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Die Welt ohne Nachtschattengewächse

 

Ich hatte mich erneut auf das Experiment eingelassen und wollte in eine Parallelwelt reisen. Bei meiner ersten Reise traf ich auf eine Welt in der Kiffen legal, Kaffee aber verboten war. Was würde mich jetzt erwarten? Ich war gespannt.

 

Als ich dort ankam, sah alles wieder völlig normal aus, kein Unterschied war festzustellen. Doch dann fiel mir etwas auf: Nirgendwo lagen Zigarettenkippen herum und niemand rauchte. Sollte da etwa eine Welt ohne Tabak sein? Das würde mir durchaus gefallen. Doch dann bemerkte ich etwas, was mich erschreckte. Als ich an einen Imbiss vorbei kam, fiel mir auf, dass es dort weder Pommes noch Kartoffelsalat gab. Auch Ketchup wurde nicht angeboten. Bei der benachbarten Pizzeria gab es auch keine Pizza mit Tomatensoße und auf der Gemüsepizza fehlten Paprikastücke.

 

Das war seltsam. Ich überlegte. Was hatten Tabak, Kartoffeln, Tomaten und Paprika gemeinsam? Dann fiel es mir ein. Das waren alles Nachtschattengewächse. Aber warum gab es hier keine? Das musste ich herausfinden.

 

Ich ging in ein Internetcafé. Dort erfuhr ich über Wikipedia, dass in dieser Welt sämtliche Nachtschattengewächse bereits vor vierzig Jahren durch ein Virus eingegangen waren. Es begann auf einer Tabakplantage in Virginia in Amerika. Von dort breitete es sich weltweit aus und griff schließlich auf andere Arten dieser Pflanzengattung über.

 

Das hatte gravierende Folgen. Die Kartoffelfreunde waren entsetzt und frustriert darüber. Verzweifelt wurde nach einen adäquaten, nicht zu teuren Ersatz gesucht, jedoch vergeblich. Süßkartoffeln gehören zu den Windengewächsen (Convolvulceae) und sind nur entfernt mit den Nachtschattengewächsen verwandt, sie sind sozusagen Cousins. Deswegen sind sie nicht ausgestorben

 

Für Tomaten und Paprika gab es ebenfalls keinen Ersatz, was insbesondere für Tomatenfreunde fatal war. Das war eine Welt ohne Ketchup! Wie schrecklich. Wie haben die Kinder das vor vierzig Jahren aufgenommen? Auch für manchen Erwachsenen ist da sicherlich eine Welt zusammengebrochen. Kein Paprika bedeutete auch kein Chili, also auch kein Chili con Carne. Wie furchtbar! Dass es keinen Tabak mehr gab, störte mich hingegen nicht. Ich habe noch nie geraucht.

 

Ich verließ das Internetcafé und ging wieder auf die Straße und wollte die Leute danach befragen, was sie am meisten vermissten. Das ging natürlich nur bei denjenigen, die deutlich über vierzig waren, die Jüngeren kannten das ja alles nicht.

 

Als Erstes befragte ich einen 60-jährigen Herrn, der einen teuren, grauen Anzug trug. Er war sehr auskunftsfreudig. Natürlich verriet ich ihm nicht, dass ich aus einer anderen Welt stammte. Das hätte ihn unnötig verwirrt. Ich gab mich als Journalist aus. Der Mann bekam glänzende Augen, als er von früher berichtete: „Allein schon der großartige Geschmack von Tomaten und Paprika, das war wunderbar. Was gäbe ich dafür, dass noch einmal zu essen. Sie haben das ja nie kennen gelernt, junger Mann. Da haben Sie wirklich etwas versäumt.“

 

Eine etwa gleich alte Dame mit leicht ergrauten Haaren hatte das mitgehört und mischte sich in das Gespräch: „Ich vermisse das ebenfalls. Welch eine furchtbare Erkenntnis für uns, als mir klar wurde, dass das nicht mehr geben würde. Anfangs bekam man noch Restbestände, allerdings zu horrenden Preisen, doch irgendwann waren auch diese ausverkauft.“

 

Ich ging weiter. Tomaten- und Ketchupfreunde hatte ich nun schon befragt. Ich wollte noch mit Leuten sprechen, die die Kartoffeln vermissten. Ich traf kurz darauf einen klein gewachsenen, dünnen Mann mit Nickelbrille. Er war sehr redselig: „Ich habe seinerzeit in einer Fabrik für Pommes frites gearbeitet. Plötzlich war unser Rohstoff weggebrochen. Aus Reis und Nudeln als alternative Sättigungsbeilagen ließ sich zwar vieles machen, aber eben keine Pommes. Wir versuchten es mit Süßkartoffeln. Allerdings wachsen Süßkartoffeln in den Tropen und nicht in unseren Breitengraden. Folglich wurden sie knapp und verteuerten sich enorm. Das wollte dann keiner mehr bezahlen. Die Firma machte Pleite.“ Das war wirklich tragisch. Bestimmt hatte das Ereignis noch viel mehr Arbeitsplätze gekostet.

 

Beim nächsten Interview traf ich einen ehemaligen, leidenschaftlichen Raucher. Er berichtete: „Es gibt keine andere Pflanze als Ersatz für Tabak. Kamille, Hopfen oder Salbei: Das waren zwar alternative Möglichkeiten. Aber besonders beliebt war und ist das aber nicht. Mir schmeckt das jedenfalls nicht. Den meisten anderen auch nicht. Mag sein, dass jetzt weniger Leute an Lungenkrebs sterben, aber der Spaß ist weg.“ Ich fragte nach: „Was ist mit Joints? Das kann man doch noch rauchen.“ Er antwortete: „Klar, aber pur ist das viel zu stark, jedenfalls für mich.“

 

Ich war doch ziemlich geschockt, wie sehr ein kleines Virus die Welt verändern konnte, und so kehrte ich in meine Welt zurück. Dort gönnte ich mir als erstes eine Portion Chili con Carne mit Pommes frites.

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Bildmaterialien: www.laborpraxis.vogel.de
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2023

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