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Domino


Oh, ja! Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen: Wie wir dalagen, übereinandergestapelt, mit aufgerissenen Augen und Mündern. Fünf Knirpse, denen sonst nichts so leicht die Sprache verschlug ...
Es war ein ganz normaler Sommertag gewesen: sonnig, warm und von keiner Wolke getrübt.
Wir waren also fünf: Mirco, Marco, Frank, Jenny und natürlich ich.
Zu dieser Zeit war auch Jenny einer von uns. Wir machten noch keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen; das kam erst später.
Am Vormittag hatten wir an unserer Hütte im Wald gearbeitet. Durch den Pfiff von Stefans Großvater, wie immer, rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause geholt, erhielt jeder von uns das Versprechen, anschließend wieder zusammen losziehen zu dürfen. Was wir dann auch taten. Jeder von uns mit einem dicken, roten Apfel durch Stefans Großmutter für später versorgt.
„Heute Nachmittag wird der alter Fritz beerdigt“, begrüßte er uns, als wir wieder aufeinander trafen. Marco und Mirco klatschten in die Hände; Jenny kombinierte scharf, dass es später im Gemeindesaal Kuchen gäbe und ich forderte meine Freunde auf, mir zu folgen: auf zum Friedhof! Denn eines unserer Lieblingsspiele war es, uns in die Nähe der Friedhofsgärtner zu schleichen, die Männern beim Buddeln zu bespitzeln und dabei möglichst selbst nicht gesehen zu werden. Und wenn die Gemeinde kam, um ihre Mitglieder zu beerdigen, stahlen wir uns vom Platz sobald der Trauerzug vorüber war. Aber bis dahin gab es keinen besseren Ort als diesen – mit seinen alten Buchen und Eichen, den zum Teil halb verwitterten Grabsteinen und Familiengruften, die zum Verstecken und Fangenspielen nur so herausforderten.
Die Zwillinge hatten mittlerweile ihre Äpfel aufgegessen. Sie waren gierig gewesen! Auch Jenny hatte ihren verdrückt. Sie fand es lästig, ihn in der Hand zu halten. Stefans Exemplar war ihm aus der großen Brusttasche seiner Latzhose gefallen, als er kopfüber am dicksten Ast der weitverzweigtesten aller Klettereichen hing. Dabei war der Apfel ausgerechnet im Stechginster gelandet. Jenny wusste von ihrer Mutter, der sie oft im Garten half, dass man die Finger nach Kontakt mit einem Stechginster gefälligst nicht in den Mund steckte. Wir nahmen an, dass das für Äpfel auch galt und überließen ihn dem langsamen Verfall.
So war also nur noch ich im Besitz meines Proviants, und ich war sehr zufrieden damit.
Als die Trauergäste sich an diesem Tag dann vor dem Friedhofstor aufgestellt hatten, um in stiller Prozession dem Sarg zu folgen, standen wir hinter der Hecke und warteten. Zum Mittag mussten Mirco und Marco allerdings einen Kasper in ihrer Suppe gehabt haben, denn sie hörten gar nicht mehr auf, rumzublödeln. Ich widmete mich gerade hingebungsvoll meinem Apfel, als Marco Mirco schubste, dieser Stefan anrempelte, welcher ungebremst gegen mich fiel und wir schließlich alle am Boden lagen. Jenny versuchte noch, eine lustige Rauferei zwischen uns zu verhindern, als sie plötzlich innehielt und mit entsetzten Augen aufsah: Mein Apfel rollte schnurgerade auf die sechs Sargträger zu, die eben den Weg entlang kamen und besonders würdevoll nach vorn blickten. Hannes hob seinen großen Fuß mit den blankpolierten Schuhen. Als er ihn wieder aufsetzen wollte, traf er mit seiner glatten Sohle genau die verhängnisvolle Frucht, rutschte daran ab, begann zu straucheln, stütze sich in einer halben Drehung und dem verzweifelten Versuch, das Gleichgewicht zurückzugewinnen, mit der rechten Hand am Sarg ab, fiel über seine eigenen Fuß direkt vor Jochen, welcher seinen Griff losließ, um nicht – den Kopf voran – über Hannes zu stürzen, während Achim von hinten den Sarg nicht mehr waagerecht halten konnte und dieser mit der rechten, vorderen Kante auf dem Boden aufschlug.
Danach herrschte Totenstille.

Den Leichenschmaus konnten wir vergessen. Es hagelte Hausarreste. Aber meine Mutter erzählte mir später, wie das halbe Dorf später über unsere Gesichter lachte, als wir auf den Sarg gestarrt hatten, voller Panik in der Erwartung, der Deckel würde gleich aufspringen! Was wir nicht wussten: Der alte Fritz hatte seinen Körper zu Forschungszwecken der medizinischen Fakultät der nächstgelegenen Universität vermacht. Im Sarg lagen nur ein Anzug und seine alte Pfeife.

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Texte: Katharina Hirsch
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2012

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