie liebte sie.
Schon jetzt.
Um ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie mit einer ihrer Schwestern zusammenkam, wollte sie noch laufen gehen.
Auf der Treppe begegnete sie Elvira, die von unten her, wahrscheinlich von ihrer Schule, auf sie zu kam.
„Hallo, Linda.“, begrüßte Elvira sie. Linda sah, dass sich Elvira unwohl fühlte und dass sie scheinbar nicht wusste, wie sie ihr begegnen sollte. Sie mussten sich näher kennenlernen. Was gab es da besseres, als zusammen laufen zu gehen?
„Hey. Ich wollte gerade laufen gehen. Möchtest du mich begleiten?“, fragte sie daher.
„Ähm, eigentlich ja, aber ich bezweifle, dass du mich dabeihaben willst, ich bin wirklich nicht sehr sportlich.“, antwortete ihr Elvira. Wahrscheinlich sollte es nicht so ernst rüberkommen, wie es bei Linda ankam, aber Elvira war leicht zu durchschauen. Sie hörte sofort die Traurigkeit über diese Feststellung heraus, jedoch mehr auf die Aussage bezogen, dass sie sie nicht dabeihaben wollte.
„Ach, Unsinn. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommen würdest. Ich laufe nicht lange, ich bin sicher, dass du das schaffen wirst.“
Der Widerspruch gegen ihre Aussage tat Elvira sichtlich gut und so widersprach sie nicht weiter, sondern ging sich umziehen.
Nach nur wenigen Minuten tauchte sie unten auf. Erst liefen sie schweigend nebeneinander her, bis Linda irgendwann vorsichtig auf ihre Gedanken zu sprechen kam.
„Es ist schon hart, nicht wahr?“ Elvira nickte.
„Ja, es ist wirklich außergewöhnlich. Die ganze Sache mit der Magie. Da habe ich eigentlich nie dran geglaubt. Wahrscheinlich im Gegensatz zu Marie.“
Linda lachte. „Ja, Marie ist schon etwas ganz besonderes. Na, im Grunde sind wir das ja alle. Was ist deine Magie? Wie hast du sie entdeckt?“, fragte sie neugierig. Elvira genoss die Aufmerksamkeit von Linda und die ehrliche Neugier. Das spürte Linda. Sie war selber überrascht, wie feinfühlig sie auf Elvira reagierte. Sonst war sie sehr naiv, wenn es Emotionen anging. Dass sie Elvira so genau zu kennen schien, musste an der Magie liegen.
„Ach, ich weiß nicht genau, was meine Magie ist. Ich entdeckte sie im Sportunterricht. Wie du vielleicht bemerkt hast, bin ich nicht sehr sportlich. Na, ich sollte einen Aufschwung machen und wusste ganz genau, dass meine schreckliche Sportlehrerin wieder alles kommentieren würde, was ich tat. Also nahm ich richtig Anlauf und stieß mich ab, in höchster Konzentration. Das hatte mich viel mehr Konzentration gekostet als eine Matheaufgabe zu lösen. Ich merkte schon nach dem Abstoßen, dass ich zu wenig Schwung hatte. Doch dann, als ich mich noch mehr konzentriert habe, kam so ein komisches elektrisches Gefühl, es wurde nichts langsamer, aber es war so magisch. Naja, ich bekam auf jeden Fall noch so viel Schwung, dass ich den Aufschwung problemlos schaffte. Ich habe es noch einmal versucht, vor einem Spiegel, da sah es so aus, als würde ich in der Luft schweben. Damals habe ich es noch nicht geglaubt.
Und dann noch, als du dabei warst, diese Büste von Theodor Heuss wieder aufzusetzen, da habe ich der Büste zusätzlichen Schwung gegeben. Ich weiß nicht genau, wie meine Magie wirkt, aber ich weiß wie ich sie einsetzte, ich muss mich ganz stark konzentrieren, ich muss auf das höchste Level der Konzentration vordringen, dann schwebe ich. Oder kann anderen Sachen Schwung verleihen.“
Einige Zeit blieb es still, man hörte nur das gleichmäßige Atmen von Linda und das etwas schwere Atmen von Elvira.
„Du bist gut.“, riss Linda Elvira aus ihren Gedanken.
„Hä?“, fragte Elvira, sie wusste nicht, was Linda meinte. Meinte sie ihre Magie? Ihre Reaktion?
„Na, du behauptetest doch, du wärst schlecht in Sport. Du bist gut. Es gibt viele, die schlechter sind als du.“
„Ach so, dass meinst du. Hmm, vielleicht. Ich habe einen starken Willen.“
„Oh, ja, dass hast du. Merkt man. Ist auch cool.“
Elvira wollte ungerne neugierig wirken, doch sie fragte Linda trotzdem. Sie hatte das Gefühl, dass Linda sie richtig verstand. Es war komisch, wie selbstverständlich das Verhältnis zwischen ihnen war.
„Und? Was ist mit deiner Magie?“
„Ich habe sie beim Laufen entdeckt. Mein Sportlehrer, mein alter, übrigens ein Trottel, hatte mich zu einem Sprint aufgefordert. Wenn ich ihn besiegen würde, würde ich eine Eins bekommen. Naja, eigentlich wäre er ja schneller gewesen, doch ich wollte ihm nicht sagen, dass ich wusste, dass ich unterlegen war. Außerdem war ich neugierig, wie schnell ich im Schnitt war. Also stimmte ich zu. Naja, ich hätte fast verloren, da kam dieses komische Gefühl im Bauch. Ich ließ es hochkommen, dann wurde alles langsamer. Nur ich nicht. Deshalb konnte ich ihn ohne Probleme überholen und vor ihm ins Ziel kommen. Ich hätte meine Eins bestimmt bekommen, wenn ich geblieben wäre. Er war beeindruckt. Erst hatte ich Angst, dass irgendjemand mitbekommen hatte, dass ich unglaublich, fast unmöglich, schnell geworden bin. Doch das war nicht der Fall. Ich habe das natürlich oft ausprobiert. Einmal im Waisenhaus, als ich meinte allein zu sein, da hat es mich so fasziniert, dass ich gegen die Büste geknallt bin. Sie war sowieso sehr hässlich. Ich weiß auch nicht mehr, wer Theodor Heuss überhaupt ist.“
Fast automatisch antwortete Elvira auf diese Wissenslücke.
„Er war der erste Bundespräsident nach dem zweiten Weltkrieg. Doch meiner Meinung nach hatte Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler nach dem zweiten Weltkrieg, wesentlich bessere Chancen. Naja, kein Wunder, er hat auch die Verfassung gemacht. Wow, deine Magie ist echt faszinierend.“ Linda nickte, dann schwiegen sie wieder. Nach einiger Zeit fragte Linda Elvira:
„Sag mal, wie viele Länder gibt es eigentlich?“
„Du meinst wegen den Magiefamilien? Es müssen sehr viele sein. Stell dir mal vor, die Familien bestehen ja nicht nur, wie bei uns, aus Mutter und vier Töchtern. Es gibt ja auch viele Familien, die haben sehr viel mehr Kinder in jeder Generation. Es müssen unglaublich viele sein. Ich frage mich, was die so für Magie haben.“
„Ja“, stimmte Linda zu. „Irgendwie erschreckend, findest du nicht? Diese Größe und Komplexität in die wir reingerutscht sind ohne es zu wissen. Ich habe, muss ich zugeben, etwas Angst vor den Auswirkungen.“
„Weißt du, was mich im Moment am Meisten beschäftigt? Welche Magie unsere Mutter hat. Ich kann mir nichts vorstellen, was zu ihr passen würde. Eigentlich müsste sie ja etwas haben, um ihre Ausstrahlung zu verändern. Als ich sie das erste Mal sah…“ Sie beendete ihren Satz nicht. Sie wollte nicht zugeben, was sie gefühlt hatte. Diese Gefühle waren ihre Sache. Allein ihre. Sie liebte ihre Mutter. Ohne Einschränkungen. Sie wusste nicht, was Liebe war, daher wusste sie auch nicht, ob es einfach Mutterliebe war, starke Zuneigung, oder ob es mehr war. Aber eines stand fest. Sie liebte sie und das sollte niemand wissen, außer ihr selbst. Schon gar nicht ihre Mutter selber. Immer wenn sie sie sah, konnte auf nichts anderes als sie achten, sie blickte sie an, solange sie konnte und spürte immer das Gefühl im Bauch dabei. Sie war glücklich, wenn sie sie sah, glücklich ohne Einschränkungen, wie sie es noch nie gewesen war. Konnte das nur davon kommen, dass sie endlich eine Mutter hatte?
„Ich verstehe. Mir geht es ähnlich. Doch ich denke, das ist keine Magie. Sie schafft das auch so. Ich denke es hat etwas mit dem Gedächtnis zu tun. Ich meine, es kann doch nicht sein, dass wir unsere ersten vier Jahre vergessen haben. Dass wir noch nicht einmal mehr italienisch sprechen können. Ich nehme an, sie kann sie irgendwie manipulieren. Ich hoffe es auf jeden Fall, sonst würde es wirklich schwer werden, italienisch zu lernen. Jetzt noch.“
Sie schwiegen wieder. Elvira vergaß über ihre Gedanken das Laufen.
„Wie denkst du über die Schwestern? Kannst es einfach akzeptieren, so lange mit deinen Schwestern zusammengelebt zu haben und nicht zu wissen, wer sie wirklich sind?“, fragte Elvira nach einiger Zeit. Sie blickte Linda an, hoffnungsvoll nach Hilfe für ihr eigenes Problem suchend.
„Ja, eigentlich schon. Ich bin glücklich, einfach glücklich, dass ich jetzt Schwestern habe. Ich möchte am liebsten so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen, und mit unserer Mutter, doch sie brauchen noch Zeit. Besonders Leonie, habe ich so das Gefühl. Auch du scheinst einige Probleme zu haben, obwohl du sie ganz gut zu verstecken verstehst. Ich würde euch gerne helfen, doch was kann ich tun? Es ist wirklich ganz außergewöhnlich, wahrscheinlich sollte ich nicht so locker damit umgehen, doch ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll. Also mache ich es auf meine eigene Art. Ich liebe Veränderungen. Das wird dann wohl die größte sein. Damit komme ich klar.“
„Hmm.“, antwortete Elvira. Sie war nachdenklich. Sie solle Lindas Einstellung gut überdenken, vielleicht konnte sie daran etwas abgewinnen. Sie hatte Recht.
„Du hast Recht. Wir sollten in die Zukunft blicken. Nicht um die Vergangenheit trauern. Schließlich hatte alles einen Sinn. Dadurch sind wir geworden, was wir heute sind.“ Dann fügte sie noch hinzu, sie wusste selbst nicht, wie sie dazu kam, sie wusste nur, es stimmte: „Normalerweise lasse ich mich von anderen Mädchen nicht so krass beeinflussen. Ich denke, du hast schon jetzt einen großen Einfluss auf mich.“
Linda lächelte.
„Es freut mich, wenn ich dir helfen kann. Dass wir uns gegenseitig etwas ändern wird wohl eine Folge der Schwesternschaft sein. Gerade das liebe ich ja an solchen Beziehungen.“
Wieder schwiegen sie. Doch es war keine peinliche Stille und auch keine nachdenkliche Stille. Sie war einfach übereinkommend zufrieden.
„Weißt du, ich mache mir Sorgen um Leonie.“, vertraute Linda ihr jetzt an. „Sie kommt damit nicht klar, ich habe sogar das Gefühl, dass sie unsere Mutter nicht mag. Sogar Marie nicht mehr. Von uns ganz abgesehen. Sie schließt sich richtig aus. Ich weiß nur nicht warum.“
Elvira kniff ihre Lippen zusammen. „Naja, ich weiß warum sie mich nicht leiden mag. Sie denkt, ich hätte ihr Marie weggenommen. Als ich ahnte, was vorgeht, habe ich Marie besucht, sie hatte ein Zitat, das meine Aufmerksamkeit erregte. Da kam sie rein und ihr Blick war alles andere als freundlich. Ich glaube sie war eifersüchtig.“
Doch Linda konnte sie beruhigen.
„Das erklärt nicht ihre Abscheu gegen alles, was mit der Familiengeschichte zu tun hat. Ich wüsste nur zu gern, was sie hat. Vielleicht könnte ich ihr dann helfen. Wir sind Schwestern. Wir müssen zusammenhalten.“
Es war sehr ungewöhnlich für Elvira, ein so starkes Band mit einer Person zu haben, jetzt hatte sie gleich mehrere. Ihre Freundschaft mit Linda war etwas ganz besonderes. Sie war so einfach, und doch so komplex, so selbstverständlich und trotzdem so selten.
Sie kehrten zum Waisenhaus zurück. Erschöpft schleppte sich Elvira die Treppe hinauf. Jetzt, im Nachhinein, trafen sie die Folgen ihres Laufs mit voller Wucht. Sie begegnete Marie im Gang vor ihrem Zimmer.
„Hallo Elvira. Hast du heute Abend noch etwas vor?“, fragte sie sie. Marie war stolz auf sich. Sie war gar nicht mehr so ängstlich in Gegenwart von Elvira. Auch auf sie hatte die Schwesternschaft schon Auswirkungen.
Als sie gesehen hatte, dass Linda schon heute aus dem Internat zurückgekehrt war, hatte sie ihre Veranstaltung nach vorne verschoben, so konnte sie alle schon heute Abend einladen. Sie hoffte wirklich, dass alle kommen konnten.
„Ja, natürlich. Klar. Wann soll ich kommen? Oder hast du etwas Besonderes vor?“
„Hmm, du kannst so gegen, sagen wir mal, gegen Acht rüberkommen, in mein Zimmer. Und bring bitte deine Bettdecke und dein Kissen mit, ja?“
Elvira ahnte, was Marie vorhatte. Sie wollte alle Schwestern einladen, damit sie sich etwas besser kennenlernten und sich leiden mochten. Vielleicht wollte sie auch Leonie einladen, dann konnten sie sie mit einbeziehen und sie würde vielleicht etwas umgänglicher werden. Okay, dass war fies. Sie durfte nichts gegen Leonie machen. Sie war ihre Schwester. Auch wenn sie eingebildet war, auch wenn sie immer Elviras insgeheime Wünsche repräsentiert hatte, die für Elvira in unerreichbarer Entfernung standen. Damit musste sie abschließen. Das war Vergangenheit. Sie durfte auf keinen Fall den ersten Eindruck so schlimm machen, indem sie und Leonie Feinde wurden. Das würde Katastrophale Auswirkungen haben. Auf alle vier Schwestern und Mutter. Sie hätte zwar bestimmt Lindas Unterstützung, doch wenn sie nett zu ihr war und Leonie sah, dass sie auf ihre Überlegenheit verzichtete, war sie bestimmt netter als sie es sonst wäre. Hoffte sie.
Sie ging duschen und legte sich danach auf ihr Bett. Es war schon sehr anstrengend gewesen, besonders für die unsportliche Elvira. Sie lächelte. Den Preis war es wert gewesen. Linda war toll. Marie war lieb. Leonie war intelligent.

Ich gehe mit Gabi mit. Ich bin doch schließlich ihre Freundin. Wenn sie auch nicht alles über mich weiß, was sie vielleicht wissen sollte. Ich stand ihr jetzt so lange treu zur Seite, habe ihr geholfen. Ländergrenzen und Sprachunterschiede sind für mich kein Problem.
Auch wenn ich anfangs nur aus zweckmäßigen Gründen bei ihr war, sie ist eine so tolle Frau, leider etwas naiv. Sie sieht nicht immer sofort das Wichtigste an einer Sache. Deswegen stehe ich ihr mit meinem Rat zur Seite.
Ich habe mich sofort in sie verliebt, als ich sie gesehen habe. Sie hat einen umwerfenden Charme. Es muss für sie sehr schwer gewesen sein, ihr tolles Leben aufzugeben und zu fliehen, ihre Töchter zu verlassen.
Ich bewundere sie für ihre Stärke. Da ist es nur verständlich, dass ich mit ihr nach Italien gehe.
Da lasse ich mir von keinem reinreden, es ist meine Meinung und damit basta.

Elvira klopfte an Marie Zimmertür. Ihre Decke und ihr Kissen klemmten unter ihrem Arm, außerdem hatte sie Rosi um etwas zu trinken und etwas zu Essen angebettelt, das hatte sie auch mitgebracht, außerdem ihre Brosche der Medici und das Märchenbuch. War es ein Märchenbuch, wenn doch eigentlich keine Märchen, sondern wahre Begebenheiten darin aufgelistete waren?
Sie hoffte, dass das Treffen gut verlaufen würde und dass sie mit Leonie klaren Tisch machen würde. Sie würde auf jeden Fall wenigstens so tun, als ob sie sie mögen würde, denn es sollte niemand anderes darunter leiden.
Als sie eintrat, hatten Marie und Leonie das Zimmer schon in einen gemütlichen Raum verwandelt. Marie hatte vier Blumen, weiße Blumen, auf ein kleines Tuch in der Mitte des Zimmers gelegt. Darum hatte sie die Decken und Kissen gelegt, damit sie es bequem hatten. Marie hatte es wirklich sehr gut hingekriegt. Sie übereichte Marie ihre „Gastgeschenke“ und setzte sich zu Linda, die nahe der Tür auf dem Boden saß und Marie zusah.
Die Stimmung wirkte friedlich, doch der Schein trog. Die drei Schwestern standen unter Anspannung. Sie setzten sich nicht auf die dafür vorgesehenen Kissen und Decken sondern warteten an der Tür, voller Zweifel und doch voller Hoffnung. Bei dem kleinsten Geräusch blickten sie auf die Tür und enttäuscht wieder weg, als es sich als falsch erwies. Würde sie kommen? Würde sie zu den Schwestern kommen und sich aussprechen? Konnten sie denn auf sie verzichten? Waren sie vollkommen, wenn eine fehlte?
Wieder erklangen Schritte auf dem Gang, langsam und zögerlich schienen sie sich der Tür zu nähern. Dann, eine Pause, die Tür öffnete sich. Und Leonie betrat den Raum.
Ihr welliges, volles Haar hatte sie mit ein paar Spangen gebändigt, und um ihre etwas kräftige Statur war ein Wickelkleid gebunden. Ihr Gesicht verriet Unsicherheit und sie hielt sich die Decke und das Kissen schützend vor ihren Körper.
Die peinliche Stille unterbrach Marie, indem sie betont fröhlich sagte:
„Toll, dass du auch da bist, komm, gib mir deine Decke.“ Nur zögernd reichte Leonie ihr ihren Schutz, dann stand sie noch verunsicherter mitten in der noch immer geöffneten Tür.
Linda ging erleichtert zu Leonie und führte sie in den Raum, wobei sie mit einer kleinen Bewegung die Tür hinter sich zuschlug.

Das Zurück war vernichtet. Das Schlagen der Tür hallte in ihrem Kopf wieder, sie blickte in die gespannten Mienen der Schwestern. Ihrer Schwestern. War sie so eingebildet, dass sie nicht akzeptieren konnte, dass sie jetzt nur noch eine von vier war, dass sie jetzt teilen musste?
Doch, musste sie denn teilen? War nicht ein einziges viertel von den Schwestern mehr als sie jetzt war?
Marie hatte sich schon verändert. Sie hatte keine Angst mehr vor Menschen. Auf jeden Fall nicht vor ihren Schwestern. Elvira ließ sich auf das Niveau normaldenkender hinunter und zeigte Emotionen. Wollte sie, dass auch sie ihren Teil beisteuerte, dass sie eine Eigenschaft abgab, damit es klappte? Signalisierten die weißen Blüten das? Unschuldig wie sie waren, würden sie sich bald füllen, mit roter Farbe, rot wie Blut.
Da merkte Leonie, dass auch sie sich bereit verändert hatte. Unaufhaltsam hatte sie ihr fröhliches, menschenliebendes Ich abgegeben und stattdessen dieses neurotische Ich angenommen. Wollte sie dass? Sollte sie nicht lieber eine gute Veränderung mit ihren Schwestern machen statt eine schlechte ganz alleine? Zurück konnte sie nicht mehr.

Marie war nervös. Jetzt ging es um alles oder nichts. Sie ließen sich auf den Kissen nieder, jeder setzt sich vor eine Blume, Elvira gegenüber von Leonie, rechts neben ihr Linda, links neben ihr Marie.
Stille erfüllte den Raum. Elvira vermied es, Linda oder Marie anzublicken. Das war unfair gegenüber Leonie. Sie würde sich ausgeschlossen vorkommen, doch das war es nicht.
Linda ergriff schließlich das Wort.
„Ich weiß, es ist eine sehr ungewöhnliche Situation für uns.“ Und damit meinte sich nicht ihr Treffen in Maries Zimmer.
„Deshalb würde ich euch, meinen Schwestern gerne erklären, wie ich reagiert habe, als ich erfahren habe, dass wir Schwestern sind und Frau Klausel unsere Mutter. Natürlich war ich erst einmal geschockt. Wir haben uns hier ein mehr oder weniger glückliches Leben aufgebaut. Wir haben mit so einer gewaltigen Wendung nicht gerechnet. Doch ich war überglücklich. Schwestern und eine Mutter zu haben, habe ich mir immer erträumt. Und das ich jetzt auch noch so tolle Schwestern bekommen habe und nicht irgendwen, war für mich noch unerklärlicher. Ich habe erkannt, dass es eine riesige Chance ist. Und die werde ich annehmen, koste es was es wolle.“
Sie blickte ihre drei Schwestern an und strahlte. Sie lächelten zurück, auch Leonie fühlte sich durch Lindas Kompliment geschmeichelt.
„Ich habe das Märchenbuch mitgebracht,“, sagte Elvira. „Das Buch, das unsere Mutter mir vor einigen Jahren geschenkt hat, aus dem Buch weiß ich alles über den Herrscher, unseren Vater. Soll ich euch etwas daraus vorlesen?“
Die drei Mädchen nickten. Elviras schlug das Buch auf, und suchte die passende Stelle.
„Es war einmal ein gutaussehender Prinz. Er war der Liebling des ganzen Volkes. Er war intelligent, und wusste sehr gut wie man sich beliebt macht. Er war für alle da, für die Bauern sowie den Adel. Er wuchs heran, und übernahm den Thron. Sobald er den Thron zum ersten Mal berührte, spürte er, dass etwas anders war. Ein warmes Licht strömte durch den Saal, erfüllte Decken und Wände, brachte die Liebe in den Palast. Eine tolle Zeit brach an, Liebe und Wärme regierten das Land, anstelle des kühlen Herrschers. Das Volk betete diesen Herrscher an, wie es noch nie geschehen war. Sie lasen ihm die Wünsche von den Lippen ab, um sie ihm zu erfüllen. Das ganze Volk war seine Familie. Seine Zofe, Rosalee, kümmerte sich ganz besonders um ihn, da seine Mutter früh verstorben war. Doch sie wünschte sich mehr für ihren Liebling. Sie wünschte sich so sehr, dass er seine wahre Liebe finden würde, unendlich glücklich werden würde. Doch egal was sie auch tat, die wahre Liebe erschien ihn nie zu ereilen. Dann, eines Tages, zog eine Dame an den Hof, die sein Herz im Nu eroberte. Sie war ein fröhliches Mädchen, kaum 20 Jahre alt. Ihre braunen Locken betonten ihren Sanftmut. Der Herrscher hielt um die Hand des Mädchens an, sie war glücklich. Schon nach einer kurzen Weile, erkannten alle, wie groß das Glück der beiden war. Doch einer, der dem Prinzen nicht wohlgesonnen war, gönnte ihnen dieses Glück nicht, er zog an den Hof, als persönlicher Berater des Königs. Eines Tages, als ihm die Situation günstig erschien, fragte er den König: <<Sind Sie sicher, mein Herrscher, dass Gabriele die richtige Frau für sie ist? Ich an ihrer Stelle, mein Herrscher, würde sie testen lassen. Lassen Sie sehen, diesen Thron, den Ihrigen, berühren, und wenn ihr nicht dasselbe passiert wie ihnen, mein Herrscher, lösen sie die Verbindung. >> Der kluge Prinz ließ sich von ihm beirren, und stellte der schönen Frau eine Falle. Als er sie eines Tages zum Essen bat, ließ er sie sein Taschentuch holen, das er auf seinem Thron liegen gelassen hatte. Die schöne Frau durchschaute seine Frage, da sie schon vorher das Gespräch zwischen ihren Mann und seinem persönlichen Berater gehabt hatte, doch da sie ihren Mann glücklich machen wollte, berührte sie den Thron. Der persönliche Berater, der dem Prinzen das Ergebnis mitteilen sollte, sah das Licht und die Wärme, die bei der Berührung durch den Saal geströmt war, und erkannte die Wahrheit. Auch das Mädchen besaß diese Fähigkeiten. Doch der Berater war in eifersüchtig auf den jungen Prinzen daher teilte er ihm mit, dass bei der Berührung nichts passiert wäre. Doch der junge Prinz spürte die Wärme in seinem Herzen, er erkannte, dass das Mädchen seine Gefährtin war. Den Berater schickte er wegen Hochverrats am König vom Hofe schicken.
König und Königin, wie sie jetzt genannt werden dürfen, bekamen vier Kinder, alles Mädchen, die wunderschön und intelligent waren, wie ihre Eltern selber, und die Familie lebte glücklich bis an ihr Lebensende, und die Nachfahren noch immer.
Okay, ich habe das Märchen aus dem Italienischen Übersetzt, eigentlich klingt es viel eleganter.“
Als Elvira geendet hatte, herrschte Stille. Alle wunderten sich, dass dieses Märchen so nahe an den wirklichen Geschehen anlehnte.
„Wunderschönen und intelligent. Wir, die vier Schwestern. Es ist eine Überraschung für mich gewesen, doch ich komme damit zurecht. Ich freue mich über diese wundersame Wendung in meinem Leben, das sollten wir alle tun. Wir tragen eine große Verantwortung dem italienischen Volke entgegen. Und unserer Mutter.“
Alles blieb ruhig, und Elvira beobachte die die Reaktion, die ihr Gesagtes hervorrief. Marie lächelte, und Linda nickte Elviras zu, doch Leonie blickte auf ihre Hände, die nervös an einem Zipfel ihres Kleides herum spielten.
„Leonie?“, Fragte Linda. „Was sagst du dazu? Wir wollen deine Meinung auch hören. Das ist sehr wichtig für uns.“
Leonie blickte auf.
„Ja? Vielleicht. Doch was soll ich sagen? Soll ich sagen, dass ich zu einer Entscheidung gezwungen fühle, dass ich mich nicht mehr frei fühle? Dass ich mich eingeengt fühle? Dass ich es nicht leiden kann, wenn man mir etwas so Großes aufzwingt, ohne mein Mitspracherecht? Es ist schwer für mich zu akzeptieren, dass ich mein Leben hier aufgeben soll, mein hart erarbeitetes Leben? Ich bin nicht so euphorisch wie ihr, ich weiß nicht, ob wir so tolle Schwestern sind, ich weiß nicht, ob unser Zusammenleben so gut hinhaut.“
Das dämpfte die Euphorie der Schwestern. Hätte es jemand anders gesagt, hätten sie es verworfen, doch das von einer der Schwestern war wirklich schlimm. Wenn schon sie an ihrem Erfolg zweifeln, wie sollten sie es dann schaffen?
„Das verstehe ich.“, sagte Linda. „Ich hatte auch bedenken. Bis ich mich mit Elvira unterhalten habe. Ich habe dieses merkwürdige Einverständnis zwischen uns gespürt. Es kann gar nicht nicht klappen. Ich bin da optimistisch.“
Marie nickte.
„Selbst wenn es nicht klappen würde, es wäre wirklich dumm und selbstsüchtig von uns, wenn wir es noch nicht einmal versuchen würden. Außerdem sollten wir die Hoffnung nicht jetzt schon aufgeben, das ist töricht.“
Wow, dachte Leonie. Marie ist so entschlossen, so kenne ich nicht. Sie hat sich wirklich verändert. Zum Guten hin. Ich sollte auch mitmachen. Wenn ich es nicht tun würde, ich würde mein ganzes Leben darüber nachdenken müssen. Und wenn ihnen etwas passieren würde, würde ich mir auf ewig Vorwürfe machen. Ich muss mit ihnen gehen. Ich muss mit ihnen klarkommen.
Sie sind auch gar nicht so schlimm. Sie sind nur etwas… anders. Sie haben das hier organisiert, nur damit ich nicht mehr gegen sie bin. Das ist lieb. Sie sind richtig süß. Und ehrlich um mich bemüht, wie sonst keiner.

„Leonie.“, setzte Linda wieder an. Ihr freudiges Lächeln war einer mitfühlenden Miene gewichen. „Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Du fühlst dich dazu gedrängt, gezwungen, aus deinem Leben herausgerissen. Auch mir ging es ganz am Anfang so. Auch ich habe hier meine Freunde, mein Leben habe ich mir hier aufgebaut. Ich möchte auch nicht gerne hier weg. Doch wir werden gebraucht. Dagegen können wir uns nicht wehren, wir wurden dazu bestimmt. Es muss ein tolles Gefühl sein, anderen helfen zu können. Findest du nicht?“
Leonie überlegt nicht lange. Sie nickte.
„Ihr seid wirklich lieb. Das hier alles, obwohl ich so schrecklich zu euch war. Ja, ich hatte etwas gegen euch, gegen die Tatsache, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Natürlich kann ich diese Gefühle auch nicht von einen auf den anderen Moment loswerden, klar, aber ich bin auf einem guten Weg, und ich bin sicher, ihr werdet mir dabei helfen.“ Vollständig aufrichtig hatte sie geantwortet, im Nachhinein hatte sie jedoch Angst, dass es falsch verstanden werden könnte. Ihr plötzlicher Umschwung kam bestimmt merkwürdig. Würden sie denken, dass es nicht stimmte, dass sie gelogen hatte?
Doch die Schwestern, ihre Schwestern, lächelten nur, alle, auch Elvira, und Leonie wurde klar, dass sie nicht darauf achten musste, dass richtige zu sagen, dass sie nur die Wahrheit sagen musste, dann wurde sie von ihren Schwestern richtig verstanden.
Das hatte sie noch nie gehabt. Es war nicht immer gut, sich über alle anderen zu erheben. Denn dann war man unerreichbar für die anderen.

Kapitel 15

Wow, das Essen schmeckte fantastisch. Ihre Mutter hatte sie und ihre Schwestern (!) zum Essen eingeladen, in ein Restaurant, italienisch natürlich, und das Essen war ein so krasser Unterschied zu dem Essen aus dem Waisenhaus.
„Also, ich möchte euch ja nicht drängen, aber… Wie habt ihr euch entschieden? Was sagt ihr?“ Ihre Mutter, sie wusste noch immer nicht, wie sie von ihr reden sollte, Frau Klausel, wie sie sie kennengelernt hatte, Gabrielle, wie ihr Vornahme war, eigentlich hieß sie ja Gabriella Medici, das ganze auf Italienisch, oder Mama? Vielleicht auch einfach Madre, was Mutter im Italienischen heißt?
Elvira setzte in dem Moment an, in dem er zu einem betretenden Schweigen werden würde:
„Also, wir sind bereit nach Italien zu fliegen, dort zu leben und unserer Bestimmung nach zukommen. Von mir aus kann es auch direkt heute sein, ich habe nichts, was mich hier hält.“ Das sollte eigentlich als Scherz rüberkommen, doch das Ende war etwas verbittert.
Doch Marie überbrückte diesen Augenblick.
„Stimmt, ich bin auch bereit. Wann fahren wir? Ich kann es kaum erwarten. Das wird bestimmt toll.“ Erwartungsvoll blickte sie ihre Mutter an. In ihren Augen funkelte die Vorfreude.
Auch Leonie wurde auf ein Mal davon erfasst. Sie würden umziehen, neue Leute kennenlernen, dieses Mal würde sie nicht das Waisenkind sein, sie würden in ein neues Haus ziehen, sie konnte ihr Zimmer einrichten, konnte mit ihren Schwestern glücklich sein, konnte es genießen, endlich eine Familie zu haben.
Gabriella lächelte.
„Ich freue mich, dass ihr eure Entscheidung getroffen habt und dass sie so ausgefallen ist. Doch ihr solltet euch etwas mehr Zeit lassen. Ihr könnt zwar immer wieder zurück zu einem Besuch kommen, doch dann werdet ihr nur noch Besucher sein, jetzt ist eure Zeit hier, also nutzt sie noch sinnvoll. Wir könnten ja den Umzugstermin auf, sagen wir mal, in einem Monat legen. Aber natürlich nur, wenn ihr alle wollt.“
Linda nickte lebhaft und auch Leonie nickte, zwar mit etwas Zögern, doch zustimmend.
„Einen Monat finde ich gut. Dann haben wir noch genug Zeit um uns vorzubereiten und uns zu verabschieden.“, sagte Leonie. Ihre Mutter lächelte verständnisvoll.
„Wenn ihr bereit seid, gebe ich euch eure Erinnerungen an das Leben bevor ihr nach Deutschland kamt zurück. Ich hoffe es wird nicht zu schlimm für euch sein, doch ich konnte euch sie nicht lassen, ich…“ Sie verlor sich traurig, doch Linda unterbrach sie:
„Schon klar, wir verstehen das. Du hast das Beste getan, und dafür bewundern wir dich, weil es unglaublich schwer für dich gewesen sein muss. Ich denke ich spreche damit auch für meine Schwestern, wenn ich sage, dass wir sie gerne wiederhaben wollen. Wir sind bereit.“
Die Schwestern nickten und ihre Mutter wandte sich an Marie, die ihr am nächsten saß.
Sie legte ihr ihre Finger auf die Schläfen und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich, danach konnten die Schwestern einen verträumten Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen.
Ihre Mutter hätte ihnen auch erst die Erinnerungen wiedergeben können, dann hätten sie wahrscheinlich nicht gezögert zuzustimmen und hätten keine Bedenken gehabt. Doch sie hatte sie erst gefragt. Das bedeutete, dass ihr der freie Wille ihrer Töchter am Herzen lag. Das sprach eindeutig für ihre Mutter. Es war eine tolle Frau.
„Leonie. Du weißt, dass ich deine Erinnerungen auch wieder vergessen machen kann? Deine ganzen Erinnerungen an mich, deine Schwestern, die Magie?“ Stimmt. Das hatte sie nicht bedacht. Sie konnte alles vergessen. Aber war das nicht gegen sie selber? Dass sie selber entscheiden sollte, dass sie es vergessen sollte, kam ihr vor als würde sie ihr jetziges Leben beenden. Konnte sie denn sie selber sein, ihr Bewusstsein? Das kam für sie nicht in Frage, selbst wenn sie dann ohne Magie leben würde, einfach so. Außerdem, wollte sie das überhaupt? War ihr Leben, das sie jetzt haben könnte, nicht viel besser als ihr altes Leben? Klar, als man ihr es einfach genommen wurde, hatte sie sich beschwert, doch ganz objektiv gesehen, ein Leben mit Familie, richtigem Haus und Magie war viel toller als ein Leben als Waise, ohne Geschwister und ohne das Wissen, dass sie etwas besonderes hätte sein können.
Hatte sie sich da nicht total in etwas hineingesteigert, als sie sich zu etwas gedrängt gefühlt hatte und angefangen hatte sie zu hassen, ihre Magie zu hassen?
Dann bemerkte sie die besorgten Blicke ihrer Schwestern und den fragenden Blick ihrer Mutter. Auch in ihren Augen konnte Leonie die Besorgnis sehen. Sie wollte nicht, dass Leonie ihre Erinnerungen vergaß. Sie wollte ihre Töchter bei ihr haben. Endlich.
„Natürlich kommt das nicht in Frage. Ich möchte meine Erinnerungen behalten, alle, und meine alten wiedererlangen. Nur alle meine Erinnerungen zusammen machen mich zu dem, was ich bin und nur wenn ich alle habe und sie verstehe, kann ich mich selbst verstehen und kennenlernen.“
Die Schwestern lächelten erleichtert und ihre Mutter legte ihre Hände an ihre Schläfen und schloss die Augen.
Ein warmes Gefühl schien von den Fingern ihrer Mutter auszugehen. Sie fühlten sich rau auf ihrer Haut an. Dann, auf ein Mal, schossen Bilder vor ihrem Auge hoch. Ein kleines Mädchen, mit Haaren wie ihren, und drei andere Mädchen standen auf einer Brücke und winkten ihrer Mutter zu. Sie waren noch nicht sehr alt und wirkten doch sehr vertraut. Ihr wurde klar, dass sie das waren. Leonie, Marie, Elvira und Linda als Kleinkinder. Sie wirkten sehr glücklich. Leonie musste Lächeln. Das war ein so unbeschreibliches Gefühl, sie als Familie zu sehen, glücklich und unbeschwert. Jetzt änderte sich die Sicht. Sie war auf einer Gondel, neben ihr standen die drei Mädchen, ihre Schwestern in klein. Marie fasste sie an der Hand. Leonie verstand, Marie schien zu fürchten, dass sie ins Wasser fielen. Doch ein Mann, gutaussehen, legte seine Hand auf Maries Schulter. Das musste ihr Vater sein.
Mit seiner anderen Hand hielt er die Hand einer beachtlichen Frau. Sie war gekleidet in einen weiten, bunten Rock, ein weißes, enges Oberteil und trug lange, schwere braune Locken. Das musste ihre Mutter sein. Sie wirkte so glücklich. Diese Sachen standen ihr viel besser, sie symbolisierten die Melodie ihres Lebens.
Jetzt war auch klar, von wem Elvira ihre tollen Locken geerbt hatte. Zwar waren ihre lang und schwarz, jedoch war die einzigartige, wunderschöne Art erhalten geblieben. Locken waren normalerweise sehr klein und machten die Haare kraus, dass sah nicht gut aus. Doch diese Locken waren schwer und weit, als hätte man sich die Haare aufgedreht.
Im nächsten Ereignis saßen sie alle an einem Tisch, zusammen, ein riesiges Mal war aufgetischt.
„Meinen wunderschönen kleinen Mädchen wünsche ich einen tollen Geburtstag!“, sagte der gutaussehende Mann zu den vier Mädchen, die an dem einen Tischende saßen, vor ihnen ein riesiger Berg mit Geschenken.
„Heute ist ein ganz besonderer Tag, meine Süßen.“, fügte ihre Mutter hinzu, sie trug ein wunderschönes buntes Kleid.
„Ihr werdet vier Jahre alt. Ihr seid vier Schwestern. Heute bekommt ihr eure Magie, von der ich euch schon erzählt habe.“ Leonie lachte. Ihr Verstand schien alles leicht aufzunehmen. Sie sah sich um und erblickte Elvira, die einen Apfel musterte und ihn in der Luft schweben ließ. Einfach so. Doch Leonie war nicht überrascht. Es musste so sein. Wie sonst?
Jetzt wurde es unterbrochen. Sie war wieder im Restaurant.
„Wunderbar.“, hauchte sie. Es war unglaublich. In Maries Gesicht war das gleiche Gefühl zu lesen, dass sie selber gerade empfand. Völlige Glückseligkeit.
Dann tauchte sie wieder in ihre neu errungenen Erinnerungen ein.

Linda wartete ungeduldig, bis auch Elvira ihre Erinnerungen wiederhatte, sie wollte unbedingt selber das Gefühl empfinden, dass ihre Schwestern, sogar Elvira, so völlig glücklich machte.
Auch ihre Mutter sah glücklich aus, dass war im Angesicht der glücklichen Mienen der Schwestern auch nicht weiter verwunderlich.

Doch nicht alle Schwestern sahen die gleichen Erinnerungen, sondern jede die, die besonders wichtig für sie war und sich besonders in ihr Gedächtnis eingeprägt hatte.
Während die Schwestern in ihren alten Erinnerungen schwelgten und sie sichtlich genossen, beobachtete Gabriella ihre Töchter. Sie war stolz auf ihre Töchter, dass sie es so leicht aufnahmen. Dass sie so glücklich mit ihren Erinnerungen waren, machte sie selbst glücklich. Ihre Sorge war es immer gewesen, dass sie ihren Töchter nicht genug gab, dass sie zu sehr an das Leben als Mitglied einer magischen Familie gebunden waren, dass sie richtige Kinder sein konnten. Nicht belastet von den Bürden, die es mit sich trug, ein Mitglied dieser Familien zu sein.
Sie betrachtete ihre Töchter. Wie gerne würde sie die wahren Gefühle ihrer Töchter wissen. Sie sind jetzt zwar glücklich, doch sind sie es auch im Bezug über den Umzug?
Wäre ich jetzt wie Anywa, wüsste ich wahrscheinlich Bescheid. Sie hat einen unglaublichen Blick für die Gefühle anderer. Obwohl sie die Personen kaum kennt. Wunderbare Frau. Sie ist wirklich loyal. Ich hätte gedacht sie würde hier in Deutschland bleiben. Ich kenne sie einfach nicht gut. Es ist wirklich traurig. Warum kennt man die Menschen kaum, mit denen man umgeht, die einem jeden Tag begegnen? Warum ist es so schwer andere Menschen richtig zu kennen, obwohl man sie doch tagtäglich sieht? Weil alle Menschen und deren Gefühle unglaublich komplex sind. Man kennt Leute erst richtig, wenn man sie jahrelang kennt, sie richtig liebt. Oder wenn sie richtig ähnlich sind. Wie Töchter.
„Einen Monat haben wir noch. Dann werden wir umziehen.“, sagte Leonie, die aus den Gedanken wieder aufgetaucht war.
„Was müssen wir dann noch alles regeln? Ich habe keine Erfahrungen mit Umziehen, dann auch noch in ein anderes Land. Müssen wir irgendwie mit dem Land hier was klären und uns in Italien eintragen lassen?“
„Nein, wir müssen das nicht, es kümmert sich jemand darum. Weißt du, wir als Mitglieder der magischen Familie haben einige Privilegien. Eine sehr loyale Zofe hat uns schon ihre Treue bewiesen. Sie kümmert sich um die ganze rechtliche Sache. Sie meldet euch auch von den Schulen ab. Ich werde den Nonnen erzählen, dass ich euch adoptiere. Ihr müsst dann noch eure Sachen einpacken und euch von euren Freunden verabschieden. Das wird nicht leicht.“
Leonie nickte. Doch dann schaute sie irritiert.
„Wie, eine Zofe? Nicht im Ernst eine Zofe wie aus der Vergangenheit? Und sie ist uns treu ergeben?“
Ihre Mutter lächelte. „Oh ja, es ist wirklich toll. Ein großer Vorteil, wenn man in unserer Lage ist. Ihr werdet euch daran gewöhnen. Wir haben schließlich auch einen Gärtner, einen Manager, einen Koch und einen Wächter. Sie sind uns alle treu ergeben. Schließlich habe ich sie mühevoll ausgewählt.“
Sie lächelte und Leonie überkam es einfach, dass sie grenzenlos glücklich war, einfach so, sie wollte ihre neue Familie, ihre perfekte, wunderschöne Familie in die Arme schließen und streckte ihre Hände mit den Handaußenflächen ihren Schwestern entgegen, die neben ihr saßen. Ihre Schwestern und ihre Mutter taten es ihr gleich, so schloss sich ein Kreis, ein Bund, den niemand mehr würde lösen können.
Bis das der Tod sie scheidet…

Kapitel 16

Elvira stapelte ihre Sachen in einen großen Karton. Bald würde es so weit sein, übermorgen würden sie nach Italien reisen.
Sie hatte nicht viel, was sie mitnehmen wollte, ein paar Kleidungsstücke und ein paar Bücher, die einzigen Bücher, die Elvira wirklich besessen hatte. Es waren die besten gewesen. Sie nahm ihr Poster von der Wand. Die italienische Landschaft war jetzt kein Traum mehr. Sie war Realität geworden. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Sie fuhr mit der Frau, die sie aus ihrem tristen Leben geholt hatte, die so wunderschön und klug war, nach Italien, dem Land, das sie schon immer geliebt hatte. Ihre Wünsche schienen alle in Erfüllung zu gehen. Einfach so. Was hatte sie dazu getan?
Wenn man es kritisch betrachtete, konnte man sagen, dass sie schuld daran war, denn sie hatte das Versprechen in dem Buch gelesen, als ihre Mutter es freigegeben hatte. Sie war sich jetzt sicher, dass sie es freigegeben haben musste, sonst hätte sie es vorher bestimmt entdeckt. Doch als ihre Mutter gekommen war, hatte sich alles geändert. Leute waren freundlich zu ihr gewesen, die sonst nie mit ihr gesprochen hatten.
Sie nahm ihre Brosche und das Buch vom Tisch. Sie waren der Anfang gewesen. Nein, sie waren die Brücke gewesen. Der Anfang lag sicherlich woanders. Ihre Erinnerungen an ihre Schwestern und das Haus, es war mehr ein Palast, in dem sie gewohnt hatten, als sie noch in Italien gewesen waren, waren durch und durch gut. Keine Ängste. Sie war nie allein. Immer wenn sie jemanden brauchte, war er da, doch wenn sie allein sein wollte, war sie allein. Allein zwischen Freunden.
Sie konnte es gar nicht erwarten, dass sie nach Italien flogen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise sehnte sie sich nicht so sehr auf etwas. Aber es war ja klar, sie ließ ihr Leben hier hinter sich. Sie hatte sich schon von Rosie und Martha verabschiedet, doch in der Schule hatte sie nichts gesagt. Warum auch, wer würde sie dort vermissen.
Jetzt würde aber alles anders werden. Sie würde auf eine neue Schule kommen, mit ihren Schwestern, sie würden dafür sorgen, dass sie nicht ganz allein dastand. Sie konnten vollkommen von neu anfangen.
Sie betrachtete die Brosche eingehend. Sie war eine Medici. Die hochgeachtete italienische Bänkerfamilie. Ihr Einfluss war riesig gewesen, sehr viel größer als der der Fugger, der deutschen Bänkerfamilie. Waren die Fugger wie die Medici die magische Familie gewesen?
Waren Zeus und die alten griechischen Götter und die römischen Götter Jupiter und Co auch die magischen Familien gewesen, die das Volk verehrte? Konnte man damals frei auftreten? Waren diese Götter die Urmagier gewesen? Mit denen alles anfing? Möglicherweise hatten sie sich über die Erde verteilt um zu herrschen und um auf das Volk aufzupassen.
Sie musste unbedingt ihre Mutter danach fragen. Es war so ungewöhnlich für sie, jetzt eine Mutter zu haben. Sie wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Natürlich glücklich. Doch es kam so unerwartet. Nein, das war Unsinn. Sie war glücklich. Sie suchte nur nach Nachteilen, weil sie nicht glauben konnte, dass es dieses Mal keine Nachteile geben sollte.
Ihre Mutter war nicht wie andere Frauen, sie war etwas ganz besonderes. Sie würde nicht die Vorgaben machen, die andere zu hören bekamen. Sie war toll.
Eigentlich war sie fertig. Den Rest konnte sie erst später einpacken und verabschieden musste sie sich nicht mehr. Sie konnte auch jetzt zu ihrer Mutter gehen. Sie wohnte in einer Wohnung nahe dem Waisenhaus. Sie war oft dagewesen im letzten Monat. Ihre Schwestern auch. Manchmal zusammen, manchmal getrennt. Es würde dauern, bis sie sich näher kommen würden. Doch für Elvira war der Unterschied schon jetzt groß. Es war komisch für sie auf die Personen im Flur achten zu müssen, falls es ihre Schwestern waren, denn dann bekam sie ein strahlendes Lächeln von Marie, ein freundliches Zwinkern von Linda und ein gütiges und wissendes Lächeln von Leonie. Sie hatte immer eine Anlaufstelle, wenn sie Probleme hatte. Wenn sie nicht weiter wusste, konnte sie zu jemandem gehen, der ihr helfen würde, der auch meistens eine Lösung hatte.
Als sie an der Tür zu der Wohnung ihrer Mutter klopfte, hörte sie von innen ein Scharben und Kratzen, dann öffnete jemand die Tür. Es war nicht ihre Mutter. Die Frau hatte schwarze Haare, die am Haaransatz jedoch schon leicht grau wurden. Man könnte sagen, dass die Frau hässlich war, sie hatte tiefe Falten im Gesicht und eine schiefe Nase. Trotzdem hatte sie dieses gewisse Etwas im Gesicht, in ihrem Lächeln, in ihrer Art, wie sie Elvira hineinbat. Auch sie war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Genau wie ihre Mutter.
„Elvira!“, begrüßte ihre Mutter sie erfreut. „Schön, dass du vorbeikommst. Soll ich Tee kochen?“ Immer wenn sie zu ihr kamen, kochte sie Tee für sie und sie setzten sich ins Wohnzimmer an den Tisch und unterhielten sich. Der Tisch und die Couch standen noch, auch wenn das Chaos darum herrschte.
„Entschuldige die Unordnung. Ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, hier etwas aufzuräumen.“ Während die Frau in die Küche ging um den Tee zu kochen, räumte ihre Mutter etwas Platz frei und bat Elvira sich zu setzten.
Elvira überkam ein mächtiges Gefühl der Freude. Dass sie jemals zu ihrer Mutter gehen würde und diese für sie Platz machte, hatte sie nie gedacht.
„Und, kann ich etwas für dich tun? Hast du schon gepackt?“, fragte ihre Mutter.
„Ja, ich habe schon gepackt. Eine Kiste voll. Und meine kleine Tasche. Die nehme ich dann als Handgepäck mit. Meine Schwestern haben auch nicht mehr.“
„Oh. Na, dann müssen wir euer Inventar wohl noch etwas aufstocken. Hast du dich schon verabschiedet?“
Elvira nickte. Ja, von Rosie hatte sie sich verabschiedet. Diese wusste nicht genau, ob sie sich freuen sollte, dass Elvira „adoptiert“ wurde oder nicht. Sie hatte geweint. Doch Elvira hatte es wieder mit einem Scherz abgetan. Es hatte sie berührt, dass Rosie wegen ihrem Umzug geweint hatte. Rosie war immer die einzige gewesen, die für sie dagewesen war.
Dann kam die Frau mit dem Tee wieder. Sie lächelte Elvira freundlich an.
„Du musst Elvira sein, nicht wahr?“ Diese lächelte zurück und nickte.
„Ich bin Anywa. Die…“ Sie stockte und blickte Gabriella mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht an.
„Meine Freundin. Sie wird mit uns nach Italien fahren. Sie hilft uns etwas. Außerdem kann sie sehr gut kochen.“ Elvira begriff. Anywa war die Zofe, von der ihre Mutter gesprochen hatte. Komisch, dass sie sie bei ihren Besuchen hier nie gesehen hatte. Vielleicht war es ihr Job unerkannt zu bleiben, sich im Hintergrund zu verhalten.
Sie ging wieder und Elvira kam auf den Grund ihres Besuches zurück.
„Wir sind Nachfahren der berühmten Bänkerfamilie Medici, nicht wahr?“, fragte sie, und als Gabriella aufmunternd nicke, fuhr sie fort:
„Und die Medici war eine magische Familie in Italien?“ Wieder nickte ihre Mutter.
„Waren die Fugger in Deutschland ungefähr so wie die Medici? Sie waren ja auch eine Bänkerfamilie mit einem riesigen Einfluss.“ Gabriella lächelte.
„Nein, die Fugger waren keine Magier. Man kann sehr viele ungeklärte und Aufmerksamkeit erregende Ereignisse in der Geschichte mit den magiekundigen Familien erklären, doch nicht alle. Die Medici waren mehr als die Fugger.“ Elvira fragte sofort nach:
„Welche Aufmerksamkeit erregende Ereignisse kann man mit Magie erklären?“ Wissbegierig schaute sie ihre Mutter an.
„Nun ja, du hast doch bestimmt schon mal von Atlantis gehört. Oder zum Beispiel die Französische Revolution. Wie glaubst du hätte man sonst die Bastille stürmen können?“ Auf Elviras ungläubige Miene fuhr sie fort.
„Oh ja. Da hatten mehrere Familien sich zusammengetan, die etwas Besseres erreichen wollten als die Monarchie damals ohne Menschenrechte und ohne Grundgesetzt. Auch die Revolution von 1848 und die Freiheitsbewegungen in den umliegenden Ländern wurden von uns gesteuert. Wir hatten auch Leute in Preußens Regierung, die steuerten, dass Preußens König Wilhelm sich nicht übernimmt. Wir hatten unsere Hand im Spiel, damit Deutschland endlich ein Bund wurde. Damals konnte man noch viel einfacher eingreifen als jetzt.“
Es soll Atlantis gegeben haben? Das war doch unmöglich. Atlantis war nur eine Legende. Nichts weiter.
„Atlantis?“, fragte sie.
„Ja, Atlantis. Es gibt eine alte Erzählung, nicht alles davon wird wahr sein, doch einiges davon mit Sicherheit. Die alten Urmagier wohnten in Atlantis. Sie hatten die Erde geformt und sich selber Atlantis geschaffen, ihr Reich. Dort lebten sie, bis ihr Frieden gestört wurde. Die Menschen, die sie geschaffen hatten, waren gewalttätig. Das färbte auf die Götter ab, denn sie hatten die Menschen aus ihrem Blut geschaffen. Atlantis war eine Stadt, ein Reich, dass über den Wolken schwebte. Einmal holte einer der Götter einen Menschen auf Atlantis um ihn zu erforschen, dieser Mensch erzählte dann seine Erfahrungen und Erlebnisse weiter, weil der Gedächtniszauber nicht funktioniert hatte. Daraus entstand die griechische Mythologie. Die ganzen Gottheiten, die die Griechen verehrten, waren von Atlantis. Der Olymp soll Atlantis gewesen sein.
Um zu verhindern, dass die Gottheiten sich gegenseitig bekämpfen, hat ein kluger Gott beschlossen die Götter aufzuteilen und selber auf die einzelnen Bezirke, also jetzt Länder, aufzupassen, den Menschen bei der Entwicklung zu helfen, damit irgendwann die Gewalt aufhören wird und die Götter wieder in Frieden auf Atlantis leben können. Bevor sie Atlantis verließen, haben sie Atlantis versenkt, damit keiner je Atlantis besetzten könne.
Daraus sind die magischen Familien entstanden. Wenn wir also die Legende für richtig erklären, sind wir Nachkommen der griechischen Götter. Allgemein wird vermutet, dass es so etwas wie Urmagier zwar gibt, dass sie aber nicht die Funktionen von den Griechen hatten.“
Wow. Atlantis. Stimmte die Legende? Dass sie von den griechischen Göttern abstammten? Wenn ja, warum erinnerten sie sich dann nicht daran? Müsste man dann nicht die Gewissheit haben, dass sie Götter waren?
„Der Legende nach gibt es jetzt also die Magier, die direkt von den Göttern abstammen und die, die indirekt von den Göttern abstammen. Die direkten haben größere Mächte als die indirekten. Die Zweiklassengesellschaft. Die gibt es immer, man kommt nicht davon weg, noch nicht einmal wir.
Ja, das stimmte. Geschichtlich gesehen gab es immer Adel und Proletarier, Großgrundbesitzer und Leibeigene, Schwarze und Weiße, doch auch in Büchern wurde es immer wieder aufgegriffen, in Harry Potter gab es zum Beispiel Reinblüter und Schlammblüter, in einem anderen Buch Erstgewesene Ältere und Zweitgewesene. Natürlich musste es auch bei ihr so kommen.
Sie fragte sich, ob sie zu den oberen oder den unteren gehörte, zu denen die direkt von den Göttern abstammte, immer vorausgesetzt, dass es sie wirklich gab, oder ob sie indirekt von ihnen abstammte. Aber machte das einen wirklichen Unterschied?
Gab es nicht irgendeinen Weg endlich davon wegzukommen, dass endlich alle zusammen leben konnten, egal welche Hautfarbe sie haben, welcher Religion sie angehörten, wie reich sie waren und von wem sie abstammten? Rassismus und alle anderen Arten von Trennung zwischen den Menschen waren so unnötig, so schrecklich. Das beste Beispiel dafür war der Rassismus in Amerika. Konnte das nicht irgendwann enden? Konnten sie nicht irgendwann eine Lösung finden, damit die Menschen sich endlich akzeptierten? Eine andere Hautfarbe und andere Kultur war doch nur ein Zeichen für einen anderen Lebensraum, indem sie aufgewachsen waren. Kein Zeichen, dass sie nicht in andere Kulturen passten oder gar etwas Schlechteres waren. Sie waren biologisch genau gleich, und auch innerlich waren sie gleich gebaut. Sie liebten –auf jeden Fall meistens- konnten hassen, Schmerz empfinden, alles. Das machte sie aus, dass sie Menschen waren. Warum mussten sich dann andere als etwas Besseres denken?
Leonie hätte dafür bestimmt eine Antwort gehabt. Sie kannte die menschliche Psychologie. Sie dagegen nicht. Es interessierte sie auch eigentlich wenig, sie fand es spannender die Natur mit ihren Naturgesetzten zu betrachten, zu forschen und Neues zu entdecken und zu entwickeln.
„Und Elvira? Wie denkst du über unseren Umzug? Bist du bereit? Sonst können wir auch noch länger bleiben, wenn du mehr Zeit brauchst. Es würde gar nichts ausmachen.“ Elvira lächelte glücklich. Noch nie hatte sich jemand so sehr um ihr Wohlergehen gesorgt.
„Nein, ich brauche nicht noch mehr Zeit, ich bin bereit. So bereit wie noch nie. Ich freue mich auf Italien. Ich habe schon immer von Italien geträumt. Jetzt werde ich endlich hinfahren.“ Elvira blickte verträumt auf ihre Tasse. Ja, sie würde Italien kennenlernen, Venedig, Florenz, Siena, Rom. Sie konnte reisen wohin sie wollte und wann sie wollte. Sie hatten genug Geld. Und sie hatten in jeder Stadt einen Wohnsitz. Einen tollen Palast in Florenz. Sie würde zu gerne mal da Vincis Stadt sehen. Hier hatte er gearbeitet, seine fantastischen Werke erdacht, die Mona Lisa und noch so viele andere Damen porträtiert, gemalt und gedacht.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen durch Anywa, ihre Zofe, die ins Zimmer getreten kam.
„Verzeihung, Gabi, könnte ich sie einen Moment mal sprechen, es geht um das Küchenmobilar. Ich bezweifle, dass sie das alles mitnehmen wollen.“ Ihr schwarzes Haar wehte wie von einer unspürbaren Brise geweht, leicht um ihre Schultern. Es war mattschwarz. Ein solches Schwarz hatte Elvira noch nie gesehen, normalerweise war das Schwarz glänzend, wie bei ihr. Sie fragte sich, ob das Haar wohl gefärbt war, der grauweise Haaransatz wäre dadurch zu erklären, und doch fand Elvira, dass diese Haare zu ihr passten.
Gabriella warf einen schnellen Blick auf ihre Tochter. Elvira hatte schon begriffen, es wäre besser, wenn sie jetzt gehen würde, weil ihre Mutter und Anywa noch mit dem Umzug beschäftigt waren.
„Ich bin schon weg. Ich wollte sowieso noch zu Marie gehen und gucken, wie weit sie ist.“ Sie stand auf und stellte die Teetasse auf die Anrichte. Ihre Mutter wollte höflich widersprechen, doch dann ließ sie es bleiben, sie wusste, dass Elvira es ihr nicht übel nahm, wenn sie nicht widersprach, da beide genau wussten, worum es ging, weitere Worte waren nicht nötig, warum sollte sie höflich umschreiben, was sie doch sowieso nicht wollte? Es herrschte ein Einverständnis zwischen ihnen, was nur zwischen Mutter und Tochter existieren konnte.
„Auf Wiedersehen, Anywa.“, sagte sie höflich, nickte ihr zu, lächelte ihrer Mutter zu und verließ die Wohnung.
Auf dem Weg zurück zum Waisenhaus dachte sie weiter über Anywa nach. Vielleicht sollte sie ihre Schwestern nach ihr fragen. Irgendetwas kam ihr so komisch an der Frau vor. Sie konnte nicht das sein, was sie vorgab zu sein. Sie war nicht einfach eine Zofe. Sie war mehr. Diese Ausstrahlung war so selbstbewusst und so natürlich. Sie schien völlig zufrieden mit sich zu sein.
Sollte sie jetzt zu Marie oder lieber zu Leonie? Sie wollte ja eigentlich zu Marie, doch Leonie wusste bestimmt mehr über Anywa und konnte ihr besser helfen. Sie hatte es Marie ja auch nicht versprochen, sie konnte nachher noch zu ihr gehen, jetzt war erst einmal Leonie dran. Obwohl, eigentlich war sie dran, wenn man es so formulierte, schließlich tat sie Leonie ja keinen Gefallen, sondern sich selber. Sie war egoistisch. Richtig egozentrisch. Das hatten die Kinder im Haus schon richtig erkannt. Sie war eingebildet. Und wusste es noch nicht einmal. Richtig schrecklich. Dass es so etwas gab. Marie war da fiel netter, sie dachte immer zuerst an andere. Sie tat allen Leuten einen Gefallen, wenn sie konnte. Sie hatte sogar auf einem Ausflug mit ihnen eine Jacke mitgenommen, eigentlich war es ganz warm, nur weil die Möglichkeit bestand, dass einer von ihnen sie brauchen würde. Elvira hatte diese Geste berührt. Sie sollte also jetzt doch zu Marie gehen, sie wollte sich ändern und nicht diese egoistische Göre bleiben, die sie jetzt war. Doch das würde höchstwahrscheinlich nicht hinhauen. Sie wagte zu bezweifeln, dass sie sich wirklich ändern konnte.
Doch wie der Zufall es wollte war Leonie bei Marie im Zimmer und half ihr Packen.
„Oh, hallo Elvira. Ich dachte du wolltest zu unserer Mutter gehen?“ Leonie hatte immer noch ihre Probleme mit Elvira. Weil Elvira auch eine Freundin von Marie war. Doch sie wollte die einzige Freundin sein. Auch Leonie war ziemlich egoistisch. Doch welches Recht nahm sie sich da raus, andere zu beurteilen? Sie, die selber so ein egoistisches Mädchen war konnte andere nicht beurteilen, das stand ihr doch nicht zu?
„Hi Marie, Hi Leonie. Ja, ich war bei unserer Mutter, aber sie muss noch packen. Da wollte ich sie nicht stören, denn Anywa hilft ihr ja.“ Elvira wollte wissen, wie ihre Schwestern darauf reagieren würden, dass sie Anywas Namen mit einbringen würde. Doch Marie schaute nur gedankenverloren aus dem Fenster, ihre Hände zitternden.
„Marie, es ist echt schwer sich zu konzentrieren, wenn du solche Gefühle hast.“, sagte Leonie tadelnd zu Marie, dann lächelte sie und nahm Marie an der Hand.
„Ich fühle auch so, keine Sorge. Nicht nur, weil ich eine Empatin bin.“
„Es ist einfach so toll, ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich endlich eine Familie habe, endlich nicht mehr allein bin, dass ich nach Italien umziehe und solche tollen Erinnerungen an meine Kindheit habe. Es ist so… unglaublich, unfassbar.“ Sie strahlte in die Runde. Elvira lächelte zurück. Sie brauchte nicht zu fragen, was Marie gefühlt hatte. Liebe. Zu ihren Schwestern. So stark, dass sie am liebsten durch das Zimmer laufen würde, deswegen hatten ihre Hände gezittert. Sie fühlte sich genauso.
Doch da Leonie auf ihre Andeutung nicht reagiert hatte, versuchte sie es noch einmal ganz direkt:
„Hast du Anywa schon einmal gesehen?“ Sie beobachtete Leonie. Sie blickte nicht verwundert. Wie auch, eine Empatin zu überraschen dürfte wahrlich schwer werden.
„Ja, natürlich, es ist die Freundin unserer Mutter.“ Bei den letzten Worten blickte sie Marie an und strahlte. Die vier Schwestern waren so unterschiedlich, doch was sie verband war einfach die Liebe zueinander und zu ihrer Mutter.
„Sag nicht, du hast sie noch nie gesehen?“, fuhr Leonie fort. Elvira senkte beschämt den Kopf. Alle kannten Anywa, nur sie hatte sie heute erst kennengelernt. Deswegen wusste Anywa auch wer sie war. Die letzte Schwester.
„Doch.“ Gestand sie und erwartete eine spöttische oder zumindest tadelnde Erwiderung, doch nichts dergleichen passierte.
„Na, eigentlich ist das nicht weiter verwunderlich. Ich habe sie auch nur dank meiner Kräfte gespürt. Obwohl ich das Gefühl habe, dass sie Teile ihrer Gefühle vor mir verbirgt. Naja, auf jeden Fall habe ich ihre Anwesenheit nur deswegen wahrgenommen. Sie ist ja auch die Zofe unserer Mutter, ich denke deswegen kann sie sich so gut in den Hintergrund spielen.“ Ja, in den Hintergrund spielen. Doch das passte nicht zu ihrem Auftreten. Selbstbewusst, von sich selber überzeugt, solche Leute gehören nicht in den Hintergrund, normalerweise stellen sie sich in den Mittelpunkt.
„Ich finde sie etwas merkwürdig. Ich finde sie passt nicht in das Milieu. Sie als Zofe im Hintergrund, ich finde das passt nicht.“ Leonie nickte nachdenklich.
„Ja, da hast du recht. So allein vom Auftreten her denke ich auch, dass sie eigentlich woanders hingehört. Aber wenn du die Gefühle noch dazu kennst, das ist wie ein sechster Sinn, alles wird dadurch viel klarer, wie eine Brille für einen Kurzsichtigen, gelegentlich auch wie die Musik unter einem Stummfilm, dann kannst du noch ganz andere Sachen kennen. Für sie ist das okay, sie ist gerne Zofe, also, sie mag ihre Stellung. Es ist etwas schwer auszudrücken, ich kann das nicht so gut beschreiben. Auf jeden Fall, ihre Gefühle rechtfertigen das wieder, so gehört sie wieder da hinein.
Naja, wo wir schon bei meinen Kräften sind, habt ihr eure noch einmal eingesetzt? Ich kann sie ja nicht einstellen und abstellen, meine ist immer da.“
Elvira dachte nach. Ja, Leonies Kraft war für sie wie ein sechster Sinn. Für sie auch? War die Magie wie ein Sinn von ihr? Nein, bei ihr war das nicht so. Sie hatte ihre Kraft nicht weiter eingesetzt. Sie wehrte sich irgendwie dagegen, in der Luft zu schweben entsprach nicht ihrer Vorstellung der Welt. Für sie dürfte so etwas nicht existieren.
Sie schüttelte nur leicht den Kopf. Marie verstand und erzählte Leonie von ihrer Fähigkeit. Sie war begeistert. Doch Elvira hörte nur mit halbem Ohr hin. Was war Magie eigentlich wirklich? Lag es in ihrem Blut? Ihrem Bewusstsein? In ihren Genen? War Magie etwas in ihrem Verstand, in ihrem Willen, das zu ihr gehörte und sie nichts dagegen tun konnte oder war Magie eine Art Geschenk, etwas, dass man einfach geben und nehmen konnte, wann man wollte?
Konnte sie die Magie einfach ignorieren, sie einfach nicht einsetzten, obwohl sie doch zu ihrem neuen Leben gehörte? Sie hatte eine Familie bekommen, Freunde, Liebe … und Magie. Die Magie gehörte jetzt dazu. So unwahrscheinlich es klingen mag, sie war Magiekundig und musste damit klar kommen.
Für Marie war ihre neue Fähigkeit ein Traum. Sie konnte sich mit den Tieren verständigen, mit ihnen reden, ihnen helfen. Natürlich. Und Linda fand es auch toll, es passte zu ihr, sie war schon immer sportlich gewesen. Für alle war ihre Fähigkeit eine Freude, eine Erweiterung ihrer Fähigkeiten, doch was war ihre Magie für sie? Lästig, merkwürdig und unverständlich. Sie passte da nicht hinein. Sie passte nicht zu den Schwestern. Sie konnte sich auch nicht den Schwestern anvertrauen, sie hatte Angst damit ihr Einverständnis zu stören. Ihnen ging es so gut jetzt, konnte sie einfach ihre schlechten Gedanken da einfließen lassen und damit alles kaputt machen? Doch konnte sie unglücklich leben, nur weil sie sich nicht traute ihre Gedanken preiszugeben? Konnte sie das tun, oder nicht, diese Fragen quälten Elvira. Sie wusste nicht weiter und hatte keinen, den sie sich anvertrauen konnte, war der Ansicht, dass keiner sie verstehen würde.

Linda summte fröhlich ein Lied, ein Lied, dass sie schon lange kannte. … Oops, I did it again. Von Britney Spears.

I think I did it again… Oops, I did it again, I played with your heart, gonna lost in the game, Oh baby, baby.

"All aboard"
"Pretty, before you go, there's something I want you to have"
"Oh, it's beautiful, but wait a minute, isn't this...?"
"Yeah, yes it is"
"But I thought the old lady dropped it into the ocean in the end"
"Well baby, I went down and got it for you"
"Oh, you shouldn't have"

Oops!...I did it again to your heart
Got lost in this game, oh baby
Oops!...You think that I'm sent from above
I'm not that innocent

Sie kannte das Lied schon auswendig. Ausdrucksstark, aber sie fand den Rhythmus am besten. Außerdem war es eines der Lieder, das Britney aufgenommen hatte bevor sie auf die falschen Bahnen geraten war, Drogen, Zigaretten, Alkohol, Glatze, Piercings und die Vernachlässigung ihrer Kinder.
Alle behaupteten, dass sie so unter Druck steht, weil sie schon so früh so erfolgreich geworden war und dass jetzt eine Art Hilferuf war. Doch Linda konnte sie nicht verstehen, warum sie dann unbedingt ihre Kinder vernachlässigt, die armen Kinder können schließlich nichts dafür. Sie taten ihr leid. Sollten sie als magische Familie nicht genau so etwas verhindern? Dass unschuldige Kinder vernachlässigt werden und missbraucht werden, so etwas schreckliches Kinder anzutun war das Letzte. Wenn sie erst einmal etwas zu sagen hatte, würde sie durchsetzten, dass dagegen etwas getan wurde. Doch wem sollte sie etwas vorschlagen, alle Autorität von oben war jetzt unter sie gerückt, sie waren diejenigen, die etwas tun mussten, sie konnte nicht einfach Vorschläge machen und sich dafür einsetzten, dass andere diese ausführen, sie musste selber handeln.
Das gefiel ihr. Sie hatte endlich Einfluss auf die Welt und konnte etwas tun um sie zu verändern, sie war nicht mehr hilflos.
Marie würde ihr sicher helfen, denn sie war ja ein Naturfreund, sie konnten zusammen für Kinder- und Umweltschutz eintreten.
Leonie würde sie sicher auch unterstützen. Aber Elvira auch? Bestimmt, wenn sie sie nett fragte, half sie ihnen bestimmt. Warum auch nicht. Sie war zwar den Menschen und der Natur nicht sehr nahe, aber sie war doch ihnen, ihrer Familie nahe und würde etwas für sie tun? Elvira war die wohl schwierigste Schwester. Nein, so durfte sie nicht denken, Elvira war vielleicht kommunikativ die schwerste, aber sie war auch die Intelligenteste und sie kam ja auch gut mit ihr klar. Sie durfte ihre Schwestern nicht untereinander vergleichen, denn jede war einzigartig, wunderbar und klug. Sie ergänzten sich gegenseitig, das war ihre Bestimmung.
Doch sie hatte jetzt genug nachgedacht, sie musste irgendetwas tun. Ihre Sachen waren gepackt, ihr Zimmer fertig, sie hatte sich verabschiedet, ihr blieb nichts mehr zu tun.
Sie sprühte nur vor Energie, immer, wenn sie gute Laune hatte war sie aktiv, doch jetzt hatte sie so gute Laune, dass sie es kaum ertrug still zu sitzen. Auf der anderen Seite hatte sie aber auch viel zu bedenken, jetzt wo sie Schwestern hatte. Ihre Erinnerungen an ihre Kindheit waren Stück für Stück zurückgekommen, es waren nicht viele, aber wunderbare. Ihre Mutter, eine Schönheit, ein wahres Wunder, ihre Schwestern, immer für einander da, ihr Vater, ein Fels in der Brandung. Obwohl sie auf ein Mal Mutter und Schwester bekommen hatte, empfand sie den Verlust des Vaters intensiv. Er war toll gewesen.
Linda nahm ihre Laufschuhe und verließ das Haus. Würde sie im Park eben etwas laufen gehen, dabei konnte sie gut nachdenken und sich aktiv betätigen.
Was auch an ihren Erinnerungen gehangen hatte war die Sprache Italienisch. Es war toll gewesen ihr etwas eingerostetes Italienisch zu sprechen. Sie konnte sich problemlos mit ihren Schwestern und ihrer Mutter auf Italienisch unterhalten.
Sie streckte ihre Beine und merkte wie gut es ihr tat. Nichts war vergleichbar mit dem Erlebnis ihre langen muskulösen Beine zu strecken und endlich schnell zu laufen, sodass sie den Wind spürte, der um ihre nackten Waden strich. Ihre Knie erholten sich von dem langen Beugen und es tat so gut. Dieses Gefühl konnte sie nicht anders erreichen, da konnte sie sich entspannen wie sie wollten, mit Schlafentzug endlich ins Bett gehen und doch kam dieses Gefühl der Entspannung erst wenn sie laufen ging.
Bewundernd schauten ihr ein paar Fußballspielende Jungs nach, doch das war für Linda nichts neues, sie war es gewöhnt, dass die Leute ihr hinterher starrten. Viel schlimmer war es, wenn sie ihr Haar offen hatte, alle blickten dann auf das Licht, dass sich angeblich so toll darin spiegelte oder brach, sie wusste es nicht, hatte weder Ahnung von Physik oder Biologie noch konnte sie durch die Augen der anderen sehen. Sie konnte jeden Jungen haben, den sie wollte.
Klar, das hatte sie auch schon schamlos ausgenutzt, wie damals bei Robert, aber das war ja ihre persönliche Waffe, warum auch nicht.
Ach ja, Robert. Damals hatte sie gedacht, dass sie ihn lieben würde, aber das war Unsinn. Schließlich hatte sie sich tränenreich von ihm getrennt. Das war dramatisch gewesen damals. Linda lachte.
Sie hatte ihre zahlreichen Beziehungen nie so ernst genommen. Es waren für sie nur Spiele gewesen, Spiele um auszutesten, wie weit sie gehen konnte. Na, für die Jungen wahrscheinlich nicht.
Nicht alle nahmen das so ernst. Wie Nadja, ihre Freundin. Sie litt ziemlich unter der Trennung von ihrem Freund. Sie hatte nur noch schwarze Sachen an und hatte ziemliche Depressionen. Linda hatte versucht sie zu trösten, doch irgendwie schien das nichts zu bringen. Dann hatte Nadja sie auch noch beleidigt, jetzt nahm Linda das nicht mehr so ernst. Sie hatte keine Lust auf solche übertriebene Trauer, so toll war der Kerl ja auch nicht gewesen. Würde Nadja ihre Hilfe wirklich brauchen, würde sie sie ja nicht von sich wegstoßen, oder? Hilfsbedürftige Menschen verhielten sich anders. Wahrscheinlich kannte Linda sie einfach nicht gut genug um sie zu verstehen.
Sie zog ihr Tempo nochmals an. Sie spürte gerne ihre Grenzen, dann wusste sie ganz genau woran sie war. Dann konnte sie sich einschätzen und an sich arbeiten ohne sich etwas vormachen zu müssen.

Morgen fahren wir endlich nach Italien, ich kann es kaum erwarten. Elvira, Linda und Marie sind so toll, noch viel toller seitdem ich meine Erinnerungen wiederhabe. Sorelle. Schwester. Auf Italienisch.

Heute ist es soweit. Ich kann nicht mehr schlafen. Endlich. Ich will unbedingt dahin. Ein neues Kapitel meines Lebens aufschlagen. Schließlich können wir ja noch oft zurück, ich beende mein Leben hier nicht völlig. Wann ist es endlich soweit?
Höre ich da ein Auto vorfahren? Madre, Mutter auf Italienisch, sie wollte mit einem Auto kommen und unsere Sachen abzuholen. Verabschiedet haben wir uns schon gestern. Das Waisenhaus werde ich bestimmt nicht vermissen. Ich höre schon Linda aufstehen, ich mache mich besser fertig, es geht los.

Kapitel 17

„Oh, das sieht ja toll aus!“, Marie war begeistert von dem kleinen Häuschen, weiß, direkt am Strand. Hinter dem Häuschen konnte man eine Art Wald erkennen, vor dem Häuschen lag der Strand im Anschluss das Meer mit dem Kristallblauen Wasser. Weiter hinten war ein riesiges Felsplauteau zu erkennen. Das Häuschen hatte viele große Fenster, darunter riesige Dachfenster.
Das Haus hatte Stil.
Ihre Mutter hatte ihre Sachen schon herbringen lassen, sie standen auf der kleinen Veranda, die das Haus umgab, direkt vor der Tür, jedoch nicht so, dass sie den Eingang versperren würden.
Gabi schritt darauf zu und öffnete die Tür, die nicht abgeschlossen war.
Obwohl es draußen sehr warm war, war es im Haus angenehm kühl.
Leonie blickte sich um. Sie stand in einem Flur, hell, mit hellem Parkettboden. Links war die Tür zur Küche, eine Anrichte trennte sie vom Wohnzimmer. Alles war eingerichtet mit hellen Möbeln, Topfpflanzen standen in den Ecken und im ganzen Haus war das Licht durch riesige Fenster und Spiegel optimal verteilt. Leonie bewunderte den Stil von dem Haus. Klein, hell und kühl. Angenehm.
Eine kleine Treppe führte zum ersten Stock. Dort befanden sich nur vier Schlafzimmer und ein Bad. Das mussten ihre Zimmer sein. An den Türen waren Namensschilder angebracht, Kaligrafie zeigte ihnen, wer in diesem Zimmer leben sollte. Eine Seite Leonies Zimmer war verglast. Dort stand ihr Bett. Außerdem gab es einen Schrank und eine Frisierkommode mit bodenlangem Spiegel, einen Schreibtisch und mehrere kleine Regale. Auch hier war der Stil wie unten im Haus, alles war hell gehalten. Doch es war trotz des kühlen Stils richtig angenehm, es machte einem leicht sich hier einzurichten.
Wunderbar war es hier. Man fühlte sich so frei.
Leonie hielt es in ihrem Zimmer nicht mehr aus, sie musste wissen, wie ihre Schwestern ihre Zimmer fanden. Sie konnte nicht allein sein, sie identifizierte sich größtenteils über andere, das war ihr klar.
Als sie im Flur stand, sah sie zum ersten Mal die große Frage, die sie sich scheinbar schon lange stellte, unbewusst. Sie hatte drei Türen zur Auswahl, durch welche sollte sie gehen, welche Schwester sollte sie vorziehen, welche sollte sie wählen? Sie blickte sich im Kreis um, die Treppe führte zu ihrer Mutter, die drei Türen zu jeweils einer Schwester. Sollte sie sich einfach für ihre Mutter entscheiden, den neutralen Pol? Doch würde sie der eigentlichen Frage damit nicht einfach aus dem Weg gehen? Welche der Schwestern war für sie die beste, die netteste, die, die sie vorziehen würde?
Marie? Die, die sie immer beschützen wollte? Doch durfte sie sich überhaupt für eine entscheiden, durfte sie einfach beschließen, wen sie am meisten mochte?
Sie wollte zurück in ihr Zimmer, doch sie wusste dass sie eine Entscheidung fällen musste, sie brauchte jetzt irgendjemanden der sie auf den richtigen Weg führte, der ihr half das richtige zu machen. Noch nie hatte sie an sich so gezweifelt, sie hatte ihre Entscheidungen immer aus freiem Herzen treffen können. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Was war richtig zu tun?
Der Druck lastete auf ihr, wie er nie auf ihr gelastet hatte. Schwestern zu haben, hatte auch Nachteile. Eine Familie setzt einen unter Druck, sie verpflichtet. Sie war nicht frei, auch wenn das Haus den Eindruck erwecken wollte.
Warum war in ihren Erinnerungen nie diese Frage aufgetaucht? Warum hatte sie sich nie damit beschäftigt, wer am nettesten war? Dass sie diese Erinnerungen hatte machte alles schwer. Sie hätte sich bestimmt für Marie entschieden, doch jetzt hatte sie erfahren, dass sie als älteste immer alle geliebt hatte, dass sie nie verglichen hatte. Sie war für alle dagewesen. Gleichviel. Warum stellte sich jetzt die Frage? Was war anders? Die Vorgeschichte ihrer Begegnung. Doch müssten ihre Erinnerungen nicht diese Erfahrung überwiegen? Nein, denn die Erinnerungen kamen ihr nicht wahr vor, nicht realistisch, nicht die, die sie selber gemacht hatte. Dazu hatte sie viel zu lange ohne sie gelebt, in dem Glauben, keine Magie zu haben.
Welche Schwester? Marie? Elvira? Linda?
Sie spürte eine leichte Berührung an ihrer Schulter und wirbelte herum. Linda stand hinter ihr und lächelte.
„Leonie, wir helfen dir.“, sagte sie. Erleichterung durchströmte Leonie, doch nicht lange. Linda hatte ein Gespür dafür, anderen Menschen zu helfen, sie wusste wann andere leiden.
Dann spürte sie die Erkenntnis. Ja, die Familie war eine Verpflichtung, aber was sie gab, bekam sie vierfach zurück.
„Sieh mal, ich habe dir deine Kiste mitgebracht, ich dachte du würdest dich jetzt auch einrichten wollen.“ Linda hatte also nicht das gemeint, was sie gedacht hatte. Oder doch? Sie hatte das Gefühl, dass Linda ihre erste Aussage sorgfältig überdacht hatte, damit sie den richtigen Eindruck bekam. Das Gefühl geliebt zu werden war stärker als je zuvor. Das war es, war ihr gefehlt hatte, jemanden zu haben der sie liebte. Selbst wenn es egoistisch war, sie genoss es, endlich von Menschen umgeben zu sein, denen man nicht immer nur geben musste sondern die einem Liebe gaben, egal was sie getan hatte, wie sich fühlte.
Leonie stellte ihre Karton ab und folgte Linda in ihr Zimmer. Es war eigentlich genau so wie Leonies Zimmer, bloß das die verglaste Wand ihres Zimmers in eine andere Himmelsrichtung gerichtet war.
Linda öffnete die Kiste und nahm ein paar Hosen und T-Shirts heraus.
„Du hast deine Kleidung nach oben gelegt? Über den Rest?“
„Ja, ich… ich war strategisch noch nie so ne Leuchte.“, rechtfertigte sie sich und lachte.
„Es ist ja auch noch nie etwas kaputt gegangen.“ Linda öffnete den Schrank um einen Platz für ihre Hose zu suchen, doch etwas anderes fiel ihr ins Auge.
Ein weißer, heller, scheinbar leuchtender Stoff auf einem Ständer zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„Wow, was ist das denn?“ Sie streckte ihre Hand aus um den fremdartigen Stoff zu berühren, doch als sie mit den Fingerkuppen das Gewand berührte änderte es Farbe und Konsistenz, wie ein Chamäleon. Ein dunkelblaues Kleid und schwarze hohe Stiefel waren nun auf dem Ständer.
Linda blickte Leonie an. Diese zuckte mit den Achseln. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Gut, dann konnten sie ihre Mutter fragen, was das für ein komisches Gewand war.
Es berührte sie irgendwie merkwürdig. Als ob jemand extra hier das Gewand drapiert hätte, damit sie es finden. Doch das konnte ja nicht sein, ihre Mutter hatte das Haus doch bestimmt von einem Makler oder Eigentümer übernommen, hier konnte nichts Magisches passieren.
„Na, wie gefällt euch das Haus?“ ertönte die Stimme ihrer Mutter in Richtung des Flurs.
„Es ist toll.“, sagte Leonie schlicht. Ihre Mutter kam zu ihnen ins Zimmer und betrachtete Lindas Kleid. Es bestand kein Zweifel mehr daran, dass jemand wollte, dass Linda es fand und berührte. Das blaue Kleid passte so perfekt zu Linda, dass es für niemanden sonst bestimmt sein konnte.
„Ach, ihr habt auch Kleider?“, fragte ihre Mutter lächelnd.
„Was sind das für Kleider?“, platzte es aus Linda heraus, während sie neugierig noch immer das Kleid betrachtete.
„Es ist ein ganz besonderer Stoff. Man nennt ihn auch Variabile. Es ist ein sehr seltener Stoff. Er wir gewonnen, wenn man eine ganz bestimmte Katzenrasse auf eine komplizierte Art aufzieht, sie erfordert viel Geld, Magie und Geduld, und ihr Fell an einem ganz bestimmten Tag, nämlich dem Tag, an dem sie genau 4 ein halb Jahre alt werden, abnimmt, wenn die Sonne im Zenit steht. Ihr könnt euch ja vorstellen, dass dieser Stoff deswegen äußerst selten und richtig teuer ist. Ihr könnt euch froh schätzen, dass ihr solche Kleider habt.“ Lächelnd blickte sie ihre Töchter an.
„Na, wollt ihr mir nicht zeigen, wie wunderbar ihr darin ausseht? Zieht sie an, na los.“
Linda gehorchte und Leonie blickte ihre Mutter fragend an. Hatte sie auch ein Kleid? Doch Gabriella schien davon überzeugt zu sein, also ging sie in ihr Zimmer.
Als sie ihren Schrank öffnete, leuchtete auch ihr ein solches Kleid entgegen. Sie berührte es, gespannt was passieren würde.
Das Kleid färbte sich blutrot. Hochhackige Schuhe kamen und eine Kette, Gold und wunderschön war über dem Kleid. Ehrfürchtig strich sie über den Stoff. Er fühlte sich steif an. Genau so hatte sie sich früher die Gewänder von Prinzessinnen und Königinnen vorgestellt. Das wesentliche hatte Gabriella nicht gesagt, sie hatte nicht gesagt was diese Kleider waren und wie sie reagierten. Konnte es sein, dass sie sich der Laune und den Wünschen und Träumen der Träger anpassten?
Sie legte ihre eigene Kleidung ab und zog das Kleid an. Vorsichtig, damit sie es nicht knitterte. Es war wunderschön. Ein weiter Rock vertuschte ihre stämmigen Beine, eine sehr enge Taille betonte ihre Hüfte. Die Ärmel waren weit ausgeschnitten und zu lang, sodass sie ihre Hände darin verstecken konnte. Sie zog die Kette und die Schuhe an und trat damit hinaus auf den Flur. Im gleichen Augenblick traten auch ihre Schwestern aus ihren Zimmern auf den Flur, der Anblick war überwältigend. Marie in dem Kleid komplett aus hellblauer, leicht türkisen Seide, dass weich um ihre kleine Figur fiel sah toll aus, genau wie Elviras schlichtes weißes Kleid mit den Ballerinas.
Ihre Ahnung schien sich bestätigt zu haben, denn die Kleider schienen den Charakter ihrer Träger widerzuspiegeln.
„Wow.“, sagte Linda nur. Auch ihre Mutter war beeindruckt.
„Meine Töchter. Wahre Schönheiten.“ Sie wandte sich ab, doch Leonie meinte eine Träne in ihrem Augenwinkel gesehen zu haben.
Plötzlich hatte sie das Verlangen, das Kleid wieder auszuziehen. Auch wenn es wunderschön war, es war falsch, dass ihre Mutter deswegen traurig war. Es musste unheimlich schwer für sie sein. So lange Zeit war sie allein, ohne ihren Mann, den sie im Stich lassen musste, und ohne ihre Töchter, denen noch nicht einmal ihre Erinnerungen an die glückliche Zeit mit ihr blieben.
„Leonie!“, sagte Elvira verwundert. „Was ist mit deinem Kleid passiert?“ Leonie blickte an sich herunter. Es stimmte, ihr Kleid hatte sich verändert. Es war noch immer blutrot, aber die goldenen Borten waren einem schwarzen, komplizierten Muster gewichen. Außerdem war es dunkler gestaltet, Leonie konnte sich denken, was passiert war, der Stoff hatte sich ihrer Gefühlsschwankung angepasst.
„Ja, dieser Stoff passt sich den Gefühlen an.“, antwortete ihre Mutter auf die Frage, sie sah wieder vollkommen normal aus.
„Es kann interessant sein zu beobachten, wie er sich verändert.“ Sie lächelte. „Na, ich geh dann wieder nach unten und räume weiter ein. Anywa müsste auch bald kommen. Ruft mich, wenn ihr Hilfe braucht oder Fragen habt.“ Sie lächelte weiterhin.
Es war fast komisch, wie lange und ausdauernd sie lächeln konnte. Es war Leonie noch kaum aufgefallen, aber jetzt… Dauernd schien sie sie anzulächeln, es war ja fast unheimlich.
Leonie lächelte auch. Komisch. Das Lächeln war auch noch ansteckend. Genau wie Maries Lächeln. Wenn sie richtig glücklich war, war ihr Lächeln so fesselnd, dass keiner widerstehen konnte.

Elviras Augen waren die Tränen in den Augen ihrer Mutter nicht entgangen. Sie warf Leonie einen Blick zu. Auch sie schien es gesehen zu haben. Sie liebte ihre Mutter, es konnte nicht sein, dass sie wegen ihr unglücklich war. War sie wahrscheinlich auch nicht, doch Elvira konnte nicht sagen, ob es Tränen der Freude oder der Trauer waren. Doch wären es Freudentränen, bräuchte ihre Mutter sie doch nicht zu verstecken?!
Sie ging zurück in ihr Zimmer und zog das Kleid aus. Es war wunderschön. Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl in dem Kleid. Es war nicht nur, dass das Kleid so wertvoll war und sie selten etwas wertvolles gehabt hatte, sondern mehr die Tatsache, dass sie sich darin entblößt vorkam, nicht körperlich, aber doch wegen ihrer Gefühle. Wenn das Kleid ihre Gefühle lesen konnte und sie wie bei Leonie sofort darstellte, blieb ihr nichts mehr für sich. In ihrer einfachen Hose und einer Bluse fühlte sie sich viel wohler.
Sie wollte zu ihrer Mutter gehen. Sie sollte nicht traurig sein.
Sie hörte ihre Mutter in ihrem Zimmer leise die einräumen und trat zu ihr ins Zimmer. Ihre Mutter hatte sich wieder in die Frau auf dem Flohmarkt verwandelt. Ihre Hose, die strenge Bluse waren auf dem Bett und stattdessen hatte sie wieder einen weiten Rock und ein passendes Top dazu an, ihre Füße waren nackt.
Elvira lächelte. Obwohl sie letzte Zeit sehr viel öfter lächelte als in der Zeit davor, war das ein anderes Gefühl. Es war befreiend, als schien die letzte Last von ihr genommen zu sein. Endlich. Ihre Mutter war wieder glücklich.
„Jetzt müssen nur die Haare wieder wachsen.“, sagte ihre Mutter mit einem Lächeln, sie schien genau zu wissen wie Elvira sich fühlte. Das war toll. Ihre Mutter war eine so tolle Frau, und gerade sie schien Elvira endlich zu verstehen, sich sogar für sie zu interessieren.
Der Moment wurde unterbrochen von einem leisen Klopfen an der Zimmertür.
Anywa war gekommen. Komisch, noch immer schien sie auf eine Art nicht in diese Rolle zu passen, auf die andere schon. Konnte das sein, konnte Anywa wirklich eine Zofe sein, jemand der sich fügen musste, sie schien so, als hätte sie ihre eigenen Ansichten, von denen sie nicht loslassen würde. Ambivalent. Die Zweideutigkeit einer Sache oder die Zweiseitigkeit von Gefühlen und Gedanken, Handlungen und Ansichten. Eigentlich müsste sie Ambivalenz heißen.
Höflich grüßte Elvira sie, dann verschwand sie mit einem letzten glücklichen Lächeln auf ihre veränderte Mutter, das Zimmer.

Linda drehte und hüpfte in ihrem Zimmer umher, während sie ihre Sachen einräumte. Sie hatte so gute Laune und so viele Träume, sie konnte nicht still bleiben. Lange genug hatten sie schon gewartete, über einen Monat. Jetzt war es endlich Zeit zu handeln. Worauf warteten sie noch? Ihre Mutter hatte ihnen gesagt, dass noch etwas fehlte, sie konnten noch nicht wieder in die Gemeinschaft eintreten. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie, als sie aus Italien geflohen war, aus der Gemeinschaft ausgetreten war, aus der Gemeinschaft der magischen Familien, die Gesellschaft, die sich dafür einsetzte, die Welt von dem Bösen zu befreien. Noch war keine Möglichkeit gefunden worden, doch die Gesellschaft hatte auch die Aufgabe schlimme Kriege oder Katastrophen zu verhindern. Damit man sie nicht finden konnte, mussten sie austreten, doch es war jetzt noch nicht an der Zeit, wieder einzutreten, sie wusste jedoch nicht weshalb. Sie glaubte, dass es etwas mit ihrem Vater zu tun hatte, ihrem Vater, den ihre Mutter im Stich lassen musste, und der es noch immer das Herz brach, wenn sie daran dachte. Obwohl ihre Mutter immer so unbekümmert schien und über alles zu sprechen schien, war sie jedes Mal niedergeschlagen, wenn sie daran nur dachte. Wenn sie daran dachte, dass sie ihren Mann mit einem überaus gefährlichen Mörder zurück gelassen hatte, mit dem er nicht fertig werden konnte. Hochverrat.
Jetzt schien sie nach dem Beweis zu suchen, dass er wirklich tot war, sie wollte es nicht akzeptieren, konnte noch nicht aufgeben. Sie war der Ansicht, dass er ihnen das Haus hier gekauft hatte, denn es war wohl schon jahrelang in ihrem Besitzt gewesen, ohne dass sie es gewusst hatte. Es war natürlich merkwürdig, dass hier diese überaus wertvollen Kleider waren, aber konnte es nicht ein Zufall sein? Selbst wenn ihr Vater ihnen das Haus gekauft hatte, dass konnte doch schon lange vor dem Kampf gegen den Typen gewesen sein.
Linda ließ ihre restlichen Sachen in der Kiste und trat in den Flur hinaus um nach ihren Schwestern zu gucken. Sie konnte nicht mehr alleine sein.
Elvira war schon fertig, klar, sie hatte keine Zeit mit Trödeln verplempert. Wie konnte man so ordentlich sein? Ihr Zimmer war leer. Maries Zimmer ebenfalls, doch Linda hörte die Stimmen ihrer Schwestern in Leonies Zimmer, es musste das Zimmer in der anderen Ecke sein, genau gegenüber von ihrem.
Was sollten sie jetzt tun? Nach weiteren Hinweisen von ihrem Vater suchen? Würden sie auf etwas stoßen?
„Ah, Linda, da bist du ja.“, sagte Leonie. Linda nickte. Auch Marie schien mit Auspacken schon fertig zu sein, auf jeden Fall war der Karton zusammengefaltet auf dem Bett.
„Wir hatten gerade überlegt, was wir jetzt machen wollen. Marie würde gerne nach draußen, in den Wald hinterm Haus. Elvira möchte noch einmal nach unserer Mutter gucken.“ Linda überlegte. Was wollte sie? Sie wollte sich bewegen. Das stand fest. Ihr war aber eigentlich egal wie. Der Wald war gut, sie konnten ein bisschen spazieren gehen und die Gegend kennen lernen.
„Ja, ich würde auch gerne nach draußen. Ein bisschen die Gegend kennen lernen.“ Leonie nickte. Was wollte sie eigentlich?
„Gut, dann gehen wir nach unten, gucken nach unserer Mutter, dann gehen wir nach draußen, wenn unsere Mutter nichts dagegen hat, natürlich.“, schlug Leonie vor, und die Schwestern nickten zustimmend.
Ihre Mutter war in der Küche und räumte zusammen mit Anywa die Küche ein.
„Na, seid ihr schon fertig?“, fragte sie, als sie ihre Töchter bemerkte. Linda blinzelte verwundert. Ihre Mutter hatte einen weiten Rock an, ein enges Top und ihre Füße waren nackt.
„Wow.“, sagte sie. Ihre Mutter sah einfach toll aus. Ihre schmale Taille wurde durch das enge Top wunderbar hervorgehoben, und der Rock mit den bunten Bändern raschelte bei jedem Schritt. Ihre Mutter lächelte nur.
Elvira antwortete ihr. Sie hatte den Stil ja schon gesehen. Eben, als sie nach ihrer Mutter geschaut hatte, musste sie es schon gesehen haben.
„Ja. Wir wollten jetzt etwas rausgehen, um die Gegend zu erforschen. Wenn du nichts dagegen hast.“
Gabriella lächelte wieder.
„Nein, natürlich habe ich nichts dagegen. Warum auch. Seid aber bitte um ein Uhr wieder da. Da gibt es etwas zu Mittag.“
„Natürlich.“, antwortete Leonie, dann verließen sie die Küche wieder. Leonie warf einen letzten Blick auf Anywa, die ihnen nachdenklich hinterher blickte. Was war das merkwürdige in ihrem Blick? Irgendetwas stimmte nicht.
Sie schüttelte sich. Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein.

Als sie aus dem Haus traten, waren sie geblendet. Es war erst so gegen 10 Uhr, trotzdem stand die Sonne schon hoch am Himmel und knallte auf die Landschaft herunter. Es war unglaublich heiß. Marie spürte schon, wie sie in ihrer viel zu dicken Jeans anfing zu schwitzen. Sie hatte keine Kleidung für Italien.
Elvira strahlte. Sie liebte Sonne. Sie blickten sich um und sahen zu ihrer linken den Strand, und das türkisfarbene Meer.
„Es ist so wunderschön.“, sagte Elvira. Linda blickte sie überrascht an. So etwas war ungewöhnlich, Elvira hatte noch nie ihre Gefühle gezeigt, nie vollkommen und spontan wie jetzt.
„Ich würde gerne schwimmen gehen.“ Fragend blickte sie ihre Schwestern an.
„Klar. Am besten machen wir es nach dem Mittagessen, dann hat sich das Meer auch etwas aufgeheizt. Jetzt gehen wir erst einmal in den Wald, wie wir es Marie versprochen haben, okay?“ Leonie fand wieder den besten Kompromiss.
Elvira nickte glücklich und wandte sich nur langsam vom Strand weg, zum Wald hin.
Marie war schon am Waldrand angekommen, als Elvira und Leonie sich in Bewegung setzten. Sie drehte sich erwartungsvoll zu ihren Schwestern um und lächelte sie glücklich an. Linda nahm sie an der Hand und die beiden verschwanden schon in dem Wald, im Dickicht, das zunehmend dichter wurde.
Leonie und Elvira hatten schon nach ein paar Minuten Schwierigkeiten ihnen zu folgen. Marie schien durch den Wald zu laufen wir eine Nymphe, sie hinterließ keine Spuren und hatte scheinbar unbegrenzte Ausdauer. Linda hatte natürlich kein Problem zu folgen, schließlich hatte sie voraussichtlich Maries Hand genommen und mit ihrem durchtrainierten Körper beste Voraussetzungen.
Elviras geschulte Augen wanderten blitzschnell über die Büsche, Farne und das Gestrüpp zu ihren Füßen, dann folgte sie der Fährte, die scheinbar endlos durch das Waldgebiet führte. Sie erkannte die Fährte in Sekunden, entdeckte umgeknickte Zweige, wo Leonie nur Wald sah.
Sie brachen durch Gestrüpp und standen auf einer Lichtung, auf die das Sonnenlicht flutete. Leonie hielt sich schützend die Hand vor das Gesicht. Aus dem dunklen Wald auf die Lichtung zu kommen, blendete ihre Augen.
Zuviel Licht war durch die Pupille gefallen, jetzt zog sich der Muskel zusammen und die Pupille verkleinerte sich. Das drückte man immer so schön als „die Augen gewöhnen sich an das Licht“ aus.
Marie fühlte sich sicher. Hier, auf der Lichtung, mitten im Wald. Sie liebte die Natur. Endlich, endlich konnte sie so lange hier bleiben, wie sie wollte, sie hatte keine Verpflichtungen. – Doch, sie musste mit ihren Schwestern erst das Geheimnis um ihren Vater lüften und dann in die schwere Aufgabe der magischen Familie eingearbeitet werden. – Und trotz der immensen Verantwortung fühlte sie sich frei, vollkommen ohne Druck.
Es musste etwas mit dem Wald zu tun haben, hier, nur hier war sie wirklich zuhause. Es fühlte sich so toll an, im Wald zu sein. So erholsam wie ein tiefer Schlaf, alle Gefühle waren sehr viel intensiver, tausend Gerüche schienen hier zu existieren; der Geruch nach Blüten, Harz, feuchter Erde und Kiefernnadeln durchströmte sie, sie fühlte sich wie in einem Nährboden. Ales war viel deutlicher hier, tausend Klänge schienen die tausend Gerüche zu vervollständigen; das Zwitschern der Vögel, das Knarzen von den vielen Lebewesen auf dem Waldboden, das Hämmern eines Spechts auf einem Baum. Sie wurden zu tausenden von Eindrücken, die sie durchströmten, als wäre sie nur ein weiterer Teil von ihnen. Sie war ein winziger Teil. Die Verantwortung entfiel. Sie war hier, inmitten ihrer Freunde.
Sie schien viel tiefer einzuatmen, ihre Lunge schien sich vergrößert zu haben, sie war frei.
Ein unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit war da, ein Gefühl der vollkommenen Glückseligkeit.
Elvira und Leonie waren gekommen. Sie konnten sie sehen und verstanden sie. Sie konnte ihre Gefühle teilen. Mit ihren Schwestern, denn sie verstanden sie. Ihre Mutter bestimmt auch. Sie hatte eine tolle Familie, eine Familie wie kein andere sie hatte. Sie wusste nicht, ob es an der Magie lag, die sie verband, doch sie waren sich so nahe, obwohl sie sich kaum kannten, naja, auf jeden Fall hatten sie eine lange Zeit getrennt und ohne die Erinnerungen an ihr altes Leben gelebt.
„Ein toller Ort.“, sagte Leonie. „Wunderschön.“ Linda nickte zustimmend. Elvira fragte weiter:
„Wie hast du ihn gefunden, wusstest du, dass er hier war?“
„Ich habe es irgendwie gewusst, geahnt, wie eine Art Instinkt, es zog mich hierher.“
Leonie nickte.
„Dieser Ort ist irgendwie magisch.“ Die Schwestern blickten sie an. Sie hatten bisher kaum über Magie gesprochen und hatten es noch nicht wirklich registriert.
„Wenn… du meinst“, sagte Elvira zögernd. Die Lichtung war schön, ja, aber sie war bestimmt nicht magisch.
„Hört mal, so kann es nicht weitergehen. Wir vier sind magisch Begabte. Fertig, aus, da gibt es nichts zu diskutieren oder abzustreiten. Wir haben bis jetzt unsere Magie verdrängt, wollten normale Mädchen sein, die endlich eine Familie gefunden haben. Doch wir sind mehr. Die Magie umgibt uns immer. Wir können sie nicht wegdenken. Wir sind nicht normal. Wir müssen unsere Magie annehmen, akzeptieren, nur dann kann sie sich entwickeln. Nur wenn sie sich entwickelt, können wir unserer Bestimmung folgen.“ Ernst blickte sie sich in der Runde um.
„Wow.“, sagte Linda nur. Nach einer Weile zog sie die Stirn kraus und fragte: „Warum weißt du das alles? Warum bist du so vernünftig?“
Leonie lächelte nicht. Ihr war es ernst. Sie wusste, wenn sie jetzt reagierte, nahmen sie es nicht ernst. Und das mussten sie.
„Wir dürfen unsere Mutter nicht enttäuschen.“, sagte sie. Das saß. Marie begann auf ihrer Lippe zu kauen, sie hatte ein schlechtes Gewissen.
„Hört mal, Magie ist etwas Tolles. Sie ist wundervoll, sie hilft Menschen. Ich weiß noch nicht viel über Magie, aber sie ist auf jeden Fall positiv, das steht fest.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte Elvira einfach. Sie hatte über dieses Thema schon lange nachgedacht. „Ich meine, was kann ich schon mit der Magie machen? Dinge bewegen, ihnen und mir selber Schwung geben. Toll, was ist daran positiv? Ich sehe keinen Sinn. Wenn Dinge keinen Sinn haben, können sie nicht positiv sein.“
„Doch.“, widersprach Leonie. „Deine Magie ist nicht einfach nur die Gabe, wie du sagst, Dinge zu bewegen, ihnen Schwung zu geben. Ich denke, Magie ist auch, dass du ein so gutes Gedächtnis hast, dass du so intelligent bist und die Dinge so klar vor dir siehst.“
Elvira runzelte die Stirn. Es gefiel ihr nicht, dass man ihre Fähigkeiten auf Magie zurückführte. Sie hasste das, denn ihre Intelligenz lag allein bei ihr, da hatte weder die Erziehung, die Gene noch die Magie etwas mit zu tun. Das war ihr eigener Verdienst.
„Ich weiß es nicht.“ Sagte Elvira. Hätte sie nicht ihre Magie, sondern Leonies, wäre ihre Kindheit anders verlaufen, sie hätte sich nicht jeden Tag gefragt, was schiefgelaufen war, was passiert war, weshalb sie weder Freunde noch Familie hatte. Jeder Tag war eine einsame Angelegenheit gewesen, war das denn gerecht?
„Ich kann mir nicht sicher sein, dass meine Magie positiv ist. Ich finde es nicht fair.“ Sie wusste, dass ihre Schwestern das eigentlich nicht nachvollziehen konnten, trotzdem erklärte sie sich nicht weiter. Die fragenden Blicke der Schwestern wurden ihr unangenehm. Warum gucken sie sie so an? Als ob sie die Hauptsache nicht begriffen hatte. Doch das stimmte nicht, denn sie dachte einfach nur wesentlich schärfer darüber nach. So viele Gedanken hatten sich die anderen mit Sicherheit nicht gemacht. Sie hatten naiv geglaubt, ihre Magie wäre toll. Wie naiv das war.
Der plötzliche Missmut ihren Schwestern gegenüber erschreckte sie. Sie wollte weg von ihnen und lief von der angeblich magischen Lichtung weg. Ihre scharfen Augen erblickten die Spuren, die sie auf dem Hinweg hinterlassen hatten.
Wie konnten ihre Schwestern so naiv sein und das glauben? Einfach zu glauben, dass die Magie gut war, einfach zu hoffen. Das war viel zu wage. Wenn die Magie schlecht war, konnte sie ihnen bestimmt riesigen Schaden anrichten. Wie konnte sie das herausfinden? Nur indem sie den Sinn in ihrer Magie erkannte. Denn wenn sie nachfragte, konnte sie sich nie sicher sein, dass ihr die Wahrheit erzählt wird, egal in welcher Beziehung, sie konnte immer manipuliert werden.
Sie verließ den Wald wieder und trat hinaus auf den sonnenüberfluteten Strand. Ein tolles Gefühl war es, den warmen Sand unter ihren Fußsohlen zu spüren, das warme Wasser des Meeres fast auf der Haut spüren zu können. Sie liebte den Strand. Die Bucht war begrenzt von Felsen, die in einem weiten Abstand den Strand einschlossen. Zur Rechten begannen diese Felsen sich zu einem Felsplateau zu formen. Das Plateau war wie geschaffen für ein Gebäude, es wäre ideal für ein Märchenschloss.
Die Märchen hatten sie immer fasziniert. Es waren echte Werte darin vermittelt worden, sie gingen immer gut aus.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie die kleinen Türme und die Mauern eines Schlosses hoch aufragen und eine kleine Treppe schlängelte sich die Felsen hinunter, sodass die Prinzessin im weiten Kleid jederzeit die Treppenstufen hinunter hüpfen konnte, um im Meer zu baden.
Sie hörte das Holz der Veranda knarzen und drehte sich um, um zu gucken, ob ihre Mutter vielleicht kam und sie sich mit ihr unterhalten wollte. Sie war enttäuscht, denn es war nicht ihre Mutter, sondern Anywa. Sie hatte keine Lust sich mit ihr zu unterhalten, bestimmt wollte sie, dass sie etwas über sich selber erzählte. Doch sie hasste diesen Stil, es war der Stil der Großmütter. Großmütter, die sie nie gehabt hatte. Keiner hatte sich je für sie interessiert, sie war immer auf sich selber angewiesen gewesen. Das sollte sich jetzt nicht ändern. Anywa war die Zofe. Okay, aber nicht mehr, sie sollte erst gar nicht versuchen sie freundlich zuzuquatschen.
„Hallo Elvira.“ Widerwillig richtete Elvira den Blick auf Anywa. Diese hatte ein Sommerkleid an, ein weites Schwarzes mit Blumen, das bis über die Knie aufgeschnitten war. Das sah nicht gut aus, denn schöne Beine hatte Anywa nicht.
„Hallo.“, erwiderte sie dann.
„Ich wollte dich fragen, ob du Hilfe beim Einräumen deines Zimmers brauchst.“, erklärte Anywa. Elvira widerte es an, dass Anywa in ihrem Zimmer war und da rumschnüffelte. Wie konnte sie es wagen.
„Nein, danke, ich mache das schon.“ Elvira drehte sich wieder um. Ihre anfängliche Neugier über Anywa war rasch versiegt. Sie hatte einfach keine Ahnung, was Höflichkeit betraf.
„Möchtest du es eigentlich lieber, wenn dich sieze? Eure Mutter möchte es nicht, aber nur weil wir uns schon so lange kennen.“ Anywa konnte es gut übersehen, dass sie kein Interesse an einem Gespräch hatte. Wie konnte man so gehässig sein und den Töchtern der Freundin, den Töchtern, die erst seit einem Monat wissen, dass sie eine Familie haben, erzählen, dass sie sie schon so lange kennt? Das war unglaublich unhöflich.
„Das können sie machen, wie sie wollen.“, fuhr Elvira sie an. Was dachte sie sich eigentlich dabei?
„Wenn sie mich jetzt entschuldigen würden, ich würde lieber alleine sein.“, ergänzte sie dann, als sie sah, dass Anywa keine Anstalten machte, zu gehen. Ihre Stimme hatte trotz der höflichen Formulierung einen bedrohlichen Unterton. Doch Anywa konnte auch das einfach ignorieren!
„Geht es dir nicht so gut? Du siehst irgendwie bedrückt aus.“ Fassungslos starrte Elvira Anywa an. Es war erstaunlich, dass Anywa überhaupt noch ein Wort mir ihr wechselte, so wie sie sie angemeckert hatte. Und dann war es noch ein so unerwartet netter Satz, eine gutgemeinte Nachfrage nach ihrem Wohlergehen. So etwas war sie nicht gewöhnt. Doch es tat ihr gut.
Anywa hatte ein Auge dafür, sie hatte gleich erkannt, dass es ihr nicht so gut geht. Hieß das, dass sie sich um sie Sorgen machte, konnte das sein? Um sie? Niemand hatte sich je um sie Sorgen gemacht. Nein, das stimmte nicht, ihre Schwestern und ihre Mutter. Ihre Familie.
Dann wurde ihr bewusst, dass Anywa auf eine Antwort wartete, obwohl sie doch zu wissen schien, wie es ihr geht.
„Ja, es geht mir nicht besonders gut. Aber nur ich kann daran etwas ändern, sie können mir dabei nicht helfen.“, wies sie Anywa zurück. Mit Anywa, einer Nichtmagischen, konnte sie unmöglich über Magie und die Frage, ob und warum Magie positiv ist, diskutieren.
„Manchmal hilft es, darüber einfach zu sprechen.“, meinte Anywa.
„Nein, danke, es ist sehr freundlich von ihnen, aber ich bezweifle, dass das etwas helfen würde. Danke.“
Anywa nickte und lächelte, bevor sie sich langsam umdrehte und zurück ins Haus ging.
Elvira blickte ihr nach. Ja, Anywa war nicht schön, aber sie hatte doch das gewisse Etwas, in ihren Augen und ihren Gesichtszügen. Wer war sie wirklich?

Kapitel 18
Traurig blickte Marie auf die Spur, die Elvira bei ihrem Verschwinden hinterlassen hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie konnte Elvira an ihrer Magie zweifeln? Die Magie hatte sie erst zusammengebracht, hatte ihr endlich die Familie geschenkt, die sie sich schon so lange erträumt hatte. Die Magie hatte sie zusammengebracht, davon war sie überzeugt. Und wenn sie sie zusammengebracht hatte, musste sie gut sein. Außerdem war ihre Mutter gut, das stand auch fest. Und ihre Mutter schätzte die Magie.
Sollte ihre Familie schon jetzt durch Unstimmigkeiten entzweit werden? Das war nicht fair.
Leonie spürte Maries Verzweiflung. Sie ging zu ihr, nahm sie in den Arm.
Die ersten Tränen liefen Maries Wangen hinunter. Marie zitterte in ihren Armen, doch sie hielt ganz still. Linda kam hinzu und streichelte Marie über den Rücken. Leonie warf Linda einen besorgten Blick zu. Linda verstand. Auch sie machte sich Sorgen über Marie. Dass sie schon wegen einer so kleinen Auseinandersetzung in Tränen aufgelöst war, sprach nicht für Maries Stabilität. Das würde bestimmt nicht die letzte Auseinandersetzung sein, und nicht jedes Mal konnten sie sie beruhigen. Wenn sie sich dermaßen in etwas hineinsteigerte, konnte das schwere Folgen haben. Leonie konnte nur zu gut nachvollziehen, was Marie fühlte. Hätte ihre Mutter ihr nicht gezeigt, wie man ihre Magie etwas zurückziehen konnte, wäre sie jetzt auch in Maries Zustand verfallen.
„Marie, alles wird wieder gut. Elvira wird auch noch erkennen, dass die Magie gut ist. Lass ihr ihre Zweifel. Hätte sie sie nicht jetzt, wären sie zu anderer Zeit gekommen. Jetzt können wir noch daran arbeiten, wir haben ja Zeit. Wir wussten doch von Anfang an, dass die neue Beziehung zwischen uns auch Schwierigkeiten haben würde.“ Marie nickte, doch sie wirkte nicht überzeugt.
„Marie. Elvira muss sich noch daran gewöhnen. Sie ist emotional nicht so flexibel. Es ist auch schwierig für sie. Wir müssen jetzt unsere egozentrische Perspektive aufgeben, die man als Waise hat. Ja, auch du hast egozentrisch gedacht, obwohl du so an andere gedacht hast. Genau wie ich, Linda und Elvira. Das ist so, wenn man keine Familie hat. Besonders bei Elvira, weil sie sich von den anderen abgekapselt hat. Das müssen wir jetzt erst einmal ablegen, damit wir zu viert sein können. Sie hat noch Angst, dass aufzugeben.“
Leonie spürte, dass Marie verstand und öffnete ihren Geist wieder ihrer Magie. Leonies Worte hatten auch Linda nachdenklich gemacht. War egozentrisch zu denken nicht eine Definition für Arroganz? War sie arrogant? Was war die richtige Definition von Arrogant sein, war es arrogant zu denken, also sich immer in den Mittelpunkt zu stellen, oder war es, ichbezogen zu handeln? Ersteres würde auf sie zutreffen, letzteres nicht.
„Es ist für Elvira eine völlig neue Erfahrung, dass sie jemanden hat, zu dem sie freundlich sein muss, nicht wahr? Früher war es gleichgültig, sie hatte sich zurückgezogen und hatte sich, und nur sich. Jetzt muss sie auf uns achtgeben, dass sie uns nicht verletzt mit ihrer schroffen Art.“
Leonie schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, so einfach ist das nicht. Sie war nicht alleine und sie war nicht immer unfreundlich. Sie war freundlich zu den Personen, mit denen sie leicht verkehren konnte. Lehrer, Busfahrer, Rosie - die Köchin – und der Bankangestellte. Alles Personen, mit denen sie die Distanz waren konnte. Das war leicht für sie. Emotionell tiefgründige Beziehungen waren ihr zu Zeitaufwendig und anstrengend. Sie hatte ihr eigenes Netz von Bekannten. Nur eben bei einer anderen Personengruppe.“
Die Schwestern nickten.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Marie.
„Wir müssen ihr Zeit lassen. Wir können sie ja nach dem Mittagessen nett fragen, ob sie mit uns schwimmen gehen möchte. Wir sprechen sie nicht auf ihr Verschwinden jetzt an. Dann merkt sie, dass wir sie verstehen und mit ihr, nicht gegen sie sind.“
Schweigend saßen die Schwestern da.
Nach einer Weile raffte Leonie sich auf und blickte auf die Uhr.
Mit einem Seufzen sagte sie:
„Ich denke, wir sollten jetzt zum Haus zurückgehen. Es ist kurz vor 1. Unsere Mutter wird uns schon erwarten.“
Sie standen auf und Marie führte sie, langsamer dieses Mal, durch den Wald zurück.
Linda bemerkte:
„Sie sieht toll aus, jetzt, nicht wahr?“ Sie wussten wer gemeint war. Ihre Mutter. Sie hatte diesen tollen weiten Rock und das enge Top angezogen, dass ihren extrem schmalen Oberkörper bestmöglich zur Geltung brachte. Außerdem drückten diese Sachen ihren inneren Stil aus. Viel besser als die Jeans, die sie getragen hatte. Am schönsten wäre es jetzt noch, wenn sie ihre Locken wieder länger wachsen lassen würde.
„Oh ja. Wundervoll.“, antwortete Marie, wieder glücklicher jetzt.
Der Gedanke an ihre Mutter weckte in ihnen ein schönes Gefühl. Unerklärlich, aber eindeutig dasselbe. Es war eine Mischung aus ungebändigter Freude, Ehrfurcht und Liebe. Noch nie hatten sie so etwas gefühlt. Es war himmlisch.

Sie traten aus dem Wald und sahen Elvira am Strand sitzen. Gedankenverloren ließ sie Sand durch ihre Finger rieseln und starrte auf die Wellen. Kaum dass sie in Sichtweite gekommen waren, drehte Elvira sich schon nach ihnen um und stand auf.
Sie schüttelte kurz den Sand ab, dann kam sie ihnen zögernd entgegen.
Linda lächelte sie an, wollte ihr sagen, dass sie nichts zu sagen brauchte, und ob sie es verstanden hatte war unklar, auf jeden Fall sagte sie nichts zu dem Vorfall auf der Lichtung.
Ein peinlicher Moment entstand, als keiner etwas sagte, doch zur rechten Zeit betrat Anywa die Veranda.
„Da seid ihr ja!“, rief sie, als habe sie Elvira vorher nicht gesprochen. „Wir sind fast fertig mit dem Essen, ihr könnt schon einmal kommen.“
Leonie fragte sich, ob Anywa etwas geahnt hatte. Sie konnte sich nicht immer auf ihre Kräfte verlassen, sie spürte Widersprüche, immer wieder, besonders Anywa wies viele auf. Sie konnte diese Widersprüche nicht deuten. Sie konnte noch nicht einmal sagen, ob jemand die Wahrheit sagte, das war irritierend, selbst wenn sie sich sicher war, dass jemand log, aufgrund seines körperlichen Verhaltens, sagten die Gefühle, die sie spürte, oft etwas anderes. Sie wusste nicht, welchem Gefühl sie vertrauen sollte, ihrem eigenem oder den der Person, die sie verstehen sollte. Oft kannten die Personen sich selber nicht gut, dass wusste Leonie, und sie hatte ein großes Menschenverständnis, doch reichte das? Nicht alle Erwachsenen konnte sie besser verstehen. Sie musste eine Grenze ziehen, inwieweit sie ihrem Gefühl und inwieweit sie dem magischem Gefühl vertrauen konnte. Dem magischen Gefühl. War es das? Ein Gefühl, hervorgerufen durch Magie? Oder war Magie nur der Übermittler, der es möglich machte, dass sie die Gefühle ihres Gegenübers erkennen konnte? Wenn letzteres nicht der Wahrheit entsprach, hieß das, dass die Magie ihr vorgaukelte, die Gefühle ihres Gegenübers zu fühlen. Dann wollte die Magie ihr etwas über diese Personen sagen. Doch war das möglich, möglich, dass die Magie in die Menschen eindringen konnte, um ihr inneres nach außen zu kehren? Wenn das stimmte, konnte die Magie ihr alles einflößen, was sie wollte. Das hieße aber auch, dass die Magie ein Eigenleben, ein Bewusstsein haben musste. Aber wenn sie das hatte, war sie nicht berechenbar. Dann konnte sie ihr nicht einfach vertrauen, dann hatte Elvira mit ihren Zweifeln recht und sie mit ihrem naiven Vertrauen unrecht.
Leonie kniff die Augen zusammen. Die Gedanken schwappten wie Wellen durch ihr Gehirn. Wie heißes Öl schienen sie ihr Gehirn auszubrennen. Was, wenn die Magie nicht so war, wie sie gedacht hatten, nicht neutral, sondern böse?
„Boah, ich hab Kopfschmerzen.“, klagte Linda. „Bestimmt hab ich wieder zu wenig getrunken, hier in Italien, bei dem warmen Klima muss man bestimmt mehr trinken als zuhause.“
„Ja, dass stimmt. Das Klima hier lässt den Köper schneller austrocknen.“, antwortete Marie. Sie hatte sofort an den Biologieunterricht gedacht. Die Anpassung an das Leben in Hitze und Trockenheit. So gut konnte sie sich noch an den Unterricht erinnern. Was zählte noch gleich zu den Faktoren, die die Anpassung beeinflussten, steuerten? Der CO2 – Gehalt, die Lichtstärke, die Temperatur, der Druck, der Salzgehalt, die Strömung, falls sie im Wasser lebten, die Artenzusammensetzung in der Umgebung, Sand und anderes Material, Anzahl der Versteckmöglichkeiten, also kurz die Beschaffenheit des Lebensraumes. Ein Indikator für das Klima war die relative Oberfläche, also der Quotient zwischen Oberfläche und Volumen. Ist der Quotient groß, gibt dieser Körper über seine Oberfläche im Bezug auf sein Volumen viel Energie ab. Diese Tiere leben in warmen Regionen, da sie über ihre Haut schon viel Energie abgeben, überhitzen sie nicht. Meistens sind diese Tiere klein, haben abstehende Extremitäten und gewinnen Wasser aus ihren Stoffwechselvorgängen.
Die Tiere in kalten Regionen sehen aber, je kälter es wird, immer kugelähnlicher aus, da die Kugel den energiesparendsten Quotient zwischen Oberfläche und Volumen hat. Sie hatten das am Beispiel der Pinguine festgemacht. Der Kaiserpinguin ist sehr viel größer und Kugelförmiger, als der Galapagospinguin, da dieser in den warmen Regionen lebt, auf den Galapagosinseln, wogegen der Kaiserpinguin in wesentlich kälteren Regionen zuhause ist.
Die Holzdielen der Veranda knarzten, als sie diese betraten. Die Veranda führte einmal um das gesamte Haus. Im Eingangsbereich standen ein paar Topfpflanzen, im Bereich, der zum Wald hinführte, also der, der dem Eingangsbereich gegenüber lag, war eine große, sonnenbeschienene Essecke.
„Ich dachte, heute machen wir nur etwas Leichtes.“, die Stimme ihrer Mutter kam aus dem Haus, während diese noch mit einem großen Topf beschäftigt war.
„Lass mich in dir abnehmen.“, schlug Anywa vor und nahm Gabriella den Topf aus der Hand. Außerdem trug sie auch noch die Teller, einen Untersetzer und das Besteck. Marie wunderte sich, wie diese alles tragen konnte, ohne das die Hälfte hinunterfiel. Gabriella kam hinter Anywa her, eine Schüssel mit Früchten hielt sie in der Hand.
Anywa setzte den Topf auf den Untersetzer, verteilte Teller und Besteck, während Gabriella die Schüssel mit dem Obst absetzte und den Topf öffnete.
Ein köstlicher Geruch stieg ihnen in die Nasen. Frischer Milchreis. Lecker.
Gabriella verteilte den Milchreis und Anywa verteilte die frischen Früchte über dem dampfenden Reis.
„Guten Appetit.“, wünschte sie, deutete eine Verbeugung an und ging zurück ins Haus.
„Isst sie nicht mit uns?“, fragte Linda verwundert, doch Gabriella schüttelte den Kopf.
„Nein, sie fühlt sich wohler, wenn sie alleine isst. Sie denkt, dass es sich für sie nicht gehört, mit uns an einem Tisch zu speisen.
Ach, nein, aber mich belehren wollen, dachte Elvira. Leonie warf ihr einen raschen Blick zu, sie schien Elviras ungewöhnliche Reaktion gemerkt zu haben. Doch Elvira ließ sich nichts anmerken.
Eigentlich wollte Leonie das gemeinsame Essen nicht stören, denn das schien ihr sehr wichtig, doch die Frage brannte ihr auf der Seele.
„Darf ich etwas fragen?“, fragte sie also.
„Natürlich. Gerne.“ Sie hatte doch irgendwie den Stil einer guten Lehrerin, fiel Leonie auf.
„Was ist die Magie eigentlich?“
Die Reaktion kam, wie erwartet. Alle Blicke hefteten sich auf ihre Mutter, auch wenn Elvira Leonie einen raschen Seitenblick zuwarf.
„Oh. Das ist eine schwere Frage.“, einen Moment überlegte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. „Es gibt noch so viel, dass ihr wissen müsst.“ Sie spießte mit ihrer Gabel ein Stück Ananas auf, kaute lang, schluckte und fuhr fort.
„Das ist eine Frage, die sich unsere Gelehrten, wie ich sie immer nenne, schon lange stellen. Es gibt viele Theorien. Bevor ich euch die mitteile, ich weiß nicht, ob das so klug ist, denn ich vertrete die Ansicht, dass man solche Dinge lieber alleine herausfindet. Naja, bevor ich euch die mitteile, muss ich euch von etwas anderem berichten. Es gibt in unserer Gesellschaft, also der Gesellschaft der magischen Familien, ein Mitglied, die „der Hüter“ genannt wird. Er trägt über die Generationen das Geheimnis des Ursprungs mit sich. Er darf es nicht preisgeben, bis er fest davon überzeugt ist, dass die Zeit gekommen ist. Er soll angeblich alles wissen. Immer wenn er ernannt wird, muss er seinen Nachfolger bestimmen, denn nur so kann man sichergehen, dass das Geheimnis, das von höchster Wichtigkeit ist, gehütet wird. Die Einzelheiten sind davon jetzt unwichtig, es ist ein höchst komplizierter Prozess. Der Älteste dieser Hüter, der angeblich noch auf der Stadt der Götter, der fliegenden Stadt, Atlantis, dem Olymp, gelebt hat, hat Prophezeiungen gemacht, eine jedes Jahr. Einer seiner Lehrlinge hat sie aufgeschrieben, in einem Buch, dass „das Vermächtnis“ genannt wird. In diesem Vermächtnis stehen keine Namen, alles ist verschlüsselt, doch aus manchen Prophezeiungen kann man seine Schlüsse ziehen. Es ist nur hochrangigen Magiern der Zugriff erlaubt, aber wir gehörten natürlich dazu. Mein Mann, also euer Vater, und ich, warfen einen Blick darauf. Wir glauben zu wissen, wer mit einer der Prophezeiungen gemeint ist. Wir, die italienische Herrscherfamilie, sollen, sofern wir das erkennen konnten, die Magie erforschen und herausfinden, was sie wirklich ist. Nur leider wissen wir nicht, wann das gelingen wird.“
Linda schluckte. Das war Magie, Aberglaube, die Mythen, die sie immer abgetan hatte. Das hörte sich in ihrer normalen Welt so abstrus an, dass sie es nicht glauben konnte. Das konnte nicht ihre Welt sein, ihr Vermächtnis. Das war unmöglich.
Leonie schien es leichter zu ergehen, na, sie hatte schließlich auch Teil an den Gefühlen ihrer Mutter, und Marie, denn Marie schien es auch zu glauben. Sie war flexibel. War sie das? War sie wirklich flexibel? Oder wollte sie nur das glauben, was ihre Mutter ihr erzählte? Wollte sie an Magie glauben oder hatte es immer getan? Sie würde bestimmt nicht so reagieren, wenn man ihr erzählen würde, dass die Amerikaner eine Atombombe gebaut hatten und vorhatten, sie über Italien abzuwerfen.
Immerhin waren ihre Kopfschmerzen wieder abgeflaut. Merkwürdig waren sie gewesen, ein Ziehen, als hätte sie ihren Kopf überanstrengt.
„Was werden wir jetzt machen?“, fragte Marie. „Ich meine nicht heute Nachmittag, sondern so insgesamt. Was wird passieren?“
Ihre Mutter spielte mit der Gabel in ihrer Hand.
„Wir gelten noch als vermisst. Zu unserem Schutz. Wenn wir wiederkommen, müssen wir stichhaltige Gründe vorweisen können. Wir müssen herausfinden, was mit euerm Vater passiert ist, nur dann können wir in die Gemeinschaft wieder aufgenommen werden.
Ich denke, wir werden ein paar Hinweise finden. Wir sprachen einen Zauber aus, damit wir, falls wir getrennt werden, wieder zu uns finden können. Meines Erachtens waren die Kleider der erste Hinweis. Wir können jetzt nur warten, bis der nächste kommt.“
„Wie funktioniert das? Man kann einfach einen Zauber aussprechen, dann bekommt man Hinweise?“, fragte Elvira skeptisch.
„Nein, etwas komplizierter ist es schon.“, lächelte Gabriella. „Wisst ihr, es gibt auch bei uns eine Einrichtung, die sich um die Angelegenheiten kümmert, unsere ganz speziellen Angelegenheiten. Eine davon überwacht alle Magier. Das geht, indem sie die Rückstände aufzeichnen, die ein jeder Magier hinterlässt, wenn er Magie einsetzt. Die sind ganz individuell, so wissen sie, wer wo ist, denn kein Magier kann lange verhindern, dass er Magie einsetzt. Es ist wie ein Drang, wie eine Sucht.“
Elviras Augenbrauen zogen sich in Sekundenschnelle nach oben. Eine Sucht, Magie war wie eine Sucht, das warf auch kein besseres Licht auf die Magie.
„Sie dürfen es aber keinem verraten, wo sich wer aufhält, da sie sonst in den natürlichen Lauf der Zeit eingreifen würden und das dürfen sie nicht, sonst würde ihnen etwas schlimmes passieren, keiner weiß genau was, deshalb probiert es keiner. Doch Niccolò und ich, also euer Vater und ich, haben ihnen einen großen Gefallen getan, so versuchten sie für uns die Regeln zu umgehen. Wir halfen mit dem Zauber, den wir sprachen.“
„Das heißt, wir werden einfach warten, bis wir so ein Zeichen sehen?“, fragte Elvira skeptisch. „Was passiert, wenn wir es übersehen?“
Ihre Mutter zuckte die Achseln. „Wir waren noch nie auf solche Zeichen angewiesen, ich weiß es nicht. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass wir das Zeichen bemerken werden.“
Doch damit war Elviras eigentliche Frage nicht geklärt. War die Magie jetzt gut oder grausam? Positiv oder Negativ?
„Was steht uns denn zu? Wie und womit müssen wir beweisen, was passiert ist? Was können wir unternehmen?“, wollte Linda wissen. Sie zappelte auf ihrem Stuhl. Am liebsten wäre sie wahrscheinlich sofort aufgesprungen, um alles zu regeln.
Jetzt kam der interessante Teil, der Teil, der ihnen eine Erläuterung der Lage sein sollte, ihre Grundlage, das, worauf sie aufbauen mussten.
„Was uns zusteht?“, wiederholte ihre Mutter nachdenklich. „Unsere Lage.“ Sie überlegte. Es gab viel, was die Schwestern noch nicht wussten, viel, was sie noch nicht wissen sollten und einiges, was sie unbedingt erfahren mussten.
„Das ist eine große Frage. Mit so etwas beschäftigt man sich nicht beim Essen. Wir können gleich, direkt nach Beendigung des Mahls darüber sprechen. Hier, auf der Terrasse, von mir aus auch woanders, es ist mir egal. Esst erst einmal. Und macht euch keine Sorgen.“, fügte sie hinzu. „Unsere Lage ist nicht so ernst, wie sie aussieht.“ Sie lächelte, und zum ersten Mal seit sie hier waren, konnte Elvira sich richtig entspannen. Ihre Mutter hatte alles im Griff, sie waren nicht nur nach Italien gezogen, um sich hier neuen Problemen zu stellen, sondern auch die Erfahrungen einer Familie zu machen. Sie hatten jetzt eine Familie. Wieder. Für Elvira war es noch immer schwer, ihre Kindheitserinnerungen, die sie wiedererrungen hatte, in ihr Gedächtnis einzugliedern. Es wollte ihr nicht gelingen, zu akzeptieren, dass es ihre Erinnerungen waren, sie waren ihr so fremd, sie erkannte sich selbst darin nicht wieder. Sollte sie das gewesen sein, die unbeschwert mit ihren Schwerstern über die zahllosen Brücken in Venedig gelaufen war, dass sie es war, die aß, trank, lachte und redete wie ein… ein Kind? Im Waisenhaus hatte sie nie eine Kindheit gehabt, sie musste immer vernünftig sein, leise, still und aufmerksam. Durch das Fehlen der Erinnerungen an die Zeit vor dem Waisenhaus, hatte sie nicht bemerkt, wer sie mal gewesen war, und wer sie jetzt war.
Sie schwiegen den Rest des Essens. Elvira war froh, sich nicht an Gesprächen beteiligen zu müssen und entspannte sich.
Es war so viel passiert. Sie musste damit klarkommen, sich ihren neuen Aufgaben stellen, und doch das Wichtigste nicht vergessen: Sie hatte eine Familie.

Marie war gespannt. Jetzt würde ihre Mutter sie aufklären, würde ihnen erklären, was sie machen sollten, was ihre Aufgabe war, was sie hatten und was sie brauchten. Sie hatten sich in die Sitzecke begeben, die hinter dem Haus, mit Sicht auf die Felsen am Ende des Strandes, auf der Veranda angebracht war, die das gesamte Haus umgab.
„Also, zu Anfang möchte ich euch noch sagen, alles, was ich je gemacht habe, war zu eurem Wohl. Ich bin zurückgekehrt, zu euch, weil ich es alleine nicht mehr aushielt. Nicht, weil ich Probleme hatte. Das müsst ihr wissen. Ich bin euretwegen zurückgekommen.“ Marie wurde es warm ums Herz. So nett war noch nie jemand gewesen. Außer Eleonora. Und Leonie. Elvira. Linda. Alle Leute, die nett zu ihr gewesen waren, als sie noch nichts gewusst hatte, von Magie, ihren Schwestern, Italien, waren Menschen gewesen, die mit ihr verwandt gewesen. Sie war schon immer umgeben mit Leuten, die sie liebten und die auf sie aufpassten. Sie hatte es nie gemerkt. Sie war so traurig gewesen, manchmal. Sie hatte sich in eine Scheinwelt gerettet, in der sie im Mittelpunkt stand, nichtsahnend, dass sie umgeben war von den wichtigsten Menschen ihres Lebens. Nie wieder würde sie traurig sein. Sie hatte immer jemanden gehabt, hat und wird haben. Sie war nur ein kleines Glied in einer langen Kette. Wie sollte sie traurig sein, sie wusste nicht, wie gut sie es hatte, dass musste sie sich immer vor Augen halten.
„Elvira hat das Bekenntnis aus dem Buch gelesen, dass eure Magie wieder erweckt hat.“ Marie nickte. Ja, das hatte Elvira ihnen erzählt. Sie hatte das Bekenntnis, unwissend, was es bedeutete, gelesen. Oder hatte sie schon damals geahnt, wie wichtig es sein würde? War das vielleicht auch ein Zeichen?
„Wir sind Nachkommen der Medici. Die Medici waren früher eine riesige Bänkerfamilie. Auf jeden Fall kann man das in den Geschichtsbüchern nachlesen. Doch schon damals waren wir die Träger der Magie. Wir führten das Bankwesen ein. Wir gaben unser Wissen an zahlreiche andere Familien weiter, zum Beispiel an die Fugger. Damit trieben wir die Entwicklung der Menschheit voran. Es war wundervoll.“ Sie seufzte und ihr Blick schweifte ab.
„Uns ist nicht mehr viel geblieben. Wir haben hier ein Haus, einen Palast in Venedig, Rom und Florenz. Freunde haben wir eigentlich keine mehr, außer Anywa und ein paar treue Freunde, mit denen ich in Kontakt stand. Sie sind über die ganze Welt und über alle Kontinente verteilt. Wir haben die Aufgabe, herauszufinden, was damals mit Niccolò, eurem Vater passiert ist, damit wir zum Rat treten können und wieder in die Vereinigung eintreten können. Außerdem möchte ich persönlich den Mann finden, der uns das angetan hat, Signore Braun. Er trieb uns auseinander.
Ferner müssen wir noch unser Vermächtnis, also die Erforschung der Magie, im Auge behalten. Was wir jetzt tun müssen, ist das ich euch beibringe, wie ihr eure Magie einsetzten könnt und was sie für einen Wert hat. Außerdem werde ich euch, so gut es mir möglich ist, in das Fach unserer Familie einweihen und euch darin unterrichten. Ihr müsst wissen, wer eure Vorfahren waren. Ihr seht, es kommt viel auf uns zu. Doch das Wichtigste ist erst einmal, dass wir uns kennenlernen, einleben und dass ihr euch bewusst werdet, wer ihr seid. Das steht im Vordergrund. Wenn ihr diese schwierige Phase überwunden habt und denkt, ihr seid bereit, dann könnt ihr zu mir kommen, alleine, dann werde ich euch einweisen. Den Anfang machen wir getrennt, weil ihr so unterschiedlich seid.“ Sie lächelte plötzlich. Sie schien aus ihren, spontan gewählten Worten, einen tieferen Sinn zu erschließen.
„Wir haben immer beobachtet, wie ihr euch entwickelt. Es war lustig mit anzusehen, wie ihr euch unterscheidet. Wir haben so gelacht, wenn wir gesehen haben, was ihr am liebsten esst, was ihr am liebsten macht und welche der italienischen Städte ihr am liebsten mochtet. Es war so unterschiedlich.“ Sie lächelte, in ihren Erinnerungen versunken.
Neugierig fragte Marie: „Und, welche der italienischen Städte fanden wir am schönsten?“
Ohne lange nachdenken zu müssen, antwortete Gabriella:
„Leonie mochte Florenz, Elvira war am liebsten in Padua, Linda liebte Venedig und Marie mochte alle Städte, war aber am liebsten in unserem Landhaus, da war ein Wald, ihr Wald.“ Marie konnte sich noch wage an den Wald erinnern, doch es waren keine Bildhaften Erinnerungen, nur die Erinnerung an Gefühle, positive Gefühle. Sie konnte sich überhaupt kaum an richtige Ereignisse erinnern, meistens nur Gefühle. Die machten sie glauben, dass sie ihre Schwestern schon ewig kannte.
„Padua?“, fragte Linda irritiert. „Wo ist denn Padua?“
„Padua ist unweit von Venedig. Sie haben dort eine der ältesten Universitäten in Italien. Riesige Bibliotheken. Elvira konnte schon damals lesen, mit erst vier Jahren. Sie las, keine Bücher für Kinder sondern meistens Bücher über die Legenden und Mythen, die sich durch Magie erklären lassen. Sie haben sie so fasziniert.“ Marie lächelte. Das passte zu Elvira. Es war schön, Geschichten aus ihrer Kindheit zu hören, einer Kindheit, der sie sich nie bewusst war, und jetzt kaum noch in Erinnerung hatte, klar, sie war erst vier Jahre alt gewesen. Und ihre Erinnerungen an ihre Kindheit waren noch stärker als die der Meisten. Ach, das war so verwirrend. Marie kam nicht klar. Sie fühlte sich, als würde sie ihre Schwestern schon ewig kennen und doch hatten sie diese Probleme, wie Startprobleme, besonders Elvira, doch sie fühlte alles so anders.
„Naja…“, Gabriella ließ ihre Stimme verklingen. „Ihr habt den Hauptteil verstanden, ja? Kommt einfach zu mir, wenn ihr denkt, dass ihr bereit für die Magie seid. Wenn ihr lernen wollt. Ihr müsst euch kein zeitliches Limit setzten, es ist egal ob es morgen oder erst in zwei Monaten ist. Dann, wann ihr bereit seid. Habt ihr verstanden?“
Die Schwestern nickten. Marie dachte nach. Wann würde sie soweit sein? Sie war schon neugierig, was es mit ihrer Magie auf sich hatte, wie sie sie bewusst einsetzte und kontrollierte. Doch was gab es bei ihr schon zu kontrollieren? Sie sprach mit Tieren. Das war alles. War das überhaupt Magie? Sie hatte schon oft darüber nachgedacht. War es wirklich Magie, dass sie Tiere verstand, oder war es einfach die Tatsache, dass sie mit ihnen fühlte weil sie schon so viel Zeit mit Tieren verbracht hatte? Was genau war Magie?

Kapitel 19
Linda zog sich ihren alten Bikini an. Er saß etwas knapp, besonders oben herum, doch das störte sie nicht. Wer sollte sie denn hier sehen? Sie wollte schwimmen gehen, in ihrer Bucht. Vielleicht konnte sie auch Elvira davon begeistern. Sie saß wieder am Strand. Wie sie da nur so still herumsitzen kann?
Sie nahm sich ein Handtuch und rannte die Treppe hinunter. Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter waren alle allein. Leonie war in ihrem Zimmer, Marie im Wald, Elvira saß am Strand und sie würde jetzt schwimmen gehen. Von ihrer Mutter und Anywa keine Spur.
Sie mochte Anywa nicht. Sie schien immer so weise und wissend, dabei hatte sie keine Ahnung. Sie wollte nicht mit ihnen zu Mittag essen, aber sich in ihre persönlichen Sachen einmischen. Das passte nicht zusammen. Sie passte nicht zu ihnen.
Linda fühlte sich jetzt viel besser als vorher. Ihre Mutter hatte alles im Griff, sie hatte Freunde überall auf der Welt, sie würde sich um alles kümmern. Bis sie die Magie richtig beherrschten. Jetzt würde sie erst einmal schwimmen gehen, sie hatte es nicht so eilig, zu ihrer Mutter zu gehen und sich um ihre Magie zu kümmern. Das hatte Zeit.
Sie lief durch den Sand, genau auf Elvira zu. Diese hatte sich schon zu ihr umgedreht, scheinbar hatte sie das Knarzen der Veranda gehört, als sie aus dem Haus getreten war.
„Hey!“, rief sie ihr entgegen. Bei genauerer Betrachtung fiel ihr auf, dass Elvira hübsch war. Sehr hübsch. Sie war dünn, hatte lange Beine und eine sonnengebräunte Haut. Wo sie die wohl herhatte? In Deutschland schien zwar auch mal die Sonne, aber nie stark genug, um braun zu werden.
Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und sanft. Ihre schwarzen Locken fielen ihr auf den Rücken und die Spitzen hingen im Sand, wenn sie saß. Wäre ihr Gesicht nicht irgendwie hart, wäre sie wunderschön.
„Hey.“, antwortete sie. Fragend blickte sie Linda an, wartete auf den Grund von Lindas Kommen.
„Ich wollte Schwimmen gehen, kommst du mit?“, fragte sie. Bittend schaute sie Elvira an. Doch diese war scheinbar immun gegen solche Bittblicke.
„Nein. Ich bleibe lieber hier sitzen.“, antwortete sie nur. Dann drehte sie sich wieder um.
Linda war wie vor den Kopf gestoßen. Was dachte sich Elvira nur? Zornig wollte sie sie zurechtweisen, doch als sie Elviras harte Gesichtszüge sah, ließ sie es bleiben. Sie beruhigte sich wieder. Elvira konnte nichts dafür. Sie war verbittert. Sie hatte schlechte Erfahrungen gemacht, mit Menschen, besonders mit Gleichaltrigen. Da war es nur verständlich, dass sie so abweisend reagierte.
Doch jetzt hatte sie eine Familie. Da konnte sie nicht einfach so böse sein, wie sie wollte. Dann würden sie nicht zusammenleben können.
„Wirklich nicht?“, hakte sie nach. Elvira drehte sich überrascht um. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand weiterfragte.
„Das Wasser ist jetzt in der Mittagshitze bestimmt schön angewärmt.“, meinte sie. Elvira runzelte kurz die Stirn, als ob sie etwas erwidern wollte, doch dann besann sie sich etwas anderen.
„Nein, nicht jetzt. Ich komme vielleicht später nach. Viel Spaß.“ Sie lächelte. Ihre Gesichtszüge sprachen aber eine andere Sprache als ihr Gehirn. Das wollte vielleicht Lächeln, doch ihre Züge entspannten sich nicht, sondern sie verkrampften sich. Beim Lächeln! Linda wollte heulen. Wer konnte einen Mitmenschen so weit bringen, dass dieser das Lächeln verlor?
Sie versuchte das Lächeln zu erwidern, doch ihr war so anders zumute, dass ihr Lächeln wahrscheinlich noch erbärmlicher war als Elviras.
Sie warf ihr Handtuch in den Sand und wandte sich schnell um. Mit schnellen Schritten ging sie auf das Wasser zu und steckte vorsichtig ihren Fuß in das Wasser.
Entgegen ihrer Vorstellung war das Wasser nicht warm, sondern eiskalt. Sie schreckte kurz zurück, doch dann machte sie mutig einen Schritt ins Wasser.
Nach ein paar Schritten kam ihr das Wasser nicht mehr ganz so kalt vor, so ließ sie sich, sobald das Wasser tief genug war, in die Wellen fallen. Das Wasser war herrlich. Sie schwamm ein paar Züge, dann blickte sie sich um.
Sie war ungefähr in der Mitte der Bucht. Sie war rechts und links von Felsen begrenzt. Es war wirklich eine wunderschöne Bucht. Sie tauchte unter und drehte sich, sodass sie auf die Felsen zu ihrer linken zu tauchte. Es war ein einmaliges Gefühl, das Wasser um ihren Körper zu spüren, so einmalig, es schien ihren Körper zu tragen, zu umhüllen wie ein Gewand aus feinster Seide. Sie spürte das Wasser kaum noch, es war als würde sie schweben.
Nach kurzer Zeit kamen schon die Felsen. Sie tauchte auf und schaute zurück zum Strand. Elvira saß noch immer neben ihrem Handtuch. Als sie sie sah, winkte sie ihr kurz zu. Linda erwiderte das Winken. Elvira war doch freundlich. Total freundlich, man durfte nur nicht so schnell aufgeben.

Elvira blieb nachdenklich zurück. Sie wollte zu ihrer Mutter gehen, denn nur die weitere Auseinandersetzung mit der Magie würde ihre Fragen klären. Und sie musste ihre Fragen klären, nur so konnte sie mit gutem Gewissen weiter Magie anwenden.
Doch Magie schien nicht zu passen. In ihr Leben. Magie, allein der Begriff war ein Gegensatz zu ihrem sonstigen Leben. Alles war immer geplant gewesen, sie hatte sorgfältig nachgedacht, kalkuliert. Doch Magie schien ihr zufällig zu sein. Es gehörte nicht zu den Naturwissenschaften, die sie so schätzte, sondern schien eher in die Kategorie des Glaubens zu fallen, die sie schon von vorherein abgelehnt hatte.
Wenn sie aber zu ihrer Mutter ging, würde sie Magie anwenden müssen. Und wenn sie Magie anwenden sollte, wollte sie es wenigstens gut machen. Also sollte sie üben.
Sie konzentrierte sich. Ihr Atem ging langsam, und sie fühlte die Wirkung in ihrem Körper. Der lebenswichtige Atem tat ihr gut. Sie konzentrierte sich auf den beruhigenden Atem. Langsam, ganz langsam kam das Gefühl der Magie wieder. Es war eine neue Erfahrung. Bisher musste sie sich immer sehr anstrengen, um für kurze Zeit in dem magischen Zustand zu kommen. Doch jetzt schien es sanft zu sein, sanft wie ihr Atem und das Rauschen des Meeres. Sie fühlte die heiße Mittagssonne auf ihre Haut knallen. Sie schien sie aufzuladen. Sie fühlte die Energie, die sie durchströmte.
Sie spürte den Sand nicht mehr unter ihren gekreuzten Beinen. Der Druck hatte langsam nachgelassen, bis er ganz verschwand. Sie wusste, was passiert war, sie hatte sich in die Luft erhoben. Doch der Gedanke machte ihr keine Angst mehr. Sie war wie in Trance, ruhig und energiegeladen wie die Sonne. Ihre Gedanken machten ihr keine Mühe, sie erfolgten schnell und widerstandslos. Es war, als ob sie allen Ballast abgeworfen hätte und zu ihren ruhigen Kern gelangt wäre.
War das nicht das Ziel der Buddhisten? Zu ihrem inneren Kern zu finden um alle Wahrheiten zu erfahren, um das Leid zu überwinden? Diese Erfahrung machte sie gerade. Dafür musste sie noch nicht einmal strengste Askese üben, wie Gautama, bevor er zum Buddha wurde.
Auch die Religion rief in ihr keine Abneigung mehr hervor. Sie war frei von allen negativen Gefühlen, frei von allen emotionalen Gedanken.
Langsam öffnete sie ihre Augen. Sie war gefasst auf das, was sie sehen würde.
Ihre Augen bestätigten nur das, was sie längst wusste. Sie schwebte circa einen Meter in der Luft.
Sie konnte Gegenständen Schwung geben. Konnte sie sie auch anheben? Sie sah einen kleinen Stein unweit neben Lindas Handtuch liegen. Sie konzentrierte sich auf ihn, was ihr völlig unnötig vorkam, sie war ja schon konzentriert, und machte eine langsame Handbewegung, als würde sie den Stein mit der Hand anheben wollen. Tatsächlich, der Stein schwebte in der Luft, ungefähr auf Augenhöhe.
Doch auch das überraschte sie nicht. Sie hatte gewusst, dass sie das konnte.
Sie machte eine wegstoßende Bewegung und der Stein flog, frei von Elviras Magie, in einem hohen Bogen davon und landete weit entfernt.
Elvira wandte sich Lindas Handtuch zu. Sie war völlig konzentriert und wollte sich einfach nur austesten. Ihre Emotionen waren weg, sie spürte keine Abneigung gegen das, was sie tat. Sie wusste, dass sie großes tun konnte. Und das überraschte sie keineswegs. Sie war völlig entspannt.
Lindas Handtuch erhob sich in die Luft. Als es in Augenhöhe war, betrachtete Elvira es scharf. Es zitterte nicht einmal in der starken Brise, die vom Wald kam. Als sie ihre andere Hand dazu nahm, ließ sie das Handtuch in der Luft tanzen. Erst formte sie es zu einem Ball, dann breitete sie es wieder ganz aus. Sie drehte es der Länge nach ein und wieder aus. Dann ließ sie es, wie einen fliegenden Teppich, in der Luft Kreise und Loopings ziehen.
Als sie auch mit dem Handtuch alles ausprobiert hatte, was denkbar war, ließ sie es auf den Boden zurückgleiten. Ohne eine Falte lag es jetzt im Sand.
Ohne weiter zu zögern, wandte sie sich dem anderen Medium zu, das sie erblicken konnte. Dem Sand. Mit einer Handbewegung erhob sich eine ganze Wolke aus Sand. Wie Staub lag sie in der Luft.
Linda, die aus dem Wasser heraus zugeschaut hatte, war geschockt. Sie hatte nie mit angesehen, wie Elvira ihre Magie einsetzte, sie hatte nur davon erzählt, und Linda hätte sich nie vorstellen können, dass Elviras Magie so gewaltig sein könnte.
Auch ihr Interesse an dem Sand schwand, so wandte sie sich der letzten Herausforderung zu, die sie erblicken konnte. Das Wasser. Das Wasser war in der Hinsicht schwer, als dass es in Bewegung war. Sie hatte noch nie Gegenstände, die in Bewegung sind, mit ihrer Magie bewegt.
Langsam hob sich eine Wassersäule aus dem Meer. Es war eine kleine Wassersäule, doch Elvira zitterte in der Luft. Es war sehr viel schwerer als sie gedacht hatte. Die Säule wand sich unter ihrem Griff. Dem Griff der Magie.
Vorsichtig trennte sie eine kleine Wasserkugel von der Säule ab und spielte damit. Es ging weniger leicht, als sie erwartet hatte. Sie ließ die Wasserkugel zurück in das Wasser platschen und versuchte sich aus ihrem tranceartigen Zustand zu lösen.
Unsanft landete sie wieder im Sand. Sie hatte vergessen, dass sie ja in der Luft geschwebt hatte. Sie hatte es vergessen. Sie hatte noch nie etwas vergessen, warum kam das jetzt? Vergessen. Sie redete sich ein, dass es nur von ihrem magischen Zustand kam. Dass das so natürlich war, das sie es nicht weiter beachtet hatte.
Jetzt, wo sie über ihren Zustand nachdachte, kam es ihr vor wie ein unwirklicher Traum. Es war so friedlich gewesen, so ruhig. Sie hatte keine Angst empfunden über ihre Lage.
Sie zitterte wieder. Sie fühlte sich nicht schwächer als vorher, obwohl sie Magie bewirkt hatte, doch war der Wechsel zwischen der Trance und der Realität so brutal, dass sie sich in die Trance zurückwünschte. Ruhig, friedlich, ohne Emotionen. Keine Angst, keine Zweifel. Das war ihr Traum gewesen. Schon immer.
Sie sah Linda aus den Augenwinkeln aus dem Wasser kommen. Sie drehte sich um, Tränen liefen leise über ihr Gesicht. Sie wollte nicht, dass Linda das sah. Sie wollte nicht, dass Linda von ihr dachte, dass sie eine Heulsuse wäre.
Doch sie hatte Linda unterschätzt. Sie kam zu ihrem Handtuch und merkte sofort, dass Elvira traurig war. Sie musste es gespürt haben.
Linda nahm Elvira in den Arm, und Elvira genoss die Berührung. Sie wurde so selten in den Arm genommen. Früher gar nicht, jetzt dagegen etwas häufiger, doch auch selten, zu selten.
Es war ihr egal, dass der nasse Bikini von Linda ihre Hose und ihr T-Shirt durchnässte, sie wünschte sich einfach, dass dieser Moment nie enden würde.

Marie streifte alleine durch den Wald. Sie hörte ein kleines Bächlein plätschern und lief darauf zu. Es sah wunderschön aus. Es schlängelte sich durch die Bäume, traf immer wieder auf felsigen Boden und änderte den Lauf. Marie folgte dem Bachlauf. Nach einer Weile weitete sich der Bach, die Bäume standen nicht mehr so nah am Bach.
Eine kleine Lichtung kam zum Vorschein, als sie die Ranken eines Strauches beiseiteschob.
Marie lächelte. Dieser Wald war voller Geheimnisse. Wie jeder Wald. Die Lichtung war nur vom Bachlauf aus erreichbar, sie wurde eingegrenzt von dichtem Dickicht und Gebüsch, es schien unmöglich, da durch zu kommen.
Der Bach plätscherte aus dem steinigen Bachbett ungefähr einen Meter in die Tiefe, wo es sich wieder fing und schäumend die Lichtung durchquerte.
Marie setzte sich auf einen Felsblock, der neben dem Flussbett lag. Sie musste östlich des Hauses sein, da, wo die Felsen die Bucht begrenzten.
Marie nahm sich Zeit, die Lichtung zu betrachten. Alle Einzelheiten waren schön, und zusammen bildeten sie die wunderschöne Lichtung.
Doch trotzdem konnte sie sich nicht richtig darüber freuen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte sie jetzt mit ihren Schwestern zusammen sein. Sie sollte sich um Elvira kümmern oder mit Leonie sprechen. Linda helfen, ihre Sachen auszupacken. Irgendetwas tun, nicht alleine im Wald herumspazieren. Das war nicht gut. Sie konnte nicht mehr so egoistisch sein und nur auf ihre eigenen Sachen bestehen. Ihre eigenen Interessen mussten jetzt hinten angestellt werden.
Sie folgte dem Bach weiter, er musste unweigerlich ins Meer führen. Nach ein paar Minuten kam sie zu einem Felsplateau, an dessen Rand der Bach verlief und am Ende in die Tiefe stürzte. Ein Wasserfall.
Marie liebte Wasserfälle. Sie stellte sich an den Rand des Plateaus und beobachtete den Bach. Erst danach blickte sie sich um, um festzustellen, wo sie herausgekommen war. Zu ihrer Rechten waren die Felsen, die die Bucht begrenzten. Wenn sie diese hinunterkletterte, kam sie direkt auf den Strand.
Auf dem Sand sah sie bereits drei Gestalten sitzen. Ihre Schwestern waren zusammen. Ohne sie. Sie hatten von Anfang an gewusst, dass es darauf ankam, zusammen zu sein. Sie waren nicht so egoistisch gewesen wie sie.
Betrübt machte sie sich auf den Weg die Felsen hinunter. Es war ein schwieriges Unterfangen, denn die Felsen saßen nicht alle ganz fest und wackelten. Doch Marie vertraute auf ihr Gefühl und kletterte, in Gedanken versunken, die Felsen hinab. Es war noch immer sehr tief. Sie hatte die Höhe unterschätzt.
Plötzlich trat sie auf einen Fels, er wackelte. Marie verlor das Gleichgewicht. Der Moment schien sich ewig hinzuziehen. Der Moment, in dem sie verzweifelt nach einem Halt suchte und gleichzeitig versuchte den Stein mit ihrem Gewicht wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Doch sie wusste, dass es vergeblich sein würde. Es konnte nicht anders sein. Sie war egoistisch gewesen, hatte ihre Schwestern im Stich gelassen, jetzt musste sie die Folgen tragen. Vielleicht war das das erste Zeichen. Das Zeichen, dass die Schwestern zusammenhalten mussten, weil sonst schlimme Dinge passierten. Sie würde in die Tiefe hinabstürzen, ohne noch einmal ihre Schwestern zu sehen, zu hören und sie berühren zu können.
Sie schloss die Augen und merkte, dass Tränen ihr die Wange hinab liefen. Sie hatte sich nie vorgestellt, wie sich der letzte Augenblick anfühlen würde, bevor man starb. Würde sie Schmerzen haben? Merkte man es noch, dass man tödliche Verletzungen hatte?
Sie fiel.

Und landete. Überrascht öffnete sie die Augen. War sie schon im Himmel? War sie nur so kurz gefallen?
Doch was sie sah, änderte alles. Sie war nicht im Himmel und sie war auch nicht die Steine hinabgestürzt. Sie lag in den Armen von Anywa.
Diese lächelte sie an.
„Vorsicht.“, sagte sie, was jetzt jedoch vollkommen überflüssig war.
Marie wollte fragen, wie Anywa hier hoch gekommen war, doch sie brachte es nicht über die Lippen. Sie war Anywa so dankbar und so erleichtert, dass sie Anywa mit Tränen auf dem Gesicht und in den Augen anstarrte. Sie wollte ihr danken, wollte ihr in die Arme fallen, also, wollte sie umarmen, in den Armen lag sie ja schon, und wollte sich an ihrer Schulter ausweinen. Der Schock saß ihr in den Knochen. Mit jeder Zelle ihres Körpers spürte sie den Schock, er pulsierte in ihrem Körper im Rhythmus ihres Herzes. Sie hatte die Vermutung, dass ihr Herz kurz ausgesetzt hatte, denn es zwickte überall und sie schien nur ihren Blutkreislauf zu spüren.
Ihr Herz hatte sie schon aufgegeben, Anywa nicht. Sie war ein Engel.
„Schon gut.“, sagte Anywa beruhigend. Sie stellte Marie wieder auf ihre eigenen Füße und legte ihr ihre Hand auf die Schulter. Diese Berührung war so beruhigend und so fantastisch, dass Marie ein Glücksgefühl spürte, dass von ihrer Schulter auszugehen schien.
„Jetzt etwas vorsichtiger. Komm, ich helfe dir.“ Marie wollte nicht weiter die Felsen hinunter, doch sie wollte Anywa auch nicht widersprechen. Es war klug von ihr, dass wusste Marie. So konnte sie vorbeugen, dass Marie nie wieder in die Tiefe blickte, aus Angst davor, und somit verhindern, dass sie sich lebenslang an dieses Ereignis erinnern musste.
So gehorchte sie und kletterte, mit höchster Vorsicht, die Felsen hinunter, sie spürte die beruhigende Anwesenheit von Anywa hinter ihr.
Sie war höchst erleichtert, als sie endlich wieder den Sand unter ihren Füßen spürte. Erleichtert ließ sie sich auf dem Boden nieder. Als sie sich zu Anywa umdrehte, war diese schon weg.

Leonie trat aus dem Haus auf die Veranda. Sie hatte ihr Zimmer eingerichtet und dabei Zeit zum Nachdenken gefunden. Sie wusste nicht, was sie von ihrer Situation halten sollte. Sie waren Schwestern. Sie mussten sich näher kommen. Sie durften ihre Mutter nicht vernachlässigen. Sie mussten ihre Magie in den Griff bekommen. Sie mussten auf Zeichen achten, die sie zu ihrem Vater führen würde. Sie mussten das Geheimnis um ihn lüften. Dann mussten sie die Menschheit lenken. Und dabei durfte sie nicht vergessen, dass sie sich selbst nicht verlieren durfte.
Sie wollte alles schrittweise angehen. Einfach nur den nächsten Schritt planen. Sie durften jetzt nicht schon die Menschheit in Angriff nehmen, sonst würde es nie dazu kommen.
Der erste Schritt, auf den sie sich konzentrieren wollte, war ihre Familie kennenzulernen. Ihre Schwestern, ihre Mutter und die Magie. Leonie war davon überzeugt, dass die Magie von den Familien ausging.
Um sich kennenzulernen mussten sie miteinander reden. Mussten sie agieren und reagieren.
Also ging sie zum Strand um Elvira zu suchen. Sie war etwas ganz besonderes. Sie hatte sich zurückgezogen von den Menschen, besonders von Gleichaltrigen. Sie war von ihnen verletzt worden. Leonie wusste nicht, ob Elvira überreagierte oder ob es wirklich so schlimm war, aber sie wusste, dass es Elvira stark zusetzte. Sie musste das Vertrauen in die Menschen wiedergewinnen.
Marie war da ähnlich. Auch sie hatte sich zurückgezogen, aber nicht verbittert, sondern in Angst. Sie hatte Angst vor den Menschen, Angst über die riesige Kraft, über die sie verfügten und oft so skrupellos anwandten. Doch im Gegensatz zu Elvira hatte sie bei der Natur Zuflucht gefunden. Elvira nicht. Sie hatte sich in sich selbst geflüchtet. Hatte gelernt um des Lernens Willen.
Linda und sie hatten keine Probleme mit den Menschen. Sie waren beliebt. Linda war hübsch, sportlich und immer gut gelaunt. Sie selbst war ruhig. Immer für andere da. Das waren Eigenschaften, die sie am meisten schätze. Ihr Ziel war es, ausgleichend zu sein, den Menschen zu helfen. Sie hatte keine Angst vor den Menschen.
Früher waren sie anders gewesen. Das Waisenhaus hatte sie geprägt. Elvira war unbeschwert gewesen. Das war etwas, was sie nie mehr gesehen hatte. Sie hatte gelacht. Marie hatte mit ihrem kindlichen Charme die Leute um den Finger gewickelt. Linda konnte stillsitzen. Sie musste nicht immer in Bewegung sein, um Gefahren zu entgehen. Auch die fröhliche Linda hatte sie verändert. Sie musste in Bewegung bleiben, damit die Schmerzen ihrer „Kindheit“ im Waisenhaus sie nicht einholten.
Und sie, wie hatte sie sich verändert? Für Leonie war es immer am schwersten, sich selbst zu verstehen. Wenn sie andere Leute sah, mit ihnen sprach, sie beobachtete, konnte sie leicht Schlüsse auf deren Charakter ziehen. Doch sie konnte sich nicht mit sich selbst unterhalten. Sich beobachten. Analysieren.
Das Waisenhaus hatte nicht nur schlecht auf sie gewirkt. Es hatte ihre Individualität gefördert. Wären sie vorher immer zusammen gewesen, hätten sie jetzt nicht so zusammen leben können. Jetzt waren sie vier Mädchen, jede mit eigenen Wünschen, Ansichten, Idealen und Träumen.
Sie hatten aufwachsen können ohne von Magie zu wissen. Aufwachsen, ohne zu wissen, dass sie etwas Besonderes waren.
Sie hüpfte die Stufen der Veranda hinunter in den Sand. Elvira hatte sie bereits gesehen. Sie war ungewöhnlich scharfsinnig, als würde sie einen Angriff erwarten. Bei der kleinsten Bewegung in ihren Augenwinkeln oder dem kleinsten Knarren, wusste sie sofort Bescheid über die Ursache.
Als sie bei Elvira und Linda angekommen war, strahlte Linda sie an.
„Hi!“, begrüßte sie Leonie gutgelaunt. Leonie lächelte, und erwiderte die Begrüßung.
„Hi.“, sagte sie, darauf bedacht, dass auch Elvira sich davon angesprochen fühlte.
„Es ist echt tolles Wetter hier, nicht wahr?“, führte sie die Unterhaltung weiter. Sie blickte an sich herunter. Das T-Shirt, das sie anhatte, war zu eng und zeigte ihr Bäuchlein, dass leider nicht so flach war, wie sie gern hätte. Die Hose war ebenso wenig ein schöner Anblick, sie offenbarte freizügig Leonies stämmigen Oberschenkel und den Po, auf den sie nicht gerade stolz war.
Unter ihren Achseln waren große Schweißflecke zu sehen. Sie bot keinen hübschen Eindruck. Ganz im Gegenteil zu Linda, die in ihrem knappen Bikini eine tolle Figur offenbarte und Elvira, die braungebrannt in weißer Bluse und Rock im Sand saß.
Sie hoffte inständig, dass ihr Körper sich an das Klima gewöhnen würde und sie aufhören würde zu schwitzen und etwas abnehmen konnte. Es war eine Schande.
„Ja, finde ich auch.“, antwortete Linda auf Leonies Nachfrage. „Ich war schon im Wasser. Es ist wirklich warm. Komm doch auch rein!“, forderte sie Leonie auf. Doch Leonie schämte sich. Wie würde sie erst im Badeanzug wirken. Hier, im Gegensatz zu ihren Schwestern. Sie war weder dünn noch braun gebrannt, sie würde mit ihrer fleischigen rosa Haut aussehen wie ein Schwein.
„Nein, ich möchte jetzt nicht. Vielleicht nachher.“ ,doch sie hatte nicht die Absicht, nachher ins Wasser zu gehen.
„Bitte!“, bettelte Linda. „Es ist ein so tolles Gefühl!“, bittend blickte sie Leonie an. Dann wanderte ihr bittender Blick zu Elvira.
„Hast du es dir wenigstens anders überlegt?“, fragte sie und sah aus, als würde sie gleich weinen.
„Nein.“, sagte Elvira, sie schien immun gegen Lindas Miene. Doch Leonie schien es das Herz zu brechen, wie Linda klein und verzweifelt dasaß. Als dann auch noch Tränen in Lindas Augen aufzutauchen schienen, riss sie sich zusammen.
„Na gut. Ich zieh mich eben um.“, meinte sie. In sekundenbruchteilen änderte sich Lindas Miene vollkommen. Ein strahlendes Lächeln glitt über ihr Gesicht.
„Danke!“, jubelte sie.
Langsam machte Leonie sich auf den Weg zurück ins Haus. Oben in ihrem Zimmer angelangt holte sie den Badeanzug aus dem Schrank, den sie eben noch eingeräumt hatte. Er war schwarz, sie hoffte, dass das Schwarz ihren Körper etwas streckte, wie es doch so schön hieß.
Schwarz streckt. Fragt sich in welche Richtung, fragte sich Leonie bitter. Sie zog ihn an. Schnell wollte sie mit dem Handtuch aus dem Zimmer huschen, ohne noch einen Blick in ihren Spiegel zu werfen, um sich nicht doch noch um zu entscheiden, doch sie konnte nicht.
Zögernd ließ sie das Handtuch sinken und betrachtete sich im Spiegel. Der Anblick war schlimmer, als sie es sich erhofft hatte. Aus ihrer Haut schienen die roten Adern nur so hervor zu springen, blass und rosa erstreckten sich ihre fetten Oberschenkel.
Mutlos ließ sie ihre Schultern sinken.
Da klopfte es an der Tür. Schnell zog sie das Handtuch wieder hoch. Es war ihre Mutter.
„Na.“, sagte sie sanft. Ihre Augen wanderten über ihre um das Handtuch verkrampften Finger. Sie hatte ihr Problem erkannt.
„Ach Leonie.“, meinte sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Ihre Haut fühlte sich unter der Hand ihrer Mutter glatt an, glatt, rosa und fett. Sie schauderte.
„Leonie. Hör mal. Du bist wunderschön.“ Zwar spürte Leonie, dass ihre Mutter meinte, was sie sagte, doch sie wollte es nicht glauben. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.
„Es kommt doch nicht auf deinen Körper an. Wichtig bist nur du. Denn deine Ausstrahlung manipuliert das Bild, was andere von dir bekommen.“ Ja. Das stimmte. Doch Leonie hatte Angst, dass ihr Körper alles in den Schatten stellen würde. Das ihr Körper so grotesk aussah, dass ihre Schwestern ihre Ausstrahlung vergessen würden und einfach nur ihre fetten Oberschenkel, ihren Bauch und den massigen Po anstarren würden, entsetzt, wie sie aussah.
Um ihrer Mutter zu zeigen, was sie meinte, ließ sie das Handtuch sinken und offenbarte ihren Körper. Peinlich berührt senkte sie ihren Blick, sie brachte es nicht fertig, ihrer Mutter ins Gesicht zu blicken, hatte Angst ihre Ängste bestätigt zu sehen.
Doch ihre Mutter reagierte anders.
„Was hast du denn da an? Das ist doch keine angemessene Kleidung für dich.“, sagte missbilligend. Sie blickte auf ihren Badeanzug.
„Warte mal.“, sie huschte aus Leonies Zimmer. Leonie hörte das leise Rascheln ihres Rockes, der ihr um die Füße spielte. Bevor Leonie weiter über ihr Problem nachdenken konnte, war ihre Mutter schon wieder da.
„Hier.“, sie reichte ihr etwas. Leonie nahm es und blickte es an. Es war ein Bikini. Bordeaux-Rot.
„Den hatte ich für dich gekauft. Ich hoffe er passt.“ Leonie lächelte.
„Danke.“, flüsterte sie. Ihre Mutter drückte ihre Hand, dann verließ sie Leonies Zimmer, damit sie sich umziehen konnte.
Der Bikini stand ihr wirklich besser als der Badeanzug. Etwas ermutigt ging sie hinunter an den Strand. Linda wartete schon ungeduldig.
Leonie holte tief Luft um das Handtuch in den Sand zu legen, dann hörte sie eine Stimme hinter ihr.
Marie war gekommen. Sie war blass und innerlich aufgewühlt, als habe sie einen Schock erlitten.
„Hi.“ Scharf beobachtete sie Marie. Sie wollte wissen, was passiert war.
„Kommst du mit schwimmen?“, fragte Linda sie. Marie zog die Stirn in Falten und wollte etwas erwidern, da mischte Elvira sich ein.
„Na komm, wollen wir uns umziehen gehen. Ich glaube Linda lässt uns ohnehin keine Wahl.“ Die Schwestern blickten sie überrascht an. Das dieses Angebot ausgerechnet von Elvira kam, war außergewöhnlich. Leonie lenkte den Blick ab, sie wollte nicht, dass Elvira dachte, dass sie das ungewöhnlich fanden. Sie wusste, warum Elvira so gehandelt hatte; sie hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie Linda schon einmal abgewiesen hatte.
Marie lachte leise, und sie gingen zusammen ins Haus.
„Sie ist gar nicht so abgekanzelt.“, meinte Leonie. Sie wusste, dass sie noch einiges tun musste, damit Elvira sich wieder in die Gesellschaft einordnete, dass sie aus ihrer Blase aussteigen würde, doch sie wusste auch, dass sie auf dem besten Weg dahin war.
Linda nickte. „Ich mag sie.“, sagte sie spontan, als würden sie über eine Mitschülerin sprechen, nicht über ihre Schwester.
„Äh…“, fing sie dann an zu stottern. „Ich meine…“ Leonie beruhigte sie. Sie wusste wie Linda es gemeint hatte.
Nach kurzer Zeit kamen Elvira und Marie aus dem Haus zurück. Sie trugen beide Bikinis. Als sie bei ihnen ankamen, legten sie zusammen die Handtücher ab. Einfach so. Ohne nachzudenken.
Keiner starrte sie an. Keiner war über ihren Körper entsetzt.

Kapitel 20
Elvira ließ sich in das kühle Wasser gleiten. Im Gegensatz zu Leonie und Marie hatte sie mit der Temperatur keine Probleme. Sie spürte die Sonne auf ihren Kopf scheinen und die Energie der Sonne schien sie aufzuputschen.
Das Wasser war schön kühl. Sie tauchte unter. Sie spürte ihre Locken, die jetzt glatt waren, an ihren Oberschenkeln. Im Wasser dehnten sie sich aus, weil die Locken sich glätteten und die Proteine, aus denen die Haare bestehen, die Keratine, sich im Wasser dehnen lassen.
Sie war schon tief genug um zu tauchen, also tauchte sie bis auf den Grund des Meeres. Sie öffnete die Augen. Im ersten Moment brannte das Salzwasser in ihren Augen, doch das ließ nach. Der Meeresboden war wunderschön. Fische schwammen um die Felsen, Algen wehten wie Gras in den Meeresströmungen und die Anemonen klebten an den Felsen.
Einen Moment genoss sie die Stille unter Wasser, dann tauchte sie auf und blickte sich zu ihren Schwestern um.
Linda kam schon auf sie zu geschwommen, Leonie und Marie zitterten noch ein bisschen in der Kälte. Sie mussten sich erst daran gewöhnen.
Das Wasser war nämlich nicht in der Mittagshitze am wärmsten, so wie Linda gemeint hatte. Das Wasser hat eine höhere spezifische Wärmekapazität, erwärmte sich also langsamer und gab die Wärme langsamer ab. Es war also günstiger, am späten Nachmittag ins Wasser zu gehen. Dann war auch die Außentemperatur niedriger, sodass die Umstellung nicht so groß war.
Elvira tauchte wieder unter. Unter Wasser war die Welt so viel schöner. Es war so bunt. Sie konnte Maries und Leonies Beine ausmachen, so klar war das Wasser. Langsam glitt sie durchs Wasser.
Das Wasser fühlte sich so klar und so rein an, dass Elvira sich richtig wohl fühlte.
Doch sie konnte sich trotzdem nicht richtig daran erfreuen. Sie wusste, sie würde nicht eher ruhen können, bis sie herausgefunden hatte, was Magie war.
Und wenn das hieß, dass sie bis dahin nicht richtig mit ihren Schwestern leben konnte, so unbeschwert, wie sie es früher auch gekonnt hatte, musste sie jetzt sofort anfangen, herauszufinden, was Magie war. Sie musste zu ihrer Mutter.
Schnell schwamm sie zurück, rief Linda zu, sie müsse noch etwas erledigen und lief über den Sand zurück ins Haus. Schnell zog sie sich um und band ihre nassen Haare im Nacken zusammen.
Sie lief wieder nach unten, sie meinte ihre Mutter auf der Veranda zum Wald hinaus gesehen zu haben. Hoffentlich war Anywa nicht bei ihr.
Sie hatte Glück. Ihre Mutter war allein auf der Veranda, ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Elvira zu ihr trat.
„Ich bin bereit.“, sagte Elvira ohne Umschweife.
„Ja, das dachte ich mir.“, antwortete Gabriella. „Setz dich.“, bot sie ihr dann an.
„Ich kann dir auch jetzt nur Theorien mitteilen, wenn ich dir versuche verständlich zu machen, was Magie ist.“ Ernst blickte sie Elvira an. Das Lächeln, das sie sonst so oft im Gesicht hatte, war nicht zu sehen.
Elvira nickte. Es durfte gar nicht anders sein.
„Du kennst bestimmt die Theorie, dass das ganze Universum nur aus Materie und Energie besteht.“, fing sie dann an. Natürlich kannte Elvira diese Theorie. Sie war die Grundlage vieler Werke, die sie gelesen hatte. Die Theorie machte Sinn. Und doch schien etwas zu fehlen. Wenn das Universum wirklich nur aus den beiden Stoffen bestand, woher kamen diese ganzen anderen Umstände? Die weit verbreiteten Sagen über Magie (die ja bestätigt worden waren) und Götter? Sie passten nicht in dieses Bild. Es waren Zufälle. Doch sie glaubte nicht an Zufälle.
„Die ist gar nicht so falsch. Sie haben recht, wenn sie behaupten, dass das Universum aus nur wenigen Stoffen aufgebaut ist. Doch es sind nicht zwei. Es sind drei. Magie ist der wichtigste Stoff der drei. Und der, der am wenigsten bekannt ist weil er am schwersten nachzuweisen ist und kaum Spuren hinterlässt. Die Urknall-Theorien sind zum Großteil Unsinn. Magie ist sozusagen der Vermittlerstoff zwischen Materie und Energie. Nur durch Magie kamen die beiden Stoffe zusammen. Magie ist es, das diese Stoffe zusammenhält. Das Universum entstand, als die Magie die beiden Stoffe zusammenbrachte und diese zusammen reagierten. Magie war also, wenn ich das so sagen darf, die Aktivierungsenergie. Wobei dieser Begriff nicht besonders passend ist.“
Elvira verstand. Sie verstand alles. Es war so klar. Das fehlende Teil war aufgetaucht. Jetzt ergab alles ein Bild. Wenn Magie der Vermittler war, ist klar warum der Urknall stattfand. Es ist klar, wie das erste Leben entstand. Es ist klar, woher der universelle Glaube an einen Gott herkam.
Ihr fiel dazu ein Buchauszug ein:

„Wie du weißt, benutzen Menschen nur einen kleinen Teil ihres Verstandes. Wenn man sie jedoch in angespannte Situationen versetzt, beispielsweise ein Verletzungstrauma, extreme Angst oder Freude oder tiefe Meditation fangen die Neuronen an, wie verrückt zu feuern, es entsteht eine massive Bewusstseinserweiterung. Nicht selten fallen dem Menschen in diesen Momenten bemerkenswerte Problemlösungen ein. Manchmal ist göttliche Erleuchtung nichts weiter als das Justieren des Verstandes auf etwas, dass das Herz längst weiß.“

Das Buch, Illuminati von Dan Brown zielte genau ins Schwarze. Vielleicht hatte sie deswegen diese Bücher immer besonders gerne gelesen. Dan Brown konnte wirklich überzeugend schreiben. Zwar hatte er bei der Recherche für seine Bücher (Illuminati, Sakrileg, Meteor, Diabolus) einige Fehler gemacht, doch die waren nicht schwerwiegend. Vielleicht war Dan Brown ja auch ein Magier? Doch das war unwahrscheinlich.
„Elvira, du weißt, dass das nur eine Theorie ist? Fixier dich nicht zu sehr darauf.“ Elvira nickte gehorsam, doch sie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Es musste einfach stimmen.
„Soll ich dir meine Magie zeigen?“, fragte Elvira. Sie wollte die Meinung ihrer Mutter zu ihrer Magie hören. Sie hatte ein so tolles Gefühl, doch sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Gabriella nickte. Wenn Elvira sie ihr zeigen wollte, musste sie dazu Fragen.
Elvira konzentrierte sich auf ihren Atem. Langsam, ganz langsam fiel sie wieder in die Art des meditativen Zustandes. Hier fiel es ihr fiel schwerer als am Strand. Es schien an ihren Kräften zu ziehen. Doch sie konnte jetzt nicht aufgeben, nicht jetzt, wo sie sie ihrer Mutter zeigen wollte. Jetzt wusste sie endlich, dass die Fähigkeit doch ihr Verdienst war, denn Magie war nur Verstärker von dem, was sie ohnehin gut konnte.
Sie öffnete die Augen und sah sich um. In ihren Augenwinkeln flackerte es. Was war das? Sie wusste, was es sein musste, doch sie wollte es nicht wahrhaben. Nicht jetzt. Sie musste ihrer Mutter zeigen, zu was sie fähig war. Schwerfällig hob sie einen kleinen Stein an, der unter der Veranda lag. Sie zitterte in der Luft. Sie durfte jetzt nicht nachgeben. Sie musste beweisen, dass sie gut war. Das war die Hauptsache.
Wieder begann es in ihren Augenwinkeln zu flimmern. Das Bild verschwamm. Sie hasste es. Jetzt konnte sie nicht aufhören, sie würde nicht aufgeben. Sie hatte keine Angst. Alles war ruhig, sie hörte nur das Klopfen ihres Herzens und ihren Atem. Und den Atem ihrer Mutter.
Sie hatte keine Kraft mehr, den Stein in der Luft zu halten. Sie musste etwas tun, jetzt, etwas Beeindruckendes. Der Stein landete sanft auf der Brüstung der Veranda. Perfekt ausbalanciert. Er würde nicht hinunterfallen. Erschöpft löste sie sich aus dem meditativen Zustand.
Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Scheinbar lässig schien sie an der Brüstung der Veranda zu lehnen.
„Elvira.“, sagte ihre Mutter sanft. Sie hatte wohl doch etwas gemerkt.
„Es geht mir gut.“, stellte sie klar. Das war gelogen. Sie log ihre Mutter an. Nur, weil sie nicht schwach erscheinen wollte. Und damit sich ihre Mutter keine Sorgen um sie macht. Sie wusste selber, dass das nur eine Ausrede war, doch es war ihr egal. Sie war, wie sie war.
„Du selber kennst deine Kraft am besten, du musst wissen, wann du Schluss machst. Wann du dich selber überschätzt.“ Eindringlich blickte Gabriella ihre Tochter an. Elvira schämte sich. Jetzt war sie soweit gekommen, dass sie von ihrer Mutter ermahnt werden musste. Das wollte sie nicht. Ihre Augen verengten sich.
„Es liegt nur an der Lage hier. Im Schatten wird meine Kraft eingeschränkt. Ich schöpfe meine Kraft aus der Sonnenenergie.“, sagte sie stattdessen. Es war ihr aufgefallen. Sie fröstelte hier im Schatten. Sie war nicht mehr so stark. Sie musste in die Sonne.
„Du bist wirklich aufmerksam. Das ist gut. Man muss früh genug wissen, was seine Kraft ausmacht.“ Jetzt war sie wieder die Aufmerksame. Es tat ihr gut gelobt zu werden, und doch spürte sie etwas Missmut. So schnell konnte sich die Meinung nicht ändern.
„Man sollte sich selber kennen. Das ist die Quelle allen Wissens.“ Sie wusste nicht mehr, wo sie das gehört oder gelesen hatte, aber dass sie es nicht selber formuliert hatte konnte jeder hören. Trotzdem passte es ziemlich gut.
Gabriella nickte. Sie schien nachdenklich zu sein.
„Du solltest darauf achten, dass du immer in der Sonne bist, wenn du deine Kraft ausübst.“ Elvira nickte. Natürlich. Was sonst.
„Aber wann soll ich meine Kraft einsetzten? Wofür ist sie gut? Wann benötige ich sie?“
„Das wirst du selber noch früh genug erfahren. Am besten solltest du deine Kraft regelmäßig benutzen, nur damit du nicht vergisst, wie sie zu handhaben ist. Ich hoffe, wir werden nicht in die Situation kommen, in der wir auf sie angewiesen sind.“ Sie wandte sich ab. Sie starrte auf den Wald. Fokussierte nichts. Sie dachte wohl nach. Dachte an die glücklichen Zeiten, als die Familie noch zusammen gewesen war. Warum musste man gerade ihre Familie teilen?
Sie wusste ganz genau, was ihre Mutter gerade dachte. Denken könnte.
Gabriella kam ihr kaum vor wie eine Mutter. Noch immer war sie die Lehrerin, die sie von weitem angehimmelt hatte, die Frau auf dem Flohmarkt, die sie nicht kannte. Es war so ungewohnt, dass sie eine Familie hatte, dass so wundervolle Menschen mit ihr verwandt sein sollten. Es fiel ihr leichter zu akzeptieren, dass sie außergewöhnliche Kräfte hatte, als dass sie eine Familie hatte, die sie liebte.
Das war logisch. Sie hatte für die außergewöhnlichen Kräfte jetzt eine rationale Erklärung. Eigentlich müsste sie sich jetzt doch freuen? Erleichter sein? Warum war sie das nicht? Vielleicht hatte sie tief im Herzen gewusst, dass es eine Erklärung gab. Sich darauf verlassen. Vielleicht war die Enttäuschung deshalb so viel schlimmer als Freude gut tat. Sie erwartete zu viel?
Ihre Mutter hatte sich abgewandt. Ihre sonst so freundlichen, einladenden Züge waren erschlafft. Sie sah traurig aus. Was konnte sie tun? Wie konnte sie ihr helfen?

Linda schwieg. Sie wusste, was Elvira machen wollte. Sie wussten es alle. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Es war gut, dass sie jetzt ging. Sie hatte sich Vorwürfe gemacht, hatte Zweifel. Es konnte nur besser werden. Sie durfte es nicht mit sich herum tragen, das würde ihr nur wehtun.
„Marie?“, fragte Leonie und riss Linda aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um. Was war mit Marie? Doch sie sah nichts Außergewöhnliches. Marie schwamm neben Leonie.
„Hmm?“, fragte Marie. Verwirrt drehte sie ihren Kopf zu Leonie.
„Was ist los? Du bist so abwesend.“ Linda runzelte die Stirn. War Marie abwesend gewesen?
„Ja, ich… Ich dachte nur gerade nach.“ Ja. Genau. Das war ja nichts Ungewöhnliches. Warum fragte Leonie dann so?
„Worüber?“, fragte Leonie weiter. Sie fixierte Marie.
„Über Anywa. Sie ist merkwürdig.“ Merkwürdig. Pah. Anywa ist unfreundlich. Sie denkt, dass sie so toll ist, dass sie sich in alles einmischen darf, aber sie tut so, als ob sie eine tolle Dienerin wäre. Sie ist nicht merkwürdig. Sie ist egozentrisch.
„Egozentrisch?“, meinte Leonie. Mist. Sie hatte wieder extrem laut gedacht.
„Ich würde nicht gerade sagen, dass sie egozentrisch ist. Sie ist mehr, hmm, etwas ambivalent.“
„Ambivalent?“, fragte Linda skeptisch. Was sollte das denn sein? Leonie konnte sie doch nicht mit Fremdwörtern zu zu texten. Sie musste doch wissen, dass sie keine Ahnung davon hatte.
„Ja. Ambivalent. Also voller Gegensätze. Ambivalenz ist, wenn eine Sache oder Person zwei Seiten hat, meistens zwei Gegensätze. Bei Anywa ist es genauso. Deswegen kommt sie mir so merkwürdig vor. Sie ist einerseits distanziert, andererseits jedoch sehr persönlich. Sie ist zwar darauf bedacht, nicht mit uns zu essen, aber sie bietet uns ganz persönliche Hilfe an. Sie fragt, wie es uns geht.“ Hmm. Ja, vielleicht hatte Leonie recht. Aber Leonie war so besserwisserisch, als ob wir schlechter sind.
Linda erschrak. Jetzt hatte sie schon so eine Abneigung gegen ihre Schwester. Wenn das jetzt schon losging, wie sollte es dann werden, wenn sie länger zusammen waren? Sie tauchte unter. Sie wollte nicht, dass Leonie ihr noch mehr Anlass gab, Abneigungen zu entwickeln.
Doch sie wusste ganz genau, dass abhauen auch keine Lösung war. Sie brauchte ihren Freiraum. Sie hatte jetzt zwar nicht mehr so viel wie im Waisenhaus, aber genug. Sie lebte jetzt in einer Familie.
Es sollte etwas passieren. Sie konnte nicht so lange hier rumsitzen (schwimmen) wenn nichts passierte. Sie wusste genau, dass viel passieren musste, sie mussten so viel erledigen, so viel Druck lastete auf ihnen, aber sie saßen (schwammen) nur rum. Das passte nicht. Nicht zu ihr.

Plötzlich hörten sie Motorengeräusch. Sie drehten sich um. Wer sollte zu ihnen kommen? Wer konnte zu ihnen kommen? Es wusste doch keiner die Adresse?
Schnell stiegen sie aus dem Wasser. Linda blickte verwirrt, Marie leicht verängstigt. Sie war in Panik. Konnte es sein? Konnte jemand Böses ihren Wohnort ausfindig gemacht haben? Sie waren jetzt begehrt. Der Mann, der ihren Vater angegriffen hatte und für ihre Trennung verantwortlich war, konnte zurückkommen.
Sie liefen zu ihren Handtüchern. Jetzt waren sie alle nervös. Schnell gingen sie ins Haus. Sie trafen Gabriella und Elvira auf der Veranda.
Der Motor war abgestellt und eine Wagentür knallte. Jetzt waren Schritte zu hören. Gleich, wenn die Person um die Kurve ihrer langen Einfahrt kommen würde, würden sie mehr wissen. Leonie versuchte sich zu beruhigen. Jeder konnte kommen. Alles war gut.
Doch die Atmosphäre sagte etwas anderes. Auch ihre Mutter war nervös. Ein Knarzen. Anywa war hinter sie getreten. Sie schwitzte. Ihre Handflächen waren nass und rutschig. Sie glitten an ihrer Haut ab und ihr Handtuch rutschte einige Zentimeter hinab.
Dann sahen sie ihn. Es war ein Mann. Er war komplett in Schwarz gekleidet. Der Mann trug eine Sonnenbrille und kam alleine. Sein Erscheinen war elegant. Doch es schien eine Warnung von seinem Aussehen auszugehen. Achtung, ich bin bissig.
Mit einer schnellen Bewegung zog er die Sonnenbrille ab und steckte sie in die schwarze Hemdtasche. Sie waren vollkommen starr.
War er es? War das der Mann, der ihren Vater angegriffen und höchstwahrscheinlich auch getötet hatte? Sie versuchte aus den Gefühlen ihrer Mutter eine Antwort zu bekommen, doch sie verrieten nichts. Gabriella war vollkommen ruhig.
Sobald der Mann in Hörweite gekommen war, sagte er, mit einer leisen Stimme, die die Veranda zum Vibrieren brachte:
„Gabi.“ Er nannte ihre Mutter beim Vornamen. Noch dazu bei einem Kosenamen. Wer war das? Sie blickte ihre Schwestern an. Linda war verwirrt, Marie verängstigt, nur aus Elviras Gesicht schien sie eine Antwort zu kriegen, Entsetzten spiegelte sich in ihren Augen.
Es war der Mann. Konnte das sein? Das durfte nicht sein.
„Herr Braun.“ Wenn es der Mann war, warum unternahm ihre Mutter nichts? Sie konnte sie doch nicht einfach hier lassen. Schutzlos.
„Warum so förmlich? Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Ein Lächeln spielte um seine Lippen.
Dann, ungefähr zwei Meter vor der Veranda, blieb er unvermittelt stehen.
„Gabi. Was soll das denn?“, tadelnd blickte er zu ihr auf. Leonie verstand nicht. Gabriella und dieser Herr Braun standen einfach nur da, er lächelnd, sie gleichgültig. Sie waren vollkommen still. Was war hier los?
Er hob etwas Sand in die Höhe und ließ es kirschrot erleuchten. Dann warf er es vor sich in die Luft.
Es geschah etwas Merkwürdiges. Der Sand flog zwar weiter durch die Luft, war aber plötzlich nicht mehr rot. Wie konnte das sein? Was war das?
„Keinen Schritt weiter.“, kühl blickte ihre Mutter ihn an. Leonie empfand Bewunderung für ihre Mutter. Sie war ruhig und beherrscht, obwohl sie den Mörder ihres Mannes vor sich stehen hatte.
„Gabi. Misstraust du mir?“ Er lächelte immer noch gewinnend. Wie ein Gebäudemakler, der mit seinem Lächeln ein völlig unattraktives Haus verkaufen wollte.
„Was hast du mit Niccolò gemacht?“, fragte sie ruhig.
Herr Braun verlor sein Lächeln. „Gabriella. Du weißt doch. Es war nötig. Ich habe es dir erklärt. Du weißt, was du zu tun hast. Es ist notwendig. Wir schweben sonst in Lebensgefahr.“ Was erzählte der Mann? Es war vernünftig. Wenn ihre Mutter etwas so Gefährliches abwenden konnte, warum tat sie es dann nicht? Doch sie war überzeugt, dass ihre Mutter wusste, was sie tat.
„Sie sind schon groß geworden. Ihre Kräfte sind aktiviert. Es hat alles aus dem Gleichgewicht gebracht. Jeder hat es gespürt. Es ist gefährlich. Sie sind gefährlich. Noch kannst du ihnen die Kräfte entziehen. Ich kann dir helfen.“ Was erzählte er da? Um wen ging es? Doch ein Blick in Elviras Gesicht sagte ihr, wen der Mann meinte. Sie waren gefährlich. Sie hatten mächtige Kräfte, die alles aus dem Gleichgewicht zu bringen schienen. Ihnen mussten die Kräfte wieder entzogen werden. Deswegen hatte er ihren Vater ermordet. Deswegen wollte er ihre Mutter dazu bewegen, ihm zu folgen.
„Nein. Du weißt ganz genau, wie wichtig es ist.“, widersprach Gabriella. Damit provozierte sie den Herrn, Gewalt einzusetzen. Oder besser, Magie.
„Ich weiß, dass es schwer. Ich kann dir helfen.“, versuchte der Mann sie wieder zu überzeugen.
„Nein.“ In diesem einfachen Wörtchen steckte eine Stärke, dass der Mann aufgab, sie weiter zu überreden.
„Du weißt, was ich jetzt tun muss.“
Gabriella funkelte ihn an. Ihre braunen Augen verrieten ihre innere Kraft.
Anywa trat hinter den Schwestern hervor. Sie stellte sich Herrn Braun entgegen.
„Du kannst mich nicht daran hindern, Gabriella. Und du schon gar nicht, Shuj Tishka Ameda.“ Langsam drehte er sich um und setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Langsam, ganz langsam ging er die Auffahrt wieder hinauf. Man hörte eine Wagentür schlagen, dann das Motorengeräusch. Es entfernte sich. Kaum war es wieder still, gaben Gabriella und Anywa die Kampfposition vor den Schwestern auf. Sie warfen sich einen Blick zu, dann lief Anywa geschäftig ins Haus zurück.
Ihre Mutter war nicht mehr ruhig, ihr Gesicht war nicht mehr ausdruckslos. Sie war nicht verzweifelt, nein, sie war eher resigniert.
„Du musst uns nichts erklären, wenn du nicht willst.“, sagte sie, sie wollte kein Klotz an dem Bein ihrer Mutter sein.
„Doch.“, widersprach ihr ihre Mutter. „Es ist wichtig für euch.“
Gespannt blickten die Schwestern ihre Mutter an. Was war so schlimm, so gefährlich an ihnen, dass Herr Braun sich dazu gezwungen sah, sie anzugreifen und ihren Vater zu ermorden?
„Vor einiger Zeit haben euer Vater und ich eine Entscheidung gefällt, die Herrn Braun gründlich missfällt. Diese Entscheidung betraf euch, deswegen will er mich überzeugen, es rückgängig zu machen. Doch das wollen wir nicht, wir haben uns geschworen, dabei zu bleiben. Ich kann euch leider nicht mehr dazu sagen. Wir müssen uns jetzt vor ihm schützen. Er würde euch gefangen nehmen. Das darf nicht passieren. Anywa und ich werden uns darum kümmern. Einen Schutzwall errichten, das habt ihr ja schon gesehen. Ihr müsst leider im Haus bleiben. Ich bitte euch, bleibt hier.“
Sie wussten nicht mehr als vorher. Doch Gabriella hatte ihnen gesagt, dass sie ihr vertrauen mussten, und das würden sie.
„Natürlich bleiben wir hier. Können wir nicht sonst helfen?“
„Nein. Ich denke nicht. Aber wenn euch das Thema interessiert, ich hätte ein Buch über magische Schutzvorrichtungen in meinem Zimmer. Wenn ihr wollt, kann ich es holen.“ Gabriella blickte zu Elvira.
„Ja. Das wäre nett.“, sagte diese. Gabriella nickte. Doch sie sah wieder abwesend aus. Wahrscheinlich war sie mit ihren Gedanken noch bei Herrn Braun.
Sie ging und ließ die Schwestern alleine. Sie blickten sich an. Leonie hatte plötzlich das Gefühl, als wären sie sich vollkommen fremd. Sie starrte in die Gesichter ihrer Schwestern, doch sie schien sie nicht mehr wieder zu erkennen. Was war los?
Jetzt, gerade jetzt mussten sie doch…
Gabriella kam wieder.
„Hier“, sie reichte Elvira ein dünnes Buch mit einem alten Einband. Elvira betrachtete es interessiert. Auf dem roten Einband war ein Pentagramm zu sehen, sonst nichts.
„Tut mir leid, aber ich habe jetzt keine Zeit mehr.“
Sie ließ sie alleine. Die Schwestern. Disharmonisch waren sie geworden. Es gab noch nicht einmal einen richtigen Grund.
„Entschuldigt mich.“, sagte sie. Sie wollte nicht einfach auf der Veranda stehen bleiben. Sie konnte nicht mehr alleine mit ihren Schwestern sein, wenn sie nichts zu tun hatten. Sie musste für sich bleiben und nachdenken. Sie musste etwas daran ändern können.
„Hmm.“, machte Linda. Elvira schien sie nicht zu beachten und Marie nickte nur.
Sie ging ins Haus. Es war kühl im Haus. Sie fröstelte. Es war still im Haus. Totenstill. Sie hörte weder Anywa noch Gabriella. Plötzlich sehnte sie sich nach ihrer Mutter. Nach jemandem, zu dem sie gehen konnte, wenn sie Probleme hatte, der sie alles erzählen konnte und die dann alles für sie erledigte. Sie musste nicht mehr diejenige sein, die alles konnte. Die die Mutter vertrat, für alle, die eine solche Person brauchten. Sie hatten doch jetzt eine Mutter.
Aber die hatte gerade wichtigere Dinge zu tun. Sie musste sie vor Herrn Braun schützen.
Herr Braun war ihr bedrohlich vorgekommen. Sie hatte bei ihm nichts gespürt, als wäre er nicht da. Wahrscheinlich hatte er sich magisch abgeschirmt. Eigentlich sah er ganz gut aus für einen Mann seines Alters, aber in seinen schwarzen Sachen sah er so erhaben aus, so korrekt, was er jedoch nicht sein konnte, wenn er ihnen einfach, aufgrund einer Vermutung, die Magie nehmen wollte. Sie konnte schon jetzt nicht mehr auf die Magie verzichten, dass wusste sie.
Warum war sie jetzt so deprimiert? Sie hatte überhaupt keinen Grund dazu. Okay. Herr Braun war gekommen. Doch das war doch nur eine Frage der Zeit gewesen, irgendwann musste er kommen. Er hatte noch keine Gewalt angewandt. Vielleicht konnten sie eine friedliche Lösung finden.
Eine friedliche Lösung wofür?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreise. Sie musste zurück zu ihren Schwestern. Obwohl sie eben noch hatte allein sein wollen, musste sie zurück. Nur zu viert waren gut.
Sie zwang sich die Treppe hinunterzusteigen. Sie konnte die Anwesenheit von Linda, Elvira und Marie im Wohnzimmer spüren. Sie konnte sich die Situation gut vorstellen, Marie hockte auf dem Sofa, klein, zusammengekauert, Elvira auf dem Boden mit dem Buch zu ihren Füßen, Linda ging auf und ab.
Als sie über die Schwelle trat, blickte Elvira sie an. Es war kein ungeduldiger Blick, er war auch nicht abneigend, aber Zuneigung lag auch nicht darin. Einfach gleichgültig.
„Also. Sollen wir etwas machen?“, fragte sie dann.
Etwas machen? Was konnten sie denn tun? Sie waren nur vier Mädchen.
„Natürlich.“, antworteten Linda und Marie gemeinsam. Aufmerksam blickten sie jetzt Elvira an.
Diese schaute wieder zu Leonie. Sie erwiderte den Blick gleichgültig. Wie Elvira. Sie spürte von ihr nur die bloße Anwesenheit, keine Gefühle. Wahrscheinlich hatte sie ihre schon vor ihr verbogen. Eingebildetes Mädchen.
„Leonie?“, fragte sie. Es ist doch so wie so egal.
„Schutzzauber sind relativ einfach aufgebaut. Man braucht immer eine Quelle der Kraft für den Zauber. Wenn man den Zauber aus dem Gegenstand selber wirken kann, ist er am erfolgreichsten. Das heißt, wenn ich einen Schild um mich herum errichten würde, wäre der stabiler, weil ich selber die Quelle der Kraft bin.
Oft nimmt man dann Elemente als Quelle. Für ein Schiff würde sich zum Beispiel das Wasser oder der Wind anbieten. Dieser Schild spiegelt dann die Eigenschaften der Quelle wieder. Ein Schild mit der Quelle von einem Felsen zum Beispiel wäre hart, aber nicht flexibel. Ich schlage deswegen vor, dass wir mehrere Elemente zu Quellen machen.“
Keiner widersprach. Leonie wollte etwas sagen, doch sie konnte es nicht. Was sollten denn sie vier Kinder machen können, was Anywa und Gabriella nicht konnten. Dachte Elvira wirklich, dass sie sinnvoller wären?
„Dann nimmt jeder ein Element. Ich nehme die Sonne.“
„Ich den Wald.“, sagte Marie sofort.
„Hmm. Dann nehme ich das Wasser.“, spann Linda weiter. Als wäre es ein Spiel, wo es um die Auswahl der Spielfiguren geht.
„Leonie?“, fragte Linda. Etwas ungeduldig scharrte sie mit den Füßen. „Was meinst du ist die stärkste Kraft?“
„Die Menschen.“, antwortete Leonie sofort, bereute es jedoch direkt. Toll. Jetzt musste sie weiter mitspielen. Elvira blickte sie nachdenklich an. Na, hatte sie wieder etwas auszusetzten? Doch sie machte weiter, ohne etwas zu dem zu sagen, was sie dachte.
„Wir sollten uns hinsetzen, im Kreis. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert.“ Sie setzten sich, obwohl Leonie keine Lust hatte. Sie wollte Marie und Linda nicht die tröstliche Vorstellung nehmen, dass sie etwas taten, und dass sie ihrer Mutter helfen konnten.
„Es ist schwierig. Wir müssen uns voll und ganz auf das Element konzentrieren, müssen uns vorstellen, was es bewirkt, wie es aufgebaut ist, was seine Stärken und Schwächen sind. Dann müssen wir so einen merkwürdigen Vers aufsagen. Ich weiß nicht, was es bedeutet.“, sie deutete auf eine Stelle im Buch. Die Zeilen waren abgehoben und mit Absätzen von dem Rest getrennt, sodass sie hervorstachen:

Ariadiamus late,
Ariadiamus da,
Aria natus late,
Adua

Ich meine, es müsste afrikanisch sein, aber ich bin mir nicht sicher.“, meinte Elvira. Keiner widersprach. Wie auch. Elvira zu widersprechen war sinnlos. Sie konnte keinen Fehler einsehen. Selbst wenn sie sich vertan haben sollte, würde sie dies abstreiten. Die Formulierung, dass sie sich nicht sicher sei, benutzte sie nur so, damit keiner dachte, sie sei zu überheblich.
„Also los. Konzentriert euch.“ Sie fassten sich an den Händen. Leonie hielt Maries zarte Hand in der einen und Lindas, etwas raue Hand, in der anderen. Elvira war so naiv. Als ob sie irgendetwas tun könnten. Selbst wenn sie einen Schutzzauber aussprechen konnten, und er wirklich wirken würde, wäre er so schwach, dass Anywa und Gabriella es auch schaffen würden. Aber wie sollte man überhaupt ein Haus schützen können? Sie würden sich lediglich selber einsperren und der Gegner brauchte solange auf den Schutz einzuschlagen, bis er nachlassen würde. Möglicherweise hatte Herr Braun sogar Verstärkung. Was nutzen da Schutzzauber?
Elvira war egoistisch. Sie hielt sich selbst für brillant. Heute wollte sie die Rolle der Mutter übernehmen, sie wollte mal dafür sorgen, dass Linda und Marie sich gut fühlten. Sie wollte Sie ersetzten.
„Ariadiamus late, Ariadiamus da, Aria natus late, Adua“ sie sprachen die Worte, ohne richtig zu wissen, was sie taten. Auch Leonie sprach sie mit. Was sollte sie sonst machen.

Kapitel 21
Linda trat hinaus in den Sonnenschein. Die Veranda war warm. Angenehm. Irgendwie war ihr kalt geworden, als sie den Zauber gesprochen hatten. Es war wahrscheinlich dadurch gekommen, dass sie sich auf das Wasser konzentriert hatte. Wasser war kühl. Flexibel. Eine Naturgewalt, sanft, aber doch gefährlich. Wasser konnte töten. Wasser konnte man kaum aufhalten. Ihr Zauber war wahrscheinlich nicht besonders stark, konnte aber eine Barriere darstellen. Sie wollte einen Teil zu ihrem eigenen Schutz dazutun. Sie mussten sich nichts vormachen, ihre Mutter wollte nur sie schützen. Es ging nur um sie. Irgendwas hatten sie, dass sie nicht haben sollten. Das Herr Braun nicht mochte.
Wie konnte das sein? Scheinbar hatte er nach ihrer Geburt erfahren, dass etwas nicht stimmte. Das etwas nicht so war, wie es seiner Meinung nach hätte sein sollen. Vielleicht waren sie einfach zu stark. Deshalb hatte er sie angegriffen und dabei ihren Vater getötet. Aber warum hatte er nicht versucht sie zu finden, als sie schutzlos im Waisenhaus waren? Vielleicht konnte er sie nicht finden. Sie hatten ja auch keine Magie gehabt.
Dann hätte er aber kommen müssen, wenn ihre Magie wiedergekommen war. Als Elvira dieses Bekenntnis gelesen hat. War danach etwas passiert? Sie war auf die andere Schule gekommen.
Sie schauderte. Vielleicht hatte ihr das das Leben gerettet. Bilder tauchten vor ihren Augen auf, Menschen, Pistolen, tote Körper fallen zu Boden…
Ihr stockte der Atem. Konnte das sein? War das möglich?
Marie trat neben ihr auf die Veranda.
„Marie!“, sagte sie laut. Marie zuckte zusammen.
„Weißt du noch? Damals, als der Amokläufer an eurer Schule war?“
Marie nickte langsam. Natürlich. Eleonora war gestorben, bei dem Versuch, sie zu retten.
„Glaubst du, dass es was mit Herrn Braun zu tun hatte, dass er den Amokläufer geschickt hat? Man konnte uns doch erst dann finden, weil unsere Magie wieder aktiviert war. Glaubst du, er hat direkt eingegriffen?“
„Das habe ich auch schon überlegt. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Herr Braun scheint eher ruhig zu sein. Er hätte bestimmt nicht einfach so einen Mörder losgeschickt, ohne mit uns oder unserer Mutter gesprochen zu haben.“
Trotzdem war Linda nicht beruhigt. Sie waren so schutzlos gewesen. Aber, Schluss damit. Das ist vorbei. Jetzt ist es wichtiger, für den Schutz dieses Hauses zu sorgen.
Elvira las weiter in dem Buch, dass ihre Mutter ihr gegeben hatte. Vielleicht fand sie ja noch etwas, was ihnen helfen konnte. Ihre Mutter hätte ihnen das Buch nicht gegeben, wenn sie nicht beabsichtigt hätte, dass sie, aus eigenem Antrieb, auch etwas tun wollten. Das war geschickt gewesen. Sie hätte zu gerne gewusst, wie stark ihr Zauber im Vergleich zu anderen war.
„Elvira?“, sie drehte sich um und ging zurück ins Haus, wo Elvira noch immer auf dem Boden saß, das Buch vor ihr. Sie blickte auf.
„Sag mal, wie stark ist unser Zauber wirklich?“, fragte sie sie direkt.
„Der Zauber ist immer so stark wie die Elemente. Ich nehme an, er dürfte relativ gut sein, die Sonne ist sehr stark hier, der Wald auch, das Wasser ist immer gut und die Menschen, ja. Das ist so eine Sache. Wenn man so einen Zauber mit der Sonne als Quelle nimmt, wird die Sonne keinen Schaden nehmen, da wir ja nur die Auswirkungen der Sonne auf dieses Haus hier in Anspruch nehmen, wir zapfen also nicht direkt die Kraft der Sonne an. Aber wenn man einen Zauber mit Lebewesen als Quelle wirkt, wird die Kraft von den Menschen direkt abgezogen. Auf jeden Fall wenn man an bestimmte Menschen gedacht hat. Ich nehme an, Leonie“, sie blickte sich um, doch Leonie war nicht mehr im Wohnzimmer. „Hat an die Stärken der Menschen gedacht, also die Gefühle oder den freien Willen. Wenn es so ist, verhält es sich wie mit Sonne und Wasser.“
„Und was ist mit dem Wald?“, fragte Marie, ihre weiten Augen weit aufgerissen. „der Wald besteht doch auch aus Lebewesen?“
Elvira blickte Marie an. „Du hast an unseren Wald hier gedacht, nicht wahr? Na. Eigentlich dürfte es keine schlimmen Folgen haben. Ich habe noch nicht viel über die Magie erfahren, aber alle Lebewesen haben in ihrer DNA ihre Lebensmagie. Jedes Lebewesen, hat zwar unterschiedlich viel Magie, aber es kommt dabei nicht auf die Größe oder Bedeutung des Lebewesens an. Deshalb hast du die Lebensmagie aller Ameisen, Bäume, Vögel und alle Lebewesen mit eingeplant. Das dürfte reichen, um die Gesamtheit vor Schäden zu schützen.
Deshalb muss man sich immer ganz genau überlegen, wie man diesen Zauber ausspricht. Das gestaltet sich meistens etwas schwierig, weil man ja an dieses Element denken muss, weil man es fokussieren muss. Man sollte die Kontrolle der Gedanken lernen. Man muss sie beherrschen können. Stellt euch nur mal vor, ihr hättet in der letzten Sekunde an Gabriella gedacht, dann hättet ihr ihre Lebensmagie in den Schild fließen lassen. Wenn er angegriffen würde, würde sich diese Magie verbrauchen, erschöpfen. Was wäre dann mit Gabriella?“ Linda schüttelte sich. Das war wirklich heftig.
Warum hatte Elvira sie dann diesen Zauber aussprechen lassen, wenn sie doch wusste, wie schwierig er doch war. Sie wusste, dass sie nur an das Meer gedacht hatte, und zwar an die Weltmeere, welche Konsequenzen sie haben konnten und welche Gewalt von ihnen ausgehen kann, aber was war, wenn eine ihrer Schwestern an etwas anderes gedacht hatte, wenn sie abgelenkt gewesen war?
Doch sie schob die Gedanken von sich und versuchte, sich zu beruhigen. Elvira hatte das Risiko gekannt, sie hatte auf die Fähigkeiten ihrer Schwestern vertraut, dann sollte sie das auch tun.
„Wie stark ist er denn jetzt so im Vergleich?“
„Naja. Also ich hab versucht ihn dorthin zu legen, wo der unserer Mutter auch schon war. Dabei hab ich versucht zu spüren, wo der war. Der Zauber unserer Mutter ist, soweit ich es beurteilen kann, schwächer als unserer.“
Linda nickte. Dann hatten sie wirklich etwas bewirkt und es war das Risiko wert gewesen.
„Stimmt. Das ist er.“ Anywa trat langsam ins Wohnzimmer. „Wir sind auch fertig mit den Vorbereitungen. Das Haus ist optimal geschützt. Kommt, wir gehen zu Gabriella. Wir können jetzt nur noch warten.“ Sie folgten Anywa. Linda war angespannt. Jeden Moment könnte Herr Braun wiederkommen. Er konnte ihren Schild angreifen.
Doch Elvira schien ganz entspannt.
„Elvira? Wie kannst du so locker sein?“
Elvira blickte erstaunt auf. „Na, so wie Herr Braun erschien, denke ich nicht, dass er überstürzt handeln wird. Er wird erst wiederkommen, wenn er einen Plan hat.“
Sie folgten Anywa in das Zimmer ihrer Mutter. Sie saß auf dem Bett und schien hochkonzentriert.
„Sie versucht Herr Brauns Anwesenheit zu spüren. Sie hat extra ein paar Lücken im Schild gelassen.“ Lücken im Schild? Bestimmt waren diese Lücken nur wie Einwegglas, sie konnte durchgucken, aber Herr Braun nicht. Oder?
Was, wenn es nicht so war? Wenn Herr Braun diese Lücken nutzen konnte? Was, wenn es für ihn ganz einfach war, ihren Schild zu durchbrechen? Er wird erst wiederkommen, wenn er einen Plan hat. Und wenn er schon einen Plan hat? Dann konnte er jede Sekunde kommen und ihre Magie wegnehmen. Sie konnte nicht begreifen, was an ihrer Magie so schlimm sein konnte, dass er sie unbedingt abziehen musste. Er wollte sie aussaugen wie mit einem Strohhalm.
Ungeduldig ging sie auf und ab. Anywa hatte sich neben Gabriella gesetzt und ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Marie und Elvira standen still in einer Ecke des Zimmers und Leonie kam gerade herein. Sie stellte sich in die andere Ecke des Zimmers. Was war mit ihr los? Es war eine Gefahrensituation, sie konnte doch nicht genau jetzt auf beleidigte Zicke machen. Linda war wütend. Genau jetzt musste Leonie zu ihnen halten. Sie konnte nicht jetzt, wo die Lage so ernst war, sie abkapseln.
Die Minuten zogen sich. Sie ging auf und ab, auf und ab. Nichts schien sich zu verändern, als sie wieder an der einen Seite des Zimmers ankam, schien sich der Vorgang zu wiederholen, wieder ging sie zu der gegenüberliegenden Seite, und wieder kehrte sie zurück. Dann nochmal. Hing sie in einer Zeitschleife? Konnte das sein? Sie hatte oft von Zeitschleifen gehört. Für immer musste man alles gleich machen. Nie würde die Zeit wieder normal verlaufen.
Sie blieb stehen. Sie wollte nicht in einer Zeitschleife sein.

Es waren Stunden verstrichen. Oder waren es nur Minuten, Sekunden? Marie konnte es nicht sagen. Nichts änderte sich. Alles blieb gleich. Sie stand in einer Ecke mit Linda, Leonie stand in einer anderen Ecke, Linda stand am Bett. Die ganze Aufmerksamkeit war auf ihre Mutter gerichtet. Sie saß vollkommen reglos auf dem Bett, Anywa neben ihr, sie versuchte die Anwesenheit von Herrn Braun zu spüren. Anywa hatte gesagt, dass sie extra bestimmte Löcher in dem Schild gelassen hatten. Diese Löcher waren bestimmt wie die Poren in Zellmembranen. Nicht für alles durchlässig.
Marie versuchte sich auf die Membranen zu konzentrieren, nicht auf Schutzzauber oder Herrn Braun. Sie musste an etwas anderes denken, etwas das sie ablenkte, bis endlich wieder etwas passierte. Sie wollte, dass etwas passierte. Oder nicht? Sie hatte auch Angst vor der Aktion. Was, wenn Herr Braun wirklich kam?
Membranen. Membranen bestehen aus Proteinen und Lipiden. Lipide sind meistens das Cholesterin. Die komplizierteste Membran war die des Mitochondriums, wo die Zellatmung stattfand. Ein Zellorganell, das in allen Eucyten vorkam. Also in allen Zellen von Tieren und Pflanzen. Hier fand die „Verbrennung“ von dem Zucker, also der Glucose statt. Dadurch gewannen Zellen Energie.
Ihre Aufmerksamkeit schweifte wieder ab. Warum konnte sie sich nicht mehr auf ihre Biologie konzentrieren? Sie war so interessant.
Die DNA besteht aus den vier Molekülen, den Nukleobasen. Sie hießen Thymin, Adenin, Guanin und Cytosin. Sie fügten sich aneinander. Thymin immer zu Adenin, Guanin immer zu Cytosin. Anders ging es nicht. Durch eine Abfolge dieser Moleküle konnten Informationen gespeichert werden.
Ihre Gedanken waren durcheinander. Sie konnte noch nicht einmal so einfache Sachen mehr erklären. Wenn das irgendwer hören könnte, würde er nichts verstehen.
Die Luft schien eingefroren zu sein, sie war ganz dick. Dick und unbewegt stand sie im Zimmer. Wie dickflüssige Brühe. Marie wollte zum Fenster gehen und es öffnen, doch sie konnte nicht. Ihre Muskeln wollten oder konnten ihr nicht gehorchen. Sie stand einfach weiter still da.
Langsam wurde es dunkel. Jetzt hatte sie wenigstens eine Zeitangabe. Es mussten einige Stunden vergangen sein, wenn es jetzt dämmerte. Doch das Zimmer blieb hell. Marie beobachtete die Schatten, die die tief stehende Sonne auf die Landschaft warf. Den Sonnenuntergang konnte sie leider nicht sehen.
Dann wurde es draußen ganz dunkel. Doch im Zimmer konnte sie noch immer alles klar und deutlich sehen. Es war ganz ruhig. Sie hörte die Wellen draußen rauschen hören und den Atem der versammelten Menschen.

Kapitel 22
Dann, endlich, öffnete ihre Mutter die Augen. Anywa nahm ihre Hand von ihrer Schulter.
„Er kommt.“, sagte sie nur.
Die Starre, die sie befallen hatte, schien von ihnen abgefallen zu sein. Jetzt würde es passieren.
„Was wird er tun?“, fragte Elvira.
„Er hat seine Diener mitgebracht. Er wird die Lebensmagie von ihnen nutzen, um die Schilde zu durchbrechen. Er selber wird bestimmt nicht mitkämpfen. Kommt. Wir gehen nach unten.“
Gabriella ging voran, dann Elvira, Linda, Marie, Leonie und Anywa. Wie ein Trauermarsch gingen sie die Treppe hinunter und durchquerten die Diele. Sie gingen nach draußen auf die Veranda. Es kam ihr falsch vor, sich auch noch zu zeigen, doch sie wusste, dass das Haus an sich sie nicht mehr schützen konnte, wenn ihre Schilde es nicht brachten.
Sie sahen draußen nichts. Keine Gestalten waren in der Dunkelheit auszumachen. Ein paar Vögel kreischten. Es waren keine Möwen. Es waren schwarze Vögel, sie schienen größer zu werden, sie kamen näher. Sie wurden größer, immer größer, viel größer als normale Vögel wurden. Konnten es fliegende Menschen sein?
Sie sahen keine Lichtblitze, aber sie spürten, dass die Vögel oder Menschen, wer auch immer es war, ihren Schild angriffen. Es war ihr Schild.
Er hielt stand. Ein Stich durchzuckte Marie. Der Wald. Die Lebensmagie aller Lebewesen floss in ihren Schild. Trotzdem konnte sie nicht abstreiten, dass es sie freute, dass ihr Schild standhielt.
Leonie stand trotzig neben ihr. Sie hatte sich abgekapselt. Sie hatte nichts dazugetan, um sie zu schützen. Marie wusste, dass sie sich nicht konzentriert hatte, als sie den Schild gelegt hatten. Nur weil sie schlecht drauf war oder wieder etwas an Elvira auszusetzten hatte. Wie damals, als Elvira das erste Mal zu ihr gekommen war. Das hatte Leonie auch nicht gepasst und sie hatte versucht, Elvira zu übertrumpfen.
Das hätte in dieser Situation mehr gebracht.
Gabriella und Anywa hatten sich vor sie gestellt.
Sie konnte nichts spüren. Sie konnte nicht spüren, dass der Schild angegriffen wurde oder ob er schwächer wurde. Es machte sie nervös, dass sie nichts wusste. Elvira ballte ihre Hände zusammen. Sie schien etwas zu spüren. Wurde ihr Schild angegriffen.
„Euer Schild ist wirklich extrem stark.“, sagte Gabriella. „Ein normaler Vier-Elemente Schutzzauber wäre schon lange zusammengebrochen. Ihr habt ihn nach außen gelegt. Über unsere.“ Wow. Sie hatten wirklich etwas Besonderes gemacht. Trotzdem hatte es kaum etwas gebracht.
„Er wird langsam schwächer.“, sagte Anywa.
„Leonie.“, sagte Elvira leise. Ihre Worte kamen gepresst hervor. Alle drehten sich zu Elvira um.
„Ja?“, fragte diese gleichgültig. Nichts war aus ihrer Stimme herauszuhören. Keine Besorgnis.
„Warum hast du das getan?“ Was meinte Elvira? Was sollte Leonie getan haben?
„Was soll ich jetzt wieder getan haben?“, fragte Leonie in dem gleichen Ton.
„Du hast den Zauber mit mir verbunden. Er zieht meine Kraft.“ Marie war geschockt. Was hatte Leonie getan? War sie von Elvira abgelenkt worden und hatte in dem Moment, in dem der Zauber ausgesprochen wurde, an Elvira gedacht? Der Zauber zog Elviras Kraft. Wenn der Schild weiter angegriffen wurde, wurde Elvira so lange ihre Kraft ausgesogen, bis sie keine mehr hatte.
Das durfte nicht geschehen.
„Wir müssen den Zauber aufheben.“, sagte sie laut.
„Das ist sehr schwer.“, sagte Gabriella. Sie musterte Leonie kurz, dann wanderte ihr Blick wieder zu Elvira.
„Anywa.“ Die beiden Frauen blickten sich an und nickten. Dann schlossen sie die Augen.
Magie war ganz anders, als Marie sie sich vorgestellt hatte. Sie war nicht sichtbar. Sie war still. Und in jedem Geist.
Sie blickte wieder zu Elvira. Sie hatte einen verkrampften Gesichtsausdruck. Ein normaler Vier-Elemente Schutzzauber wäre schon lange zusammengebrochen. Er war nur so stark, weil Elvira so stark war. Sie legte Elvira eine Hand auf die Schulter.
„Es geht nicht. Elvira. Du musst deine magische Verbindung zu dem Zauber lösen. Hörst du?“, sagte ihre Mutter. Panik war aus ihrer Stimme herauszuhören.
„Ihr habt den Zauber anders gemacht als ihr solltet. Nur ihr selbst könnt ihn wieder aufheben. Ihr müsst ihn von den Kraftquellen trennen.“ Marie dachte nach. Elvira von dem Zauber trennen. Ja. Nichts lieber als das. Aber wie sollte das funktionieren? Sie sah die Verbindungen doch nicht. Sie schloss die Augen. Sie wollte die Verbindung spüren.
Sie hörte Anywa etwas sagen:
„Sie greifen zusammen an. Das verstärkt den Angriff um ein Vielfaches. Sie sind sehr stark.“ Sie begriff die Worte nicht. Das war nicht wichtig.
Sie schloss die Augen und stellte sich die Szene in ihrem Kopf vor. Die Schwestern auf der Veranda. Der Zauber um das Haus. Verbunden mit bunten Linien mit den Kraftquellen. Sie sah sich selbst als schimmernden Punkt voller Magie auf der Veranda, Linda und Leonie neben sich, auch als schimmernder Punkt. Elviras Schimmern wurde langsam schwacher. Es war zwar sehr hell, aber es nahm ab. Rapide ab.
Vielleicht konnte sie ja ihr Schimmern Elvira geben. Sie versuchte ein bisschen ihres Schimmern in Elvira zu geben. Ihre Hand war ja immer noch auf der Schulter von ihr. Sie zog das Licht durch ihre Hand in Elvira hinein.
Für einen Moment schien es zu funktionieren. Das Licht von ihr und von Elvira vermischte sich. Dann kam auch Lindas Licht hinzu. Und eine Weile später auch Leonies. Doch selbst zusammen konnten sie dem ständigen Fluss nicht lange standhalten. Immer mehr des Lichtes schien jetzt aus dem Faden, der von Elvira zu dem Schild ging, zu entweichen, in den Schild zu fließen. Die Verbindung musste zerstört werden.
Doch das ging nicht. Sie konnte sie nicht trennen. Wie Wurzeln war diese Schnur, sie war ein Teil von Elvira selbst. Sie konnte es nicht zerstören.
Was konnte sie tun?
Sie beobachtete, wie das Licht aus Elvira wich, stetig, langsam.
Sie sah die Punkte, hell, um ihren Schild fliegen und ihn attackieren. Ihr Licht war heller als ihres. Sie mussten von dem Schild abgelenkt werden. Vielleicht konnte sie…
Das musste klappen. Sie löste sich von Elvira. Das war ihre einzige Chance. Elviras Licht ging jetzt schneller verloren. Sie ging zu dem Schild und schlug auf eine Stelle ein. Schlug, heftig, und versuchte ein Loch hineinzuschlagen. Es funktionierte nicht. Mit Leibeskräften schlug sie auf den Schild, doch er wollte nicht nachgeben. Sie hob einen Stein vom Boden auf und schlug damit gegen den Schild. Doch er hielt. Das konnte nicht sein, er durfte nicht…
Sie blickte zurück. Elvira stand an das Haus gelehnt da. Sie war so stark. So viel Magie verließ ihren Körper, warum hatte sie vorher nie bemerkt, wie viel Magie in ihr steckte?
Jetzt würde ihre Magie sie umbringen, indem ihre Magie aus ihr herausfloss, in einen Schild, der sie beschützen sollte.
Doch auch sie hatte Magie. Die war zwar nicht so stark wie Elviras, aber es gab sie. Vielleicht war Magie eine eigene Kategorie. Nicht mit normalen Mitteln zu bekämpfen. Vielleicht musste man Magie mit Magie bekämpfen.
Sie ging in sich hinein. Betrachtete jede Zelle. In jeder Zelle, jedem Zellkern und jedem der Nukleobasen war ein bisschen Magie. Wenn sie diese zusammentat, musste es klappen. Doch es war nur noch sehr wenig Magie in ihren Zellen. In den Nukleobasen war nur noch weniger als die Hälfte der Ursprungsmagie. Sie hatte Elvira zu viel gegeben. Sie konzentrierte sich auf die Nukleobasen, die Moleküle, die den Lebenscode offenbarten. Adenin. Thymin. Cytosin. Guanin.
Adenin.
Thymin.
Cytosin.
Guanin.
Dann griff sie nach der Magie die sie noch hatte. Kontinuierlich sprach sie die Namen der Nukleobasen dabei weiter.
Sie formte ihre Magie, sie sollte den Schild in vier Teile teilen. Einen Teil konnte der Wald wieder haben, je ein Teil die Sonne und das Wasser und Elvira einen.
Auch wenn das nicht klappen sollte, Hauptsache war ja, dass die Angreifer von dem Schild absahen und Elvira sich ausruhen konnte
Mit aller Kraft, die sie hatte, schleuderte sie ihre Magie auf den Schild.
Es klappte. Ihr Schild brach.
Doch es passierte noch etwas anderes. Sie hatte vergessen, dass sie in den Schutzzaubern von ihrer Mutter standen. Ihre Magie hatte nicht nur ihren Schild, den Äußersten, brechen lassen, sondern auch alle inneren. Was hatte sie getan?
Der Boden kam näher und sie spürte noch, wie sie auf dem Kies des Zufahrtsweges liegen blieb. Sie fiel nicht mehr. Sie war dort angekommen, wo sie hingehörte.

„Sie hat die Schilde zerstört!“, rief Anywa. Ihre Stimme war nicht warm. Nicht panisch. Es war fast wie eine Feststellung, wäre nicht ein kleiner Funke einer Wertung in ihrer Stimme gewesen. Linda kochte. Marie hatte Elvira gerettet. Gott sei Dank. Der Schild war zerstört. Die vier Teile zogen sich zurück, wo sie hergekommen waren. Marie hatte mit ihrer Magie den Schild nicht nur geteilt, sondern gleichzeitig auch die einzelnen Quellen getrennt. Das war mehr, als sie von sich behaupten konnte.
Doch sie durfte nicht vergessen, dass Elvira zwar aus der direkten Gefahr heraus war, aber Herr Braun immer noch da.
Und zwar ein großes Stück näher.
Keine Schilde trennten sie mehr. Doch Linda hatte sowie so nicht an die Schilde geglaubt. Die Konfrontation mit Herrn Braun musste anders aussehen.
Irgendwie direkter.
Elvira stand auf. Sie öffnete die Augen. Linda bewunderte sie. So viel Magie war in ihrem Körper gewesen. Herr Braun hatte sie ausgesaugt. Doch sie hatte immer noch die Kraft aufzustehen und ihm ins Gesicht zu sehen.
Langsam floss die Magie zurück in ihren Körper.
Ein dunkler Schatten war in ihrer Magie zu sehen.
„Elvira! Pass auf!“, schrie sie, doch Elvira hatte es auch gesehen. Ein Schatten, wie eine Hand geformt, stand am anderen Ende des Magieflusses.
„Er zieht. Von der anderen Seite.“ Linda stand still. Konnte das sein? Versuchte Herr Braun Elviras Magie in sich hineinzuziehen, aus Elvira hinaus?
„Es ist deine Magie, Elvira. Sie ist ein Teil von dir. Hol sie dir zurück.“, sagte Gabriella ruhig. Sie stand hinter Elvira und legte ihr die Hand auf. Linda folgte ihrem Beispiel. Gemeinsam zogen sie die Magie in Elvira hinein. Linda wusste, wenn Herr Braun merken würde, dass Elvira gewann, würde er seine Diener zu Hilfe bitten. Es musste schnell gehen. Sie setzte ihre Gabe ein. Die Zeit wurde langsamer. Der Fluss von Magie jedoch blieb gleich schnell. Magie war dagegen immun. Schließlich war ihre Gabe von Magie ausgelöst, jedoch nicht reine Magie.
Linda hielt den Atem an. Die Zeit stand still. War das möglich? Hatte sie die Zeit jetzt vollends angehalten? Konnte sie das?
Das war jetzt egal. Sie zog, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte und die Magie ging mit einem Ruck zurück in Elviras Körper.
Sie ließ die Zeit wieder los, normal schnell laufen.
So langsam, wie die Zeit ihr vorgekommen war, während sie gezogen hatte, so schnell verging sie jetzt. Als hätte sie etwas auszugleichen. Herr Braun landete vor ihnen. Er schien überrascht, wahrscheinlich hatte nur die Überraschung über ihre Kräfte ihn daran zu hindern, Elvira auszusaugen.
Hinter ihm landeten mindestens zwanzig Menschen in schwarzen Anzügen. Es war grotesk. Anzüge trugen nur korrekte Menschen. Keine Killer.
„Gabriella.“, er kam näher.
Hinter seinem Rücken zog er Blumen hervor.
„Immer noch so wunderschön.“, er verbeugte sich und reichte die Blumen Gabriella. So ein blöder Schleimer. Warum tat er das? Hatte er Spaß, sie auf die Folter zu spannen oder zu verwirren?
Ekelhafter Kerl.
Doch Gabriella tat nichts weiter. Keine Lichtblitze, kein Herr Braun, der durch die Luft flog.
Gabriella nahm die Blumen und betrachtete sie lange. Sie tat nichts.
Stattdessen kam Anywa hervor, die hinter Gabriella gestanden hatte.
„Anywa. Auch hier. Das ist ja schön.“ Herr Braun blieb gelassen. „Was willst du denn jetzt tun?“ Anywas Augen verengten sich. Was wollte sie tun? Sie war allein. Und eine Frau. Sie konnte gegen Herrn Braun und seine Beschützer nichts tun.
„Gabriella. Ich wünschte ich wäre mit einem netteren Ziel zu dir gekommen. Du weißt, was ich von dir will.“
„Und du weißt, dass ich das nicht zulassen kann.“, antwortete Gabriella. Sie war ehrlich überzeugt. Linda liebte ihre Mutter. Sie war sich dessen nicht immer bewusst, aber sie liebte sie.
„Ich weiß, dass du Angst hast. Doch es geht ganz schnell und ihnen wird nichts passieren.“
„Ich sagte NEIN!“ Gabriellas Zorn wurde sichtbar auf den vor ein paar Sekunden noch unbewegten Gesichtszügen. Die Luft bewegte sich. Ihre Gefühle waren so deutlich und schienen durch die Luft zu rasen. Sie begann zu flirren und brannte auf Lindas Haut.

Leonie war erschrocken. Der Zorn ihrer Mutter erfüllte sie. Es war eine immense Kraft. Sie merkte, dass es nicht nur Zorn auf Herrn Braun bezüglich ihrer Töchter war. Es war noch etwas anderes. Etwas Merkwürdiges. Ein komisches Gefühl mischte mit in diesem Zorn.
Doch sie hielt sich nicht weiter damit auf. Sie wusste, dass sie diese Kraft, die ihr durch diese Gefühle gegeben war, nicht vergeuden durfte. Ihr Körper bebte. Wenn sie die Kraft nicht abbauen konnte, würde sie sterben. Sie würde verbrennen, zu einem kleinen Häufchen Asche. Oder? Wenn Magie sie verbrannte, blieb dann Asche von ihr über?
Sie wappnete sich. Dann öffnete sie sich. Öffnete ihr Herz. Ließ alle Gefühle hinaus. Über die Barriere ihrer Haut hinweg. Steuerte ihre eigene Wut über diese Situation und ihre Unzufriedenheit hinzu. Es war nur ein kleiner Bruchteil.
Eine Art Druckwelle schien über sie hinwegzufegen. Nein. Aus ihr hinaus. Elvira, Linda und Anywa wurden gegen das Haus geschleudert, Gabriella gegen die Brüstung der Veranda.
Marie lag so flach auf dem Boden, dass sie nur ein kleines Stück weit mitgezogen wurde, dann lag sie ganz still da.
Leonie merkte, dass noch immer Kraft von ihr ausging. Sie konnte nicht aufhören. Die Gefühle ihrer Mutter strömte durch sie hindurch und richteten ein heilloses Durcheinander an. Wie ein Wirbelsturm wirbelte die Magie um sie herum, sie stand im Auge, im Zentrum.

So konnte Magie also zum Fortbewegungsmittel gemacht werden. Linda klammerte sich verzweifelt an einen Fenstersims. Ein Wirbelsturm war um Leonie entstanden. Doch man sah ihn nicht. Alles schien ganz ruhig. Außer die Personen, die durch die Luft flogen.
Doch wenn sie die Augen schloss, schien sie ganz klar zu sehen, wie ein Wirbelsturm aus Gefühlen Leonie umkreiste.
Möglicherweise konnte man sich ja auch so fortbewegen? Wenn Leonie ihre Gefühle in bestimmte Bahnen lenkte…
Das war ihr Gebiet. Sie konnte die Zeit verlangsamen um ihre Leistung zu steigern. Mit aller Macht konzentrierte sie sich. Sie hielt ihre Augen geschlossen, damit sie die Magie weiterhin erkennen konnte. Der Wirbel wurde langsamer. Sie sah Marie als leuchtenden Fleck, Gabriella, Elvira, sie leuchtete nur noch schwach, und Leonie.
Es war ganz einfach den Wirbel zu einem Wind zu machen, der die Personen mitriss. Sie sammelte Marie mit ein und ließ sie wie Surfer auf den Wellen reiten.
Auf den Wellen der Magie.
Sie wusste nicht, wo sie rauskommen würden, aber das war erst einmal egal. Hauptsache sie konnten weg von hier. Weg von Herrn Braun.
Weg von dem merkwürdigen Mann, dem Mann, der ihrer Mutter Blumen geschenkt hatte, obwohl er ihr Gegner gewesen war. Der Mann, der ihre Magie vernichten wollte. Der ihr Leben zerstört hatte. Er hatte ihren Vater ermordet. Ihre Familie auseinandergerissen. Das mussten sie rächen. Doch dafür war jetzt nicht die richtige Gelegenheit. Sie mussten Pläne schmieden, Kräfte sammeln.
Wieder einmal hatte er sie vertrieben.
Das durfte nicht sein.
Irgendwann würde er büßen müssen.
Sie hatten alle mächtige Magie.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /