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Das Projekt Israel

 

Es war der 14. Mai 2123. Gut gelaunt fuhr ich zu meinem Arbeitsplatz. Mit meinen beiden Kollegen, die Irin Sarah O'Brian, Expertin auf dem Bereich der Geschichte und Vladimir Kaspersky, der russische Chefprogrammierer wollte ich eine neue Aufgabe für unsere Zeitmaschine absolvieren. Vladimir hatte am Vortag einige Andeutungen gemacht. Ob er wusste, wohin wir unsere Zeitmaschine heute schicken würden?

 

Im Labor war alles blau und weiß geschmückt. Wahrscheinlich stand das für unser heutiges Ziel. Aber was könnte das sein? Schottland? Bayern? Ich war verwirrt, was meine beiden Kollegen durchaus erkannten. „Nun, Sebastian, stehst du mal wieder auf dem Schlauch?“, mutmaßte Sarah. Ich nickte. „Denn werde ich dir mal auf die Sprünge helfen, lieber Kollege“, sagte Sarah. Sie hielt zwei Schilder in die Höhe. Auf dem einen stand „175“ und auf dem anderen war ein Davidstern. So allmählich dämmerte mir etwas. Offenbar war es heute mal wieder so, dass nicht der Computer unser Ziel für die Zeitmaschine auswählte, sondern jemand von uns das bestimmen konnte. Augenscheinlich war das Vladimir. Er war ja Jude und hier ging es offenbar um Israel.

 

So war es auch. Der Computer piepte und spuckte als Ergebnis das aus, was ich nunmehr erwartet hatte. „Israel“ stand auf dem Bildschirm. „Heute vor 175 Jahren, am 14. Mai 1948 wurde die israelische Unabhängigkeitserklärung proklamiert. Dieser Tag gilt daher als Gründungstag des Landes“, erklärte Vladimir. Er machte einen sehr zufriedenen Eindruck.

 

Die Flugmaschine begab sich in die Luft zu dem vorprogrammierten Ziel. Es ging nach Tel Aviv. Um 16 Uhr sollte dort am 14. Mai, einem Freitagabend, also dem Sabbat, im Haus des ehemaligen Bürgermeisters Dizengoff die Proklamation erfolgen. Es war ein kleines, unauffälliges Haus, das wir auf dem 4D-Bildschirm erblickten. Wir konnten alles mitverfolgen, was gesagt wurde, dank der Möglichkeit, durch die Wände zu sehen und zu hören. Unser Sprachtalent Sarah übersetzte. Es war ein erhabenes Erlebnis, diesem historischen Ereignis beizuwohnen. David Ben-Gurion hielt eine bewegende Rede. Wir alle hörten aufmerksam zu.

 

Danach bemerkte ich: „Das war zwar sehr interessant, aber nicht allzu aufregend. Ist da nicht mehr passiert?“ „Doch natürlich, Sebastian. Wir reisen weiter zum Unabhängigkeitskrieg. Noch in der Nacht der Staatsgründung erklärten Ägypten, der Libanon, der Irak, Syrien, Saudi-Arabien sowie Transjordanien dem neuen Staat den Krieg“, berichtete Sarah. „Transjordanien? Den Staat kenne ich nicht!“, entgegnete ich. Sarah klärte mich sogleich auf: „Transjordanien bezeichnet das Gebiet östlich des Jordans. Bis 1950 war es die offizielle Staatsbezeichnung Jordaniens. Das Land erhielt seine Unabhängigkeit am 22. März 1946 im Vertrag von London und am 15. März 1948 seine volle Souveränität. Durch die lange, gemeinsame Grenze mit Israel waren Konflikte und Kriege quasi vorprogrammiert. Und so kam es dann auch.“

 

Die Zeitmaschine wurde in den Januar 1949 versetzt. „Der Unabhängigkeitskrieg war beendet und hatte Israel erhebliche Gebietsgewinne beschert, unter anderem im westlichen Galiläa und im nördlichen Negev. Es kam zu einem Waffenstillstandsabkommen“, erzählte Sarah. Sie fuhr fort: „Die nach dem Teilungsplan für die Palästinenser vorgesehenen Gebiete wurden Ägypten zugewiesen. So entstand der Gazastreifen.“

 

Nach diesem ausgiebigen Geschichtsunterricht wollte ich etwas von den Kampfhandlungen sehen. Das sagte ich meinen beiden Kollegen. „Dazu kommen wir gleich, Sebastian“, erklärte Vladimir. Er hantierte am Schaltpult und unsere Flugmaschine begab sich zum nächsten Ziel. Es ging in das Jahr 1967 zum Sechstagekrieg. Sarah erklärte: „Wie der Name schon vermuten lässt, dauerte der Krieg nur sechs Tage. Er begann am 05. Juni 1967 und endete sechs Tage später mit einem Waffenstillstand. Israel kämpfte gegen Ägypten, Syrien und Jordanien. Nach dem Krieg begann Israel mit dem Bau jüdischer Siedlungen in dem umkämpften Gebiet.“ „Alles gut und schön, Sarah, aber wo bleiben jetzt die Bilder von den Auseinandersetzungen?“, fragte ich nach. „Die wirst du gleich sehen“, entgegnete Sarah. Sie wirkte leicht genervt.

 

Vladimir griff ein. Er äußerte sich: „Sebastian, wir sind Wissenschaftler und keine Sensationstouristen. Merk dir das!“ Ich war eingeschüchtert und sagte dann gar nichts mehr. Trotzdem empfand ich unser diesmaliges Projekt ziemlich langweilig. Es konnte nur interessanter werden. Und das wurde es auch.

 

Auf dem 4D-Bildschirm war eine Wüstenlandschaft zu sehen. In der Ferne erkannte man zwei Armeen, die sich bekämpften. „Das sind die Israelis und die Araber, die da kämpfen. Im Hintergrund sieht man die Golanhöhen“, wusste Sarah zu berichten. Es war eine brutale Schlacht, mit vielen Toten auf beiden Seiten. „Du wolltest das ja unbedingt sehen, Sebastian“, bemerkte Vladimir, als er merkte, dass mir das nahe ging. Er ergänzte: „Kommen wir zu unserem nächsten Ziel, es geht zum Jom-Kippur-Krieg.“ Bevor ich fragen konnte, griff Sarah ein: „Jom-Kippur ist ein jüdischer Feiertag, das Versöhnungsfest. Am 06. Oktober 1973 griffen Syrien und Ägypten Israel an. Es war eine große Überraschung für die Israelis. Damit hatten sie nicht gerechnet, erst recht nicht an diesem hohen Feiertag. Das öffentliche Leben ruhte, es gab kaum Verkehr auf den Straßen. Daher kamen die Panzer der Araber gut voran und sie konnten Gebiete erobern, aber bald gelang es den Israelis, die Angreifer zurückzudrängen. Es kam trotzdem zu massiven Verlusten beim Militär, was schlussendlich dazu führte, dass Golda Meir einige Monate später zurück treten musste.“ „Wer war das?“, wollte ich wissen. Meine beiden Kollegen sahen mich ziemlich entsetzt an. Ich hatte mal wieder meine geringen Geschichtskenntnisse unter Beweis gestellt. Dann antwortete Sarah ziemlich vorwurfsvoll: „Golda Meir war die Premierministerin des Landes von 1969 bis 1974. Sie starb am 08. Dezember 1978. Die muss man aber kennen, Sebastian!“ Ich schwieg dazu.

 

„Nun gab es bald darauf Veränderungen in Israel. Im Mai 1977 ergaben sich durch die Wahl zum Knesset neue Mehrheiten. Nunmehr regierten die Konservativen in einer Koalition mit liberalen und religiösen Parteien. Neuer Ministerpräsident Israels wurde Menachem Begin. Er setzte zusammen mit dem ägyptischen Amtskollegen Anwar as-Sadat intensiv für den Frieden in der Gegend ein, es kam zu einem Friedensvertrag beider Länder. Leider hielt das nicht lange an. Schon wenige Jahre später nahmen die Auseinandersetzungen wieder zu. Im Jahre 1982 begann der erste Libanonkrieg, wobei hier Anschläge der PLO gegen Israel der Auslöser war.“

 

Ich fragte nach: „PLO? Was war das? Habe ich noch nie gehört.“ Sarah runzelte die Stirn. Dann antwortete sie, leicht genervt: „Das war die palästinensische Befreiungsorganisation, sie wurde 1964 gegründet und hat sich im Jahre 2033 aufgelöst, nachdem es interne Auseinandersetzungen gab. Danach gab es jedoch immer noch Konflikte zwischen den Israelis und den Palästinensern. Es wurde immer wieder versucht hier Frieden zu stiften, leider vergeblich. Nun aber genug von dem Geschichtsunterricht. Lasst uns mit unserer Aufgabe weitermachen.“ Daraufhin hantierte Vladimir erneut am Schaltpult. Die Zeitmaschine flog an ihr nächstes Ziel. Man sah einen grauhaarigen Mann. „Das ist Jitzchak Rabin, der zusammen mit Jassir Arafat im Jahre 1994 den Friedensnobelpreis erhielt. Ein Jahr später wurde ein Attentat auf ihn verübt. Das werden wir uns gleich ansehen.“

 

Auf dem Bildschirm erschien das Datum. Es war der 04. November 1995. Wir waren in Tel Aviv auf einer Friedenskundgebung. „Das ist der Platz der Könige Israels. Gleich passiert das Attentat.“ „Können wir das nicht verhindern?“, fragte ich. Sarah seufzte und antwortete: „Grundsätzlich schon, Sebastian, aber denk dran, was passiert ist, als wir das bei dem Anschlag auf Martin Luther King versucht haben!“ Ich wusste natürlich, was meine Kollegin meinte. Er war trotzdem gestorben, wenn auch anders. Ich nickte nur kurz zur Bestätigung. „Dann sind wir uns wohl einig. Wir greifen nicht ein“, stellte Sarah fest und sah gemeinsam mit Vladimir und mir auf dem Bildschirm. Dort erblickte man Rabin, der gerade zu seinem Auto geleitet wurde. Ein junger Mann näherte sich. Er schrie herum und sah wütend aus. Vladimir hob eine Augenbraue. Er starrte konzentriert auf seine Konsole, mit einem verbitterten Gesichtsausdruck.

 

In diesem Moment fror das Bild ein. Offensichtlich hatte Vladimir den entsprechenden Knopf am Schaltpult gedrückt. Sarah nahm das fassungslos zur Kenntnis. Gleich darauf griff Vladimir erneut ein. Er ging zum Teleporter und transferierte die Pistole des Täters zu uns. Danach ließ er die Zeit wieder laufen. Der vorgebliche Attentäter machte ein verdutztes Gesicht. Wenig später wurde er von Sicherheitskräften umringt und abgeführt. Rabin stand der Schrecken im Gesicht geschrieben.

 

„Was sollte das, Vladimir? Wir wollten doch nicht eingreifen!“, empörte sich Sarah. Vladimir wiegelte ab: „Das hast du gesagt, nicht ich. Ich finde, dass die Geschichte durchaus verbessert werden könnte, im Interesse aller Juden!“ Er war sichtlich erregt. Sarah entgegnete: „Aber nicht im Interesse des Ablaufs der Geschichte. Ich möchte gar nicht wissen, was das für Folgen haben wird!“ „Das werden wir gleich sehen“, sagte Vladimir.

 

Der Bildschirm zeigte immer noch die gleiche Szenerie. „Lasst uns ein paar Tage vorspulen“, schlug er vor und hantierte erneut am Schaltpult. Wir waren nun im Jahr 1996, ein Jahr später. Es war ein ganz normales Bild auf dem Platz der Könige Israels. Allerdings waren alle Leute fröhlich und in Feierstimmung. Sie hielten Plakate hoch. Auf den meisten war das Bild von Rabin zu sehen, auf den anderen standen Schriften auf hebräisch. Das konnte ich nicht lesen. Sarah klärte mich auf: „Das heißt Frieden!“. Vladimir nickte und entgegnete: „Na, da hat mein kleiner Eingriff wohl doch etwas Gutes bewirkt!“ Er grinste.

 

„Wir werden jetzt mal durchchecken, was hier in dem einen Jahr passiert ist“, beschloss Vladimir und wollte schon an der Konsole die entsprechenden Knöpfe drücken, als Sarah einwarf: „Ich hätte eine bessere Idee. Wir könnten uns ein paar Zeitungen zu uns transferieren. In den Ausgaben an diesem Tag gibt es bestimmt eine Zusammenfassung der Ereignisse im vergangenen Jahr. Dahinten ist ein Kiosk.“

 

„Sehr gute Idee, Sarah!“, rief Vladimir begeistert und ergänzte: „So machen wir es!“. Gesagt, getan. Zur großen Verblüffung des Kioskverkäufers verschwanden vor seinen Augen fünf Zeitungen. Sie lösten sich einfach in Luft auf. Tatsächlich aber landeten diese bei uns. „Wir müssen den guten Mann aber entschädigen, sonst holt er die Polizei“, meinte Sarah. „Ja, wir haben doch israelisches Geld in unserem Fundus. Hol das doch mal bitte, Sebastian“, antwortete Vladimir.

 

Ich begab mich dort hin und wurde schnell fündig. Das Bündel mit den Geldscheinen legte ich in den Teleporter, ohne Vladimir oder Sarah das zu zeigen. Gleich darauf gab es erneut Aufregung beim Kioskverkäufer. Er rief aufgeregt herum und zeigte immer auf das Geld, das vor ihm erschienen war. Leute strömten herbei. „Da stimmt etwas mit dem Geld nicht“, mutmaßte Sarah. Wir zoomten näher heran. „Du Idiot! Das sind Geldscheine aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es sind israelische Pfund. Diese Währung wurde 1985 durch den neuen israelischen Schekel abgelöst. Grund dafür war die hohe Inflation. Das Geld, das du ihm geschickt hast, ist praktisch nichts wert. Ein Haufen Altpapier sozusagen.“ Ich war brüskiert. Mal wieder hatte ich einen dummen Fehler gemacht.

 

„Ich hoffe, dass das keine schlimme Auswirkungen auf die Geschichte hat!“, sagte ich zerknirscht und blickte betrübt zu Boden. „Nun, Sebastian. Das wird sich zeigen. Nun wollen wir aber sehen, was in den Zeitungen steht“, erklärte Sarah. Sie und Vladimir sahen diese intensiv durch. Da nur die beiden die Sprache verstanden, konnte ich nur tatenlos zusehen. Nach etwa einer halben Stunde waren meine beiden Kollegen fertig und resümierten das Ergebnis.

 

„Das hat ja super geklappt!“, rief Sarah aus. Vladimir nickte und ergänzte: „Ja, das ist sehr erfreulich, aber ich befürchte, dass der Friede nicht lange anhalten wird. In dieser Region wird es immer Unruhen geben, das ist bis heute so, im 22. Jahrhundert.“

 

Mit diesen Worten holte Vladimir die Zeitmaschine zurück. Unser Projekt war erledigt, und das machte uns glücklich, auch wenn mal wieder nicht alles perfekt lief. Aber das ist nicht alles. Was wurde aus dem Kioskverkäufer? Da ich das Ganze verursacht hatte, interessierte mich das sehr. Ich fand heraus, dass die örtliche Presse noch einige Zeit über dieses Wunder des aus dem Nichts aufgetauchten Geldes berichtete, aber das Thema nach einiger Zeit wieder fallen ließ. Dem Verkäufer widerfuhr aber nichts Negatives.

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Bildmaterialien: Wikipedia
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2025

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