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Der bessere Weg

 

 

Meine dritte Reise in eine Parallelwelt stand an. Bei meiner ersten Reise traf ich auf eine Welt in der Kiffen legal, Kaffee aber verboten war. In der zweiten Welt gab es keine Nachtschattengewächse mehr, also keine Tomaten, keine Paprika, keine Kartoffeln und keinen Tabak.

 

Als ich in dieser Parallelwelt auftauchte, fiel mir sofort ein Werbeplakat auf. Zu sehen war das Brandenburger Tor, deutsche Fahnen und jubelnde Menschen. Darüber stand: 30 Jahre Deutsche Einheit. Moment mal! Was war das? Hatte ich etwa auch eine Zeitreise gemacht? Heute war der 25. August 2023! Hatte sich da jemand einen Scherz erlaubt, oder wurde vergessen das Plakat zu überkleben? Irgendwas läuft hier gerade schief, dachte ich mir.

 

Verwirrt ging ich zum nächsten Kiosk. Alle Zeitungen hatten das korrekte Datum: 25. August 2023. Es war also keine Zeitreise! Sämtliche Exemplare hatten nur ein Thema: der Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands, der in dieser Welt offenbar ein paar Jahre später war. Aber warum? Das wollte ich unbedingt herausfinden.

 

Mir fiel ein, dass es seinerzeit eine große Diskussion darüber gab, nach welchem Artikel des Grundgesetzes der Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten erfolgen sollte: entweder nach Artikel 23 oder nach Artikel 146. In letzterem Artikel hieß es: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Der zuerst genannte Artikel war der schnellere Weg, da der andere also eine neue gemeinsame Verfassung bedingt hätte. Man entschied sich in meiner Welt für die erste Alternative, also gegen eine neue Verfassung. Die frei gewählte Volkskammer der DDR hatte hier am 23. August 1990 den Beitritt zur BRD beschlossen. In dieser Welt war man offenbar den anderen Weg gegangen. Wie konnte das geschehen? Ich war neugierig und suchte nach der nächstgelegenen Buchhandlung.

 

Dort lagen im Schaufenster mehrere Exemplare der „Verfassung der Bundesrepublik Deutschland vom 01. August 1993“ sowie Bücher über die Wiedervereinigung der BRD und der DDR, die in dieser Welt anscheinend erst kurz nach Verkündung der neuen Verfassung zustande kam. Ich musste das überprüfen. Daher kaufte ich mir mehrere Bücher sowie drei Tageszeitungen und ging in einen nahe gelegenen Park.

 

Dort setzte ich mich auf eine Bank und blätterte gespannt in den Werken. Es stellte sich heraus, dass es in der Tat sehr große Diskussionen darüber gegeben hatte, welche neuen Artikel hinzugekommen sollten. Besonders umstritten war es das Recht auf einen angemessenen Wohnraum. Das fehlte nämlich bislang in unsrem Grundgesetz. Und dass obwohl es im Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verbrieft ist. Nunmehr hatte sich das geändert. Es gab ein entsprechendes Grundrecht in der neuen Verfassung. Das hatte sehr positive Folgen, was eine der Tageszeitungen in einem langen Leitartikel erklärte. Der Wohnungsbau war massiv vorangetrieben worden, vor allem für preiswerte, bezahlbare Wohnungen. Es gab kaum noch Obdachlosigkeit und Leute, die deswegen auf den Straßen herumlungerten. Das war großartig.

 

Vier weitere Artikel wurden hinzugefügt. Zunächst wurden die Kinderrechte in die neue Verfassung aufgenommen. Das war vorher expliziert nicht der Fall. Ich erinnerte mich daran, dass erst vor zwei Jahren die Regierungsparteien darüber stritten und zu keinem Ergebnis gelangten. Es ging also doch!

 

Der dritte Artikel, der hinzugefügt wurde, war etwas, dass ich nicht gleich erwartet hatte. Aber bei näherem Nachdenken war es logisch. Man hatte das Diskriminierungsverbot hinzugefügt. Zwar stand im Artikel 3 des Grundgesetzes niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens und seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Von Diskriminierung ist dort aber nicht die Rede. Nunmehr war das in der neuen Verfassung untermauert.

 

Der vierte neue, hinzugekommene Artikel betraf den Tierschutz, wobei es weniger um Bello und Mieze, sondern vielmehr um Nutztiere ging, also die artgerechte Haltung von Schweinen, Rindern und Geflügel. Hier lag in meiner Welt einiges im Argen, das musste ich zugeben. Viele Tiere litten unten den schlechten Bedingungen. Sie wurden gemästet, um möglichst ein hohes Schlachtgewicht zu bekommen. Einfach schrecklich, wozu Menschen fähig sind. In dieser Welt hatte man aufgrund der neuen Verfassung viele Gesetze und Verordnungen erlassen, die dem Tierwohl dienten.

 

Als fünfte und letzte Ergänzung der neuen Verfassung wurde ein Artikel eingefügt, der auch sehr wichtig war. Es ging um den Schutz und die Zerstörung der Umwelt. Auch dazu schwieg sich das alte Grundgesetz aus. Dabei war das doch so wichtig. Nunmehr gab es zahlreiche gesetzliche Regelungen dazu. Inwieweit diese umgesetzt worden sind, konnte ich in der kurzen Zeit nicht überprüfen.

 

Aber eine Sache interessierte mich noch brennend. Hierzu musste ich ein Internetcafé aufsuchen. Ich wollte wissen, ob Deutschland auch in dieser Welt im Jahre 1992 Vize-Fußballeuropameister geworden ist. Bekanntlich hatte die deutsche Mannschaft, die erstmals mit den Spielern der ehemaligen DDR antrat, in meiner Welt das Endspiel mit 0:2 gegen Dänemark verloren. In der Qualifikationsrunde zur EM gab es in dieser Welt ein Duell zwischen der beiden deutschen Staaten, was in meiner Welt wegen der zuvor erfolgten Wiedervereinigung nicht zustande kam. Das führte dazu, dass unglücklicherweise die BRD die Qualifikation zum Turnier in Schweden verpasste.

 

Es gab also auch Negatives in dieser Welt, die mir ansonsten sehr gut gefiel. Aber was sind ein paar verlorene Fußballspiele gegenüber einer großartigen neuen Verfassung mit hervorragenden Inhalten.

 

Ich kehrte glücklich in meine Welt zurück. Da hatte ich jetzt viel zu berichten. Irgendwas läuft hier gerade schief? Ganz und gar nicht. Es wurde gerade gerückt, was schief gegangen war.

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Bildmaterialien: www.badische-zeitung.de
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2023

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