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Herbstlaub

2010
Warum konnte sie nicht einmal unbeschwert sein, wo sie doch ausnahmsweise mal Grund dazu gehabt hätte? Es war ein lustiger Abend gewesen gestern und Michael ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Sie bereute nicht, die Nacht mit ihm verbracht zu haben, auch wenn sie absolut nichts gefühlt hatte. Zum Abschied hatte er sie an sich gezogen und geküsst. Sie gefragt, „Warum der traurige Blick?“ Statt zu antworten hatte sie sich losgerissen und fluchtartig verabschiedet. Wie hätte sie ihm irgendetwas erklären können? Ihr war schlecht, sie wollte nach Hause. Den schalen Rotweingeschmack aus ihrem Mund waschen. Das Dämmerlicht machte sie müde. Sie fühlte sich bedrückt und unbehaglich. Mit dem Morgengrauen war auch der verdammte Nebel wieder aufgezogen und hatte sich wie ein trüber Schleier über die Stadt gelegt. Er nahm Sarah nicht nur die Sicht, sondern hatte scheinbar auch jedes noch so kleine Geräusch verschluckt. Seit Tagen hing die graue Nässe über den Straßen. Weiße Schwaden umhüllten die Gebäude, so dass sie wie dampfende Ungetüme links und rechts der Straße emporragten.
Die Innenstadt war an diesem frühen Donnerstagmorgen noch wie ausgestorben. Sarah begegnete keiner Menschenseele, als sie eilig in Richtung Sternbergstraße schritt. Ein paar Blätter faulendes Herbstlaub wirbelten vor ihr auf dem leeren Bürgersteig hin und her und verliehen der Szenerie eine trostlose Einsamkeit. Sarah kam sich vor wie der letzte Mensch auf Erden. Kein Geräusch wagte es die Stille zu durchbrechen. Nur der heraufziehende Sturm, der im Laufe des Tages seine zerstörerische Kraft noch weiter steigern sollte, rauschte Sarah in den Ohren. Frierend zog sie sich den zerschlissenen Regenmantel enger um die Schultern, als im selben Moment ein kräftiger Windstoß den dünnen Stoff durchdrang und ihr eine Gänsehaut verursachte. Ein feiner aber beständiger Nieselregen hatte eingesetzt und wehte ihr in Gesicht und Augen. Er spülte ihr das sorgfältig aufgetragene Mascara auf die Netzhaut, bis sie brannte. Als Sarah endlich ihr Ziel erreichte, blieb sie einen Moment stehen, um Atem zu holen.
Erschöpft schaute an der efeubewachsenen, alten Stadtvilla empor. Als Kind war sie hier ein gern gesehener Gast gewesen, doch heute betrübte der Anblick sie zutiefst. Auf der Treppe stolperte sie über einen zerbrochenen Blumentopf, in dem noch Reste einer toten Pflanze steckten. Das Bauwerk schien auf einmal fremd und abweisend. Eilig kramte sie den Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit steifen Fingern die Tür. Im Haus war es kaum wärmer als draußen. Als Sarah ins Wohnzimmer kam, fand sie die schweren, dunklen Vorhänge geschlossen und den schmuddeligen Raum in ein trübes Licht getaucht. Essensreste auf dem Couchtisch, sowie die leere Rotweinflasche verrieten ihr, wie Martha den gestrigen Abend verbracht hatte. Wann hatte sie angefangen jeden Abend zu trinken? Bekümmert schüttelte Sarah den Kopf und spürte ihr schlechtes Gewissen, wie ein Bleigewicht auf ihrem Herzen. Sie hätte ihre Freundin nicht allein lassen dürfen! Nicht so kurz nach der Tragödie, die ihr viel versprechendes Leben zu einem Trümmerfeld gemacht hatte. Mehrfach rief sie laut Marthas Namen, aber die Stille blieb vollkommen. Erschöpft ließ sich Sarah einen Moment auf das altmodische Sofa fallen und betrachtete den Staub, der im gelblichen Licht der Stehlampe tanzte. Das ganze Haus war ein einziges Chaos! Zentimeterdick lag der Schmutz auf Möbeln und Böden und erinnerten Sarah daran, wie kraftlos sie sich selbst im Moment fühlte.
„Martha!“ Rief sie wieder und ahnte im selben Moment, dass sie nie eine Antwort bekommen würde…

***
David bemühte sich leise zu sein, während er in seine Jeans schlüpfte. Dabei betrachtete er das schlafende Mädchen, dessen langes, blondes Haar sich über sein Kissen ergoss. Ihre gebräunten Beine mit den perfekt manikürten, kleinen Füßen lugten verführerisch unter der Bettdecke hervor. Nun räkelte sie sich und stöhnte. Dabei griff sie sich an die Stirn wie unter Schmerzen, hielt die Augen aber noch geschlossen. Wahrscheinlich hatte sie einen Mordskater, nach all dem Zeug mit dem er und seine Freunde sie gestern abgefüllt hatten. Selbst Schuld! Er erlaubte sich einen Anflug von Schadenfreude und lachte in sich hinein. Sie war ganz hübsch, aber absolut dämlich! Ihr hohles Geplapper auf der Party gestern hatte ihm gereicht, um zu wissen, dass er an sie keine weitere Zeit verschwenden wollte. Nun hieß es schnell wieder aus der Sache heraus zu kommen, also in diesem Fall, einfach schnell aus seiner Wohnung zu kommen. Und, was noch wichtiger war: in einer Viertelstunde auf Station zu sein um vor der Frühbesprechung noch ein Blick in die Akten der neuen Patienten werfen zu können!
Trotz Kälte und Dunkelheit entschied er sich heute, seinen Wagen stehen zu lassen und zum Krankenhaus zu laufen. Es war ohnehin nicht weit und ein bisschen frische Luft würde ihm gut tun. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm halb acht. David sprintete los. Wenn er vor Beginn des Klinik-Alltags keinen Kaffee bekam, würde es ein schlechter Tag werden, soviel stand fest. Wahrscheinlich würde es ohnehin ein schlechter Tag werden, so übermüdet, wie er war. David war seit zwei Wochen offiziell der Assistenzarzt in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Klinik Grelberg. Das Krankenhaus war alt und die technischen Geräte nicht auf dem neuesten Stand, aber David war froh, dass er den Job sofort bekommen hatte.
Als David ins Arztzimmer kam, saß Lisa, die andere Ärztin schon an ihrem Platz. Sie starrte auf ihren Computer und hämmerte gehetzt auf die Tasten ein. Als sie ihn bemerkte, blickte sie müde auf und rieb sich die geröteten Augen. „Morgen“ Murmelte sie und wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. Es duftete nach frischem Kaffee. Jonas der Student, der gerade sein praktisches Jahr begonnen hatte, kochte ihn seit einer Woche täglich. Manchmal ist der Job doch gar nicht so schlecht, dachte David und nahm die Akten der drei neuen Patienten aus dem Regal.
Eilig überflog er die Unterlagen. Nichts Besonderes: Ein Alkoholiker, der zum Entzug da war und eine Schizophrene aus dem Pflegeheim, deren Medikamente umgestellt werden mussten. Völlig alltägliche Fälle. Die letzte Akte dokumentierte die Aufnahme einer jungen Patientin in der letzten Nacht. Sie war gegen drei Uhr früh mit einem Nervenzusammenbruch in die Klinik eingeliefert worden. Außer Name und Geburtsdatum waren dem Anmeldeformular keine Informationen zu entnehmen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise waren an dieser Stelle der Aufnahmegrund, sowie Vorschläge zum weiteren Procedere vermerkt. Komisch, sonst wurde hier nicht so schlampig gearbeitet. David warf einen Blick auf den Kürzel unten auf dem Blatt, gab die Hoffnung aber schnell auf, dadurch den Täter ausmachen zu können.

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Tag der Veröffentlichung: 13.09.2011

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