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Der Ungarnaufstand

 

 

Viktor Zastrowski und sein Kollege Marius Hallbaum waren bereit für ihren sechsten Auftrag, der sie in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts führen sollte. Es war der 26. Juni 2091, ein heißer, sonniger Tag.

 

Professor Schulze hatte sich an diesem Tag verspätet, so dass die beiden Zeitreisenden Gelegenheit hatte, über ein mögliches Ziel zu diskutieren. „Es wird bestimmt wieder etwas Kriegerisches. In diesem Jahrzehnt ist da viel passiert, zum Beispiel der Koreakrieg oder der Indochinakrieg. Oder die Sueskrise vielleicht“, mutmaßte Zastrowski. Sein Kollege entgegnete: „Das will ich nicht hoffen. Aber es gab ja auch noch andere, erfreulichere Ereignisse, zum Beispiel die Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz im Jahre 1954. Wir werden sehen!“

 

Zehn Minuten später traf Professor ein. „Tut mir leid, meine Herren. Ich habe verschlafen. Das ist mir ewig nicht mehr passiert. Die Zeitmaschine hätte mir dabei zwar geholfen, aber das wäre nicht erlaubt gewesen. Für private Zwecke wurde sie nicht gebaut“, sagte er.

 

Sie gingen in das Labor. Dort schaltete der Professor den Fernseher an und sagte: „Meine Herren. Es geht für Sie in das Jahr 1956. Ihr Ziel ist Ungarn. Dort gab es einen großen Aufstand, wie Sie vielleicht wissen. Die Bevölkerung wandte sich gegen die Regierung der kommunistischen Partei und gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Es begann am 23. Oktober in diesem Jahr. Mit einer Großdemonstration der Studenten in Budapest und endete am 04. November 1956. Wir haben lange überlegt zu welchem Tag wir sie schicken und uns dann für den Tag der Einmarsch der Sowjetarmee entschieden, also dem Ende des Aufstandes. Sie werden, wie immer, nur beobachten und nicht eingreifen, was immer auch passiert. Haben Sie noch Fragen?“

 

Zastrowski meldete sich und fragte: „Als was werden wir diesmal getarnt? Ich habe wenig Lust, mich als sowjetischer Soldat mit der Bevölkerung anzulegen.“ „Nun, Herr Zastrowski, daran haben wir zwar gedacht, aber dieses wieder verworfen. Dennoch werden Ihnen Ihre Russischkenntnisse weiterhelfen. Sie und Herr Hallbaum werden als sowjetische Foto-Journalisten auftreten. Das kennen Sie ja schon von Ihrem Auftrag beim Absturz der Hindenburg. Es gab keine bessere Lösung.“

 

Hallbaum warf ein: „Gab es seinerzeit wirklich Journalisten aus der Sowjetunion in Ungarn? Wurde das nicht dort geheim gehalten?“ „Nun, Herr Hallbaum. Eine freie Berichterstattung war das natürlich nicht, das war eher Propaganda. Aber darum geht es nicht, Sie sollen ja nicht wirklich als Journalisten arbeiten, sondern nur so tun als ob. Ich werde Ihnen jetzt, wie üblich einen Film mit Originalaufnahmen zeigen. Kommen Sie bitte mit.“

 

Sie gingen in den Fernsehraum, der Professor startete den Film. Es waren zum Teil grauenhafte Bilder, die sie sahen. Schulze bemerkte, wie sehr Hallbaum und Zastrowski die Aufnahmen mitnahmen. „Denken Sie daran, dass Sie keine Emotionen zeigen und nicht aus Ihrer Rolle fallen dürfen, wenn Sie an Ihrem Ziel sind. Nähere Informationen finden Sie wie immer auf Ihren Plätzen. Sie haben wieder zwei Tage zum Regenerieren und zur Vorbereitung. Wir sehen uns dann wieder.“

 

Am 28. Juni kehrten Zastrowski und Hallbaum wie angeordnet zum Zeitreiselabor zurück. Sie waren angespannt und voller Erwartung auf das, was passieren würde. Im Transporterraum erblickten sie die Transporterplatte, die wie frisch poliert aussah. „Ich weiß, was Sie denken, meine Herren. Aber wir hatten kein Großreinemachen. Vielmehr haben wir die Plattform ausgetauscht. Sie ist jetzt absolut perfekt. Außerdem wurde eine neue Funktion bei ihr eingebaut, wir können Sie jetzt zielgenauer an den gewünschten Ort transferieren.“

 

Hallbaum und Zastrowski nahmen das wortlos hin. Beruhigend war das nicht für sie, denn es minderte ja nicht die Gefahr. Sie betraten die Plattform. Es fühlte sich an wie immer, als sie zum 04. November 1956 nach Budapest transferiert wurden. Dort tauchten sie direkt vor dem Parlamentsgebäude auf, es war früher Morgen. Schüsse waren zu hören, sie waren beängstigend nah. „Das ist nun einmal nicht Tante Friedas Geburtstagsparty“, bemerkte Hallbaum. Zastrowski lachte und entgegnete: „Da wäre ich jetzt tatsächlich lieber. Aber lass uns weiter gehen. Wir müssen doch beobachten.“

 

Am Móricz Zsigmond körtér, einem öffentlichen Platz im XI. Bezirk in Budapest, hatten sich zahlreiche Leute versammelt, trotz der frühen Stunde. Sie waren sehr wütend und riefen etwas auf Ungarisch, was Hallbaum und Zastrowski nicht verstanden. Dann begriffen die beiden, was die Leute meinten. Ein Panzer bewegte sich langsam, aber bedrohlich auf die Leute zu. Sie wichen nicht. Hallbaum und Zastrowski beobachteten gespannt das Geschehen. Sie bemerkten nicht, dass sich ihnen ein Mann von hinten näherten. Es war jemand, den sie kannten: Robert Heinlein. Sie hatten den bekannten Science-Fiction-Autor zuletzt im Jahre 1937 gesehen, beim Absturz der Hindenburg in Lakehurst. „Ich wusste, dass ich Sie irgendwann wiedersehe“, rief Heinlein begeistert. Er fuhr fort: „Jetzt weiß ich endgültig, dass Sie Zeitreisende sind. Sie sehen sich Katastrophen und Kriegerisches an. Stimmt’s?“ „Nun, Herr Heinlein. Sie haben Recht. Wir kommen aus dem Jahr 2091. Aber was führt Sie hier her?“, antwortete Hallbaum. „Ich bin schon seit einer Woche hier, als freier Journalist. Als ich hörte, dass der Aufstand begann, bin ich über Österreich hier nach Ungarn gereist. Es war nicht einfach, über die Grenze zu kommen. Aber ich habe meine Beziehungen!“, berichtete Heinlein und lachte.

 

Schüsse fielen. „Wir sollten uns in Sicherheit bringen. Ich habe da drüben ein Hotelzimmer. Da kann uns nichts passieren und wir können den Platz sehr gut überblicken“, erklärte Heinlein. Sie gingen in Richtung des Hotels, das sich als eine schäbige, kleine Pension entpuppte. Die Bettwäsche und die Matratze in dem Zimmer waren fleckig und rochen nach den Leuten, die zuvor dort geschlafen hatten. Das war Heinlein aber egal, es kam ihm nur darauf an, eine billige Unterkunft zu bekommen, von der er beobachten konnte.

 

Unten tat sich gerade nicht viel. Die Lage hatte sich beruhigt. Daher hatte Heinlein die Gelegenheit, weiter zu plaudern. „Ich schreibe gerade an einen neuen Roman. Er wird Bewohner der Milchstraße heißen. Er ist fast fertig. Darin geht es um …“ Weiter kam Heinlein nicht, denn unten geschah etwas. Die Aufständischen hatten die Panzer mit Steinen geworfen und mit Knüppeln auf ihn eingeschlagen. Außerdem riefen sie etwas auf Ungarisch, was keiner in dem Hotelzimmer verstand. Es war zwar laut, aber keiner verstand die Sprache.

 

Ein Soldat in dem Panzer öffnete die Luke und schoss wahllos auf die Menschen. Es gab einige Tote. Daraufhin stieg die Wut der Aufständischen. Sie prügelten auf den Soldaten ein, bis er sich nicht mehr bewegte. Seine Kameraden im Panzer rührten sich zunächst nicht und blieben im Fahrzeug. Aber nach etwa zwei Minuten verließen auch sie den Panzer. Es gab eine heftige Auseinandersetzung mit den Leuten und viele Tote auf beiden Seiten. „Welch ein Glück, dass wir hier oben sind“, stellte Zastrowski fest. Hallbaum und Heinlein nickten. „Und Sie, Herr Heinlein, haben uns in Sicherheit gebracht“, ergänzte Hallbaum.

 

Drei weitere Panzer fuhren auf den Móricz Zsigmond körtér. Jetzt wurde die Lage für die Aufständischen zunehmend bedrohlich. Die meisten von ihnen flohen vom Platz, einige wurden hinterrücks erschossen. Es war schrecklich. Diesmal vergaßen es Hallbaum und Zastrowski nicht, zu fotografieren. Auch Heinlein knipste eifrig, er zeigte sich beeindruckt von den Fotokameras der beiden Zeitreisenden, besonders darüber, dass man sich die Fotos gleich ansehen konnte. „Das werde ich in eine meiner künftigen Bücher einbringen. Was wird in der Zukunft noch alles erfunden?“, wollte Heinlein wissen. „Nun, das dürfen wir Ihnen leider nicht sagen“, antwortete Hallbaum.

 

Heinlein war enttäuscht, zeigte aber Verständnis: „Damit Ihre Vergangenheit bzw. meine Gegenwart nicht beeinflusst, richtig?“ „Richtig, Herr Heinlein.“ „Können Sie mir dann wenigstens sagen, ob ich weiterhin Erfolg haben werden und ob man meine Bücher noch in Ihrer Zeit kennt?“ „Das kann ich Ihnen verraten: ja, Ihre Bücher werden sehr erfolgreich. Sie sollten allerdings etwas anspruchsvoller werden.“ Heinlein war mit dieser Antwort sehr zufrieden.

 

Unten hatte sich die Lage etwas beruhigt. Beide Seiten warteten ab, was die jeweils anderen machen würden. Das war die Gelegenheit, für Heinlein weitere Fotos zu machen. „Leider kann ich mir nicht gleich ansehen, was ich fotografiert habe. Aber ich bin mir sicher, dass die Bilder sehr gut geworden sind. Vielleicht bringe ich ein Bildband heraus, wenn alles hier vorbei ist und ich wieder zu Hause bin“, erzählte er.

 

Erneut fielen Schüsse von den Soldaten. Die Aufständischen zogen sich zurück. Eine halbe Stunde geschah nichts. „Vielleicht sollten wir nach unten gehen und nachsehen“, schlug Hallbaum vor. Zastrowski schüttelte mit dem Kopf und entgegnete: „Das ist keine gute Idee, Marius. Es ist viel zu gefährlich, weil da unten immer noch geschossen wird. Außerdem endet unsere Mission in vierzig Minuten.“ „Werden Sie sich dann wieder in Luft auflösen wie damals beim Absturz der Hindenburg?“, fragte Heinlein. Zastrowski nickte und ergänzte: „Ja, so ist es. Wir können das selber veranlassen oder es geschieht automatisch zu einem vorgesehenen Zeitpunkt.“

 

Dann war es soweit. Zastrowski und Hallbaum bedankten sich bei Heinlein für die Hilfe und die Unterstützung. Kurz darauf lösten sich die beiden Zeitreisenden in Luft auf und erschienen wieder im Transporterraum.

 

Der Professor machte ein zufriedenes Gesicht, nachdem ihm berichtet wurde, was passiert war. „Sie haben gute Arbeit geleistet, die Fotos, die Sie gemacht haben, sind auch sehr gut. Es gibt nur eine geringfügige Abweichung von der Zeitlinie von lediglich 0,052 %. Die Änderungen betreffen ausschließlich Heinlein. Er hat zwei Jahre später, im Jahr 1958 einen zusätzlichen Roman geschrieben und veröffentlicht. Er heißt Zeitenwanderer und wurde ein großer Erfolg. Darin werden Sie beide ausführlich beschrieben. Die Abenteuer, die die Protagonisten in diesem Roman erleben sind aber reine Fantasie und haben mit der Realität nichts zu tun. Außerdem hat Heinlein tatsächlich einen Bildband mit seinen Fotos, die er bei dem Aufstand in Budapest gemacht hat, herausgebracht. Auch dieser verkaufte sich ausgezeichnet.“

 

Der Auftrag war erledigt. Aber das nächste Abenteuer wartete schon.

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.wikipedia.org
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2023

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