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Das Projekt Mauerfall

 

 

Gut gelaunt fuhr ich an diesem Spätsommerabend im Jahre 2122 zu meinem Arbeitsplatz. Der Wettercomputer hatte es in diesem Jahr gut mit uns gemeint. Am Tage war es angenehm warm und nicht zu heiß. Es regnete nur nachts, und das in ausreichenden Mengen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Menschen früher nicht in der Lage waren, das Wetter zu bestimmen. Aber mein Vater hatte mir davon erzählt.

 

Wohin würden wir die Zeitmaschine heute schicken? Ich war gespannt. Meine Kollegen Sarah O'Brian und Vladimir Kaspersky waren schon im Büro, als ich es betrat. Sie tranken Tee. Es war kein echter, wie ich vermutete. Ich sollte mich täuschen. Vladimir machte eine einladende Bewegung und sagte: „Setz dich und nimm dir einen Tee aus dem Samowar. Es ist echter, keiner aus dem Nahrungsgenerator. Wir Russen lieben Tee. Er muss aber richtig zubereitet sein. Darauf legen wir viel Wert.“ Ich war überrascht und nahm die Einladung gerne an.

 

Der Tee war sehr kräftig und schmeckte wirklich ausgezeichnet. Dazu gab es Marmelade ohne Brot. „Das ist so üblich in Russland“, erklärte Vladimir. In diesem Moment piepte der Computer. „Mauerfall“ stand auf dem Bildschirm. „Na, das ist ja heute nur ein Katzensprung“, frohlockte ich. Unsere neue Aufgabe gefiel mir. „Nun ja, nicht unbedingt“, meinte Sarah und ergänzte: „Wir sollten unsere Zeitmaschine zunächst nach Leipzig fliegen lassen. Da begann alles. Aber auf jeden Fall geht es ins Jahr 1989.“

 

Vladimir begab sich zum Schaltpult und drückte den Startknopf der Flugmaschine. Sie erhob sich umgehend und flog in südlicher Richtung. „Das war damals wirklich bedeutend für die Weltgeschichte und großartig für Euch Deutsche“, bemerkte Sarah. „Ja, und viele Jahre später hattet Ihr Iren auch Eure Wiedervereinigung“, antwortete ich. „Richtig, wir mussten bis ins Jahr 2031 warten, nachdem die Briten die Monarchie abschafften und die Nordiren auch zu uns gehören wollten“, erwiderte meine junge Kollegin. Vladimir warf ein: „Und in Zypern geschah es erst 2049, in Korea sogar erst 2088.“

 

Etwa eine halbe Stunde später hatte unsere Flugmaschine Leipzig erreicht. Ich war schon einige Male in dieser Stadt und mochte sie sehr. Daher war ich darüber erschrocken über den Anblick, der uns nach dem Zeitsprung bot. Die meisten Häuser waren in einem sehr schlechten Zustand, abgesehen von wenigen Ausnahmen. Sarah schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn sie sagte: „Das sieht heutzutage ganz anders aus. Zu DDR-Zeiten wurde an den Häusern wenig renoviert. In Leipzig sah es noch relativ gut aus, weil das eine Messestadt war. In anderen Städten war das weit schlimmer“, wusste Sarah zu berichten. Vladimir nickte bestätigend.

 

„Lasst uns zur Nikolaikirche fliegen. Dort waren damals die Demonstrationen, immer montags“, schlug Sarah vor. Um diese zu beobachten, mussten wir zwei Tage vorspringen, auf den 4. September 1989. Da begannen die ersten Proteste, wie uns Sarah erklärt hatte. Vladimir hantierte am Schaltpult. Vor der Kirche am Friedhof sahen wir eine kleine Gruppe mit fünf Transparenten. Es mochten höchstens eine Handvoll Personen sein. Sie wirkten trotz ihrer geringen Zahl entschlossen. Sie skandierten lauthals „Freiheit“ und „Wir wollen raus“. Das gefiel den gleichfalls anwesenden Staatssicherheitskräften natürlich nicht. Sie rissen die Transparente herunter und versuchten, die Versammlung aufzulösen. Es war so offensichtlich, dass das Stasi-Leute waren, dass Sarah das nicht erklären musste.

 

Etwas weiter entfernt erblickten wir ein paar Herren, die fotografierten und filmten und sich eifrig Notizen machten. „Das sind westliche Journalisten. Zur Zeit ist Messe in Leipzig. Da durften sie sich hier aufhalten, ansonsten war die Stadt für sie gesperrt“, berichtete Sarah. Sie fuhr fort: „Das Bildmaterial musste aus Leipzig herausgeschmuggelt werden, was meistens gelang. Daher waren die westdeutschen Fernsehzuschauer bestens informiert, besser als manche Leipziger selbst. Nichtsdestotrotz sprach sich das schnell herum, dass hier etwas abging. Daher wurden die Montagsdemonstrationen immer größer, wie wir gleich sehen werden. Aber jetzt fliegen wir erst einmal nach Dresden.“ Ich war wieder mal beeindruckt über die Geschichtskenntnisse meiner Kollegin. Sie wusste ständig über die jeweiligen Ereignisse Bescheid, ohne nachschauen zu müssen.

 

Wir versetzten die Zeitmaschine zum 04. Oktober 1989, das war ein Mittwoch. „An diesem Tag sind vier Züge mit Flüchtlingen aus Prag von der dortigen Botschaft durch den Dresdener Hauptbahnhof geleitet worden. Vor dem Bahnhof versammelten sich etwa 5.000 Menschen. Die wollten die Züge stürmen, notfalls mit Gewalt. Aber das gelang nicht. Schaut selbst!“, sagte Sarah.

 

Auf dem Projektor erblickten wir die Menschenmassen. Die Leute waren sichtlich aufgebracht. Es herrschte eine ganz andere Stimmung als in Leipzig. Die Polizei schritt schließlich ein und die Bürger bewaffneten sich mit Pflastersteine, womit sie die Polizisten bewarfen. Es war wirklich schlimm. Sarah bemerkte mein Entsetzen und erklärte: „Das war zum Glück eine Ausnahme. Die meisten Demonstrationen verliefen friedlich, aber der Vorfall von Prag hat die Stimmung aufgeheizt.“ „Warum sind wir eigentlich nicht dorthin geflogen?“, wollte ich wissen. „Nun, Sebastian. Zum Einen hätte dieser Ausflug zu lange gedauert, und zum Anderen wissen ja bestens, was da passiert ist. Lasst uns lieber wieder nach Leipzig fliegen.“

 

Das erste Argument konnte ich nachvollziehen, das zweite nicht. Mich hätte das interessiert, was in Prag geschehen war. Aber ich nahm das so hin. Vladimir brummelte etwas in sich hinein, was ich nicht verstand. Offenbar war er auch nicht damit einverstanden. Er widersprach aber nicht offen, sondern hantierte am Schaltpult. Die Flugmaschine wurde wieder nach Leipzig verbracht zum 09. Oktober 1989, also fünf Tage nach dem Vorfall in Dresden.

 

Sarah beichtete weiter: „Das war die größte Protestdemonstration bislang. Die Menschen hatten die Vorfälle in Peking im Kopf, wo die Proteste gewaltsam niedergeschlagen wurden, wie Ihr wisst. Dort gab es 2.600 Tote. So etwas sollte und durfte es nicht in Leipzig geben. Zum Glück war es auch nicht so. Es war der Wendepunkt der friedlichen Revolution. 70.000 Teilnehmer zogen durch die Stadt, unter anderem ging es an der Stasi-Zentrale am Dittrichring vorbei. Dahin werden wir jetzt fliegen. Das Gebäude wurde auch Runde Ecke genannt.“

 

Wir erblickten das Haus, das diesen Namen wahrlich verdiente. Es war wirklich eine runde Ecke. „Das Gebäude war von 1950 bis 1989 Sitz der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit. Danach diente es als Museum über die Stasi, bis es im Jahre 2039 abbrannte. Wir wissen heutzutage nicht mehr, warum das geschah, aber es ist sehr bedauerlich, dass dabei wichtige, unwiederbringbare Dokumente aus dieser Zeit vernichtet wurden. Nun lasst uns aber beobachten, was weiter geschah“, erzählte Sarah weiter. Auf dem 4D-Projektor sahen wir, dass die Menschen zwar aufgebracht, aber nicht aggressiv waren. Sie skandierten lauthals Parolen wie „Wir sind das Volk“ oder „Freie Wahlen“. Das war sehr berührend.

 

„Nun kommen wir zum Hauptereignis unserer heutigen Erkundigung“, kündete meine Kollegin an. „Es geht zu der berühmten Pressekonferenz mit Günter Schabowski, die der Auslöser zur Grenzöffnung war“, fuhr sie fort. Ich war sehr gespannt. Das hatte man schon tausendmal in alten Filmen gesehen, aber jetzt würden wir es sozusagen live erleben.

 

Die Flugmaschine wurde nach Ostberlin verbracht, genauer gesagt zur Mohrenstraße 36/37. Dort war es kurz vor 19 Uhr. Ein italienischer Journalist fragte: „Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“ Dieser wirkte erstaunt, weil er dachte, dass die neue Regelung zur Reisefreiheit schon veröffentlicht sei. Das stimmt aber nicht. Er wühlte in seinen Unterlagen. Vladimir drückte den Stopp-Knopf. Die Szene fror ein. „Ich habe da eine Idee. Wir könnten mal wider eingreifen und etwas verändern“, sagte mein Kollege. Er schrieb etwas auf einen Zettel, legte diesen in den Teleporter und transferierten ihn sogleich auf Schabowskis Tisch. Dann ließ Vladimir die Zeit weiterlaufen.

 

Schabowski las vor: „Eier, Butter, Käse, Wurst, Brot…“ Alle im Saal lachten. „Entschuldigung, das war mein Fehler. Also, was ich sagen wollte, ist: Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt“, fuhr er fort. Nachdem er fertig war, fragte ein anderer Journalist, wann das in Kraft treten würde, und Schabowski entgegnete: „Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.“

 

Was danach weiter geschah, weiß jeder. Die DDR-Bürger stürmten an die Grenzübergänge und strömten nach West-Berlin. Das sahen wir uns erfreut an. „Viel haben wir ja nicht verändert, nur für ein bisschen Spaß gesorgt“, resümierte Vladimir und grinste.

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.dw.com
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2022

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