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Der mickrige Weihnachtsbaum

 

Es war der 23. Dezember 1978, ich war siebzehn Jahre alt. Ein paar Tage zuvor hatte meine Mutter etwas verkündet, was mich sehr überraschte: „Es wird dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum geben. Du bist jetzt alt genug, dass wir darauf verzichten können, Matthias. Außerdem habe ich keine Lust dazu, die Nadeln weg zu saugen.“ Eine weitere Diskussion fand nicht statt. Wenn meine Mutter etwas entschieden hatte, denn war das auch so. Tja, dann sollte dieses Jahr das erste baumlose Jahr werden. Einerseits konnte ich meine Mutter verstehen, andererseits würde mir etwas fehlen. Ich nahm das aber so hin.

 

Zwei Weihnachtsgeschenke musste ich noch besorgen. Eins für meinen Bruder Achim und eins für meine Großmutter. So fuhr ich in die Stadt, obwohl es sehr voll werden würde. Es war Samstag, aber ein sogenannter „langer Samstag“, das bedeutete dass die Läden nicht wie sonst üblich an diesem Tag schon um 14 Uhr schlossen.

 

Überraschenderweise waren die Geschäfte bei weitem nicht so überfüllt, wie ich es befürchtet hatte. Die beiden Geschenke waren schnell besorgt. So blieb noch ausreichend Zeit für einen Bummel über den Weihnachtsmarkt, der sich damals noch auf die Altstadt beschränkte. An der Marktkirche war ein Stand für Weihnachtsbäume aufgebaut. Es gab noch reichlich Auswahl. Ich war drauf und dran, einen zu kaufen, um meine Eltern zu überraschen. Doch wie sollte ich diesen nach Hause bekommen? In der Straßenbahn würde das schwierig werden.

 

Stattdessen begab ich mich zum Raschplatz, der sich auf der Nordseite des Hauptbahnhofs befindet. Ich wollte die eine oder andere LP kaufen. An CDs war seinerzeit noch nicht zu denken, die gab es noch nicht, erst recht kein Internet, wo man sich Songs herunterladen konnte. Die LPs konnte man in zahlreichen Plattenläden kaufen. Einen ziemlich großen gab es dort am Raschplatz. Der war damals noch nicht so heruntergekommen wie heute. Dort gab es ein großes Kaufhaus und viele Geschäfte. Heutzutage tummelt sich dort die hiesige Drogenszene.

 

Im Schallplattenladen wurde ich schnell fündig. Zwei Scheiben mit elektronischer Musik gingen in meinen Besitz über. Nachdem ich den Laden verließ, erblickte ich gegenüber einen weiteren Stand mit Weihnachtsbäumen. Diese sahen seltsam aus. Einige waren winzig klein, andere krumm und schief. Außerdem gab es welche, die eine durchaus angemessene Größe hatten und gerade gewachsen waren, aber wenige Äste hatten. Die machen bestimmt wenig Umsatz, dachte ich. Da bemerkte ich, dass die Leute zwar Bäume mitnahmen, diese aber nicht bezahlten, sie wurden offensichtlich verschenkt.

 

Und dann sah ich, wer hinter dieser eigenartigen Aktion stand: Es war die SPD. Ich war erst wenige Monate zuvor in diese Partei eingetreten und kannte dort noch kaum jemanden. Aber ich war erfreut und stellte mich als frischgebackener Genosse vor. „Dann such dir mal einen schönen Baum aus, Matthias“, sagte ein älterer, dicklicher Mann mit Hornbrille. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich für einen Mittelgroßen, denn die Frage des Transports war ja zu beachten. Der Baum war dennoch nicht einfach zu tragen, zumal ich ja noch die Tüten mit den Schallplatten und den Geschenken dabei hatte.

 

Ich entschied mich dafür, den Nahverkehrszug statt die Straßenbahn zu nehmen, da der Hauptbahnhof näher am Raschplatz war als die Tramhaltestelle. Das galt auch für den Kleefelder Bahnhof, der sich näher an unserem Wohnhaus befand. Allerdings gab es damals am Hauptbahnhof weder Rolltreppen noch Fahrstühle zu den Bahnsteigen. Entsprechend mühselig war es, den Baum nach oben zu verfrachten. Einige der Leute blickten mitleidig, andere belustigt. Schließlich schaffte ich es nach oben, unfallfrei.

 

Dann kam der Zug. Damals waren die Bahnsteige und die Züge noch nicht auf gleicher Höhe wie heutzutage und die Türe waren schmaler. Trotz alledem gelang es mir mit dem Baum und den Tüten hinein zu kommen. Ich blieb allerdings am Eingang stehen und setzte mich nicht. Es war ja nur eine Station bis nach Kleefeld.

 

Der Ausstieg dort wurde ebenso bewältigt, wie das Hinabgehen in die Bahnhofshalle. Der Weg nach Hause war nur sehr kurz, aber mir kamen einige Bekannte entgegen, die sich auch über das Bäumchen amüsierten.

 

Zu Hause rief meine Mutter entsetzt: „Was ist das denn für eine Krücke? Wo hast du den denn her?“ Ich erklärte es ihr. Mein Vater kam hinzu. Er konnte es nicht unterdrücken über den Baum und die SPD zu lästern.

 

Geschmückt sah der Weihnachtsbaum einigermaßen manierlich aus, auch wenn er so mickrig war. Leider verlor er zum Missfallen meiner Mutter sehr schnell seine Nadeln und wurde noch vor Silvester wieder entsorgt.

 

In unserer Familie war dieser Baum noch jahrelang Gesprächsstoff, insbesondere dann, wenn die SPD bei einer Wahl ein mickriges Ergebnis erzielt hatte.

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Bildmaterialien: www.myheimat.de
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2022

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