Timo war anders, er war besonders. Das hatte man ihm schon spüren lassen, als er noch ein Kind war. Niemand wollte mit ihm spielen, nicht die Jungen, nicht die Mädchen. „Du bist anders“, sagten die Kinder. Das sagten auch die Erwachsenen. Wenn er gefragt wurde, was er ist, antwortete er stets: „Ich bin ich.“ Das hatte Timo vor einiger Zeit aus einem Song von Glasperlenspiel übernommen. Da hieß es Ich bin ich auf meine Weise. Manchmal laut und manchmal leise. Das passte sehr gut.
Das war es. Timo unterschied sich von den Anderen. Er fühlte sich weder als Mann, noch als Frau. Er war einfach nur ein Mensch, und so wollte er auch angesprochen werden. Doch die Zeit war noch nicht so weit. In Briefen wurde er immer als „Herr“ angeschrieben, trotz seiner Proteste. Dann kam er auf die Idee, zu beantragen, dass diese Angabe im Einwohnermeldeverzeichnis und somit im Personalausweis gestrichen werden sollte. Doch das verlief erfolglos.
Timo beschloss, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Es mussten doch noch mehr Leute geben, die sein Schicksal teilten. Timo wandte sich an den Sender TELE 12. Dort ging täglich zur Prime-Time Für Sie aufgedeckt auf Sendung. Vor ein paar Jahren kam dort ein längerer Beitrag über eine junge Frau, die in Tunesien ihre Freundin auf offener Straße geküsst hatte. Homosexualität ist in diesem Land immer noch verpönt und wird mit Gefängnis bestraft. In Deutschland war das früher auch so. Timo war froh darüber, dass das nicht mehr so war, denn damals wären auch Personen wie er verfolgt oder zumindest ausgegrenzt worden.
Die Sendung fand großes Interesse und bescherte dem Sender eine sehr gute Einschaltquote. Das was lange Zeit totgeschwiegen wurde, wurde nunmehr überall eifrig diskutiert, in den Medien, am Arbeitsplatz, in der Kneipe und mit den Nachbarn. Die meisten Leute änderten dabei ihre Meinung nicht, doch einige schon. Für die Betroffenen in der LGBTQ- Szene war es auf jeden Fall sehr erfreulich, dass ein großer Fernsehsender sich mit dem Thema beschäftigte.
„31 Geschlechter-Varianten hat die New Yorker Menschenrechtskommission aufgelistet. Das ist großartig für eine neue Sendereihe. Wir können uns einen ganzen Monat lang jeden Tag mit einer Gendervariante ausführlich auseinandersetzen. Immer um 19 Uhr“, erklärte Norbert Hundertmark, der Programmdirektor von TELE 12 gegenüber seinen Kollegen in der Konferenz sechs Tage nach der Ausstrahlung von Für Sie aufgedeckt. Nathalie Hollmann und Lars Steinke nickten zustimmend. Man hatte ja schon seit einiger Zeit eine Gender-Sendung im Programm, nämlich Das lässt sich gendern. Aber dabei ging es um Sprache, nicht um Personen. Das hier war etwas ganz anderes.
„Als Titel hätte ich drei Vorschläge, nämlich Wir legen uns queer, Ich bin ich und Anders oder nicht“, sagte Nathalie. Norbert antwortete: „Gute Ideen, Frau Kollegin. Mir gefallen alle drei Titel gut, aber am besten finde ich Ich bin ich. Das hat die richtige Message. So machen wir es. Da haben wir auch gleich eine Titelmelodie.“ Norbert kannte allerdings den gleichnamigen Song von Rosenstolz. Gewählt wurde aber der von Glasperlenspiel.
Der Sender schaltete eine Zeitungskampagne um Kandidaten für die Sendungen zu werben. Das gelang mittelmäßig. Bei einigen Gendern gab es reichlich Bewerbungen, bei anderen nur wenige oder gar keine. Norbert entschied, dass es keine 31 Sendungen geben würde, sondern nur 20. „Das reicht auch. Wir senden von Montag bis Freitag“, beschloss er.
So geschah es dann auch. Die Sendungen kamen nicht live, sondern wurden aufgezeichnet. Neben der Vorstellung der jeweiligen Person gab es ausführliche Informationen über die jeweilige Geschlechter-Variante, einen historischen Rückblick dazu sowie Kurzauftritte mehrerer Prominenter, die sich jeweils kurz darüber ausließen.
Das Format kam gut an und fand auch internationale Beachtung. Konservative Gruppen protestierten dagegen, aber größtenteils gab es Zustimmung, auch von den jeweiligen Interessenverbänden. Das freute Norbert ungemein, insbesondere, dass die BLOCK-Zeitung, die sonst immer sehr kritisch über seinen Sender berichtete, diesmal euphorische Artikel über die Sendung druckte. „Das gibt den Tag einen positiven Start“, stellte er fest.
Nach einem Monat war die Sendereihe beendet und bescherte TELE 12 sehr gute Einschaltquoten. Sogar die parallel laufende Kochsendung des Konkurrenzsenders wurde überboten. Die Werbeeinnahmen flossen reichlich, nicht jeder Kunde konnte seine Werbung platzieren. Dabei konnte der Sender sich aussuchen, welche Spots liefen und welche nicht. Es wurde dabei darauf geachtet, dass die Werbung dezent war und zum Thema passte.
Timo war glücklich darüber, dass sein Anstoß solche Folgen hatte, nicht nur wegen des Geldes, das er dafür von dem Sender erhielt. Viel besser für ihn war, dass er nunmehr anerkannt und sein Anderssein akzeptiert wurde. Er war einfach nur ein Mensch, das war das Wichtigste. Aber es gab noch viel zu tun, nicht nur in Deutschland.
Bildmaterialien: www.die-linke.de
Tag der Veröffentlichung: 12.03.2023
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