Hauptkommissar Torsten Seegers saß mit seinem Kollegen Kommissar Manfred Berthold beim Frühstück. Es gab Mettbrötchen, wie immer am Montagmorgen. Gerade, als sich Seegers Kaffee nachgegossen hatte, klingelte das Telefon. Pflichtbewusst meldete er sich.
Das Gespräch war nur kurz. Danach berichtete Seegers seinem Kollegen: „Wir haben eine frische Leiche. Es geht zum Wurmberg, genauer gesagt zur Wurmbergschanze!“
Berthold antwortete: „Da war ich noch nie, wollte aber immer schon einmal hin. Vor vielen Jahren war ich in Finnland in Lahti. Das war sehr beeindruckend.“
Seegers lachte und entgegnete: „Ganz so hoch ist die Schanze am Wurmberg nicht. Die obere am Gipfel gibt es auch nicht mehr. Sie wurde 2014 abgerissen. Aber die untere gibt es noch. Genauer gesagt heißt sie Brockenwegschanze und ist nicht sehr imposant. Aber für einen Mord scheint sie zu reichen. Dann auf nach Braunlage!“
So machten sich die beiden Kommissare der Kripo Südharz zusammen mit Jörg Hohmann, dem Rechtsmediziner, auf den Weg von Osterode nach dem Wurmberg. Die Entfernung von knapp 40 Kilometern legten sie in 45 Minuten zurück. Es war dort sehr kalt und es lag hoher Schnee.
„Gut, dass wir Schneeketten aufgelegt haben“, bemerkte der Hauptkommissar nach der Ankunft.
„Für Osterode hatten Winterreifen gereicht“, entgegnete Berthold und lachte.
An der Schanze, die wirklich mickrig war, erwartete sie ein kleiner, dicklicher Mann mit spärlichem Haar. Er stellte sich als Manfred Möller vor und erklärte, dass er der Vorsitzende des Braunlager Wintersportvereins sei.
„Ich selbst habe die Leiche gefunden, als ich heute morgen die Anlage inspizieren wollte. Ich war ziemlich geschockt, zumal ich den Toten kannte“, erzählte der Mann.
Der Hauptkommissar fragte nach: „Und wie hieß er? Ich muss zugeben, dass ich mich für Wintersport nicht besonders interessiere.“
Manfred Möller war sichtlich enttäuscht und antwortete entsprechend pikiert: „Er hieß Konrad Kaiser und war mein Vorgänger. Er hat seine Aufgabe jahrelang sehr gewissenhaft ausgeübt. Nichts hat er sich zu schulden kommen lassen. Doch dann war da dieser Skandal mit dem jungen Mädchen, das müssen Sie doch in der Zeitung verfolgt haben. Na ja, jedenfalls musste er danach seinen Posten aufgeben und zurücktreten.“ Weder Seegers noch Berthold kannten die Geschichte und schwiegen deshalb dazu.
Unterdessen hatte der Rechtsmediziner einen ersten Blick auf die Leiche geworfen und berichtete kurz: „Der Todeszeitpunkt liegt mindestens acht Stunden zurück, allerdings kann man das bei dieser Kälte nicht genau sagen. Nach der Obduktion weiß ich mehr.“
„Und hast du schon eine Vermutung zur Todesursache, Jörg?“, wollte der Hauptkommissar wissen.
„Nun, Torsten. Hinweise auf äußere Gewalteinwirkung kann ich nicht erkennen. Es könnte aber sein, dass der Mann erwürgt wurde. Vielleicht ist es wieder eine Atemkontrolle wie bei unserem Fall in Bad Lauterberg.“ Seegers erinnerte sich noch gut an den Fall aus der BDSM-Szene, den der Rechtsmediziner ansprach.
„Gewöhnlich werden diese Spielchen aber nicht unter freiem Himmel und schon gar nicht bei diesen Temperaturen praktiziert“, gab er zu bedenken.
Da nichts weiter zu ermitteln war, fuhren die drei Kriminalbeamte zurück zum Kommissariat in Osterode. Dort checkte Seegers sofort im Archiv des Computers den von Herrn Möller erwähnten Vorfall mit dem jungen Mädchen und wurde nicht fündig.
„Kein Vorgang, keine Ermittlungen unsererseits“, resümierte er. Berthold antwortete: „Nun, wenn die Kleine nicht zu klein war, können wir auch nichts haben. Aber wir können auf das Portal der hiesigen Zeitung gehen. Vielleicht findet sich da etwas!“.
Tatsächlich fanden sie nach kurzer Suche einen passenden Artikel. Vor drei Jahren hatte der nunmehr Ermordete ein Verhältnis mit einer 16-jährigen Schülerin begonnen, die in seinem Verein als großes Talent galt. Das war zwar nicht verboten, führte aber dazu, dass sein Ansehen schwand, und schließlich zu seinem Rücktritt als Vorsitzender des Wintersportvereins führte.
„Hm, ich weiß nicht, ob uns das weiterbringt“, sinnierte der Hauptkommissar. Berthold nickte und sagte: „Der Name des Mädchens ist in dem Artikel abgekürzt, aber es dürfte nicht allzu schwierig sein, den herauszubekommen. Wir sollten Möller dazu befragen!“
„Das hätten wir auch gleich machen können, Herr Kollege“, tadelte Seegers. Sein Vorwurf war aber nicht böse gemeint.
Der Anruf bei dem Vorsitzenden des Wintersportvereins ergab, dass es sich bei der jungen Frau um eine gewisse Merle Hausmann handelte. Laut dem bundesweiten Meldeverzeichnis, auf das die Kommissare erfreulicherweise Zugriff hatten, wohnte sie mit ihren Eltern in Hannover.
„Meine alte Heimat, es wird Zeit, mal wieder dahin zu fahren“, sinnierte Torsten Seegers. Sein Kollege nickte und ergänzte: „Bei unserem letzten Fall, als wir in der BDSM-Szene ermitteln mussten, war ich ja dort. Ein Grund mehr dafür, dass du jetzt dran bist!“
Hohmann betrat das Büro. „Ich habe das Obduktionsergebnis. Der Tod ist nicht durch Erwürgen eingetreten. Zwar gibt es Würgemale, aber diese waren minimal und führten nicht zum Tod. Vielmehr ist der gute Mann vergiftet worden. Ich habe Spuren von Thallium in seinem Magen entdeckt. Es ist hochgiftig und wird gut über den Magen aufgenommen, zumal es geschmacksneutral ist. Seine letzte Mahlzeit war ein Schweinebraten mit Klößen und brauner Soße. Das war offenbar die Henkersmahlzeit, sozusagen“, berichtete der Rechtsmediziner.
„Mal wieder Thallium. Das hatten wir lange nicht mehr“, stellte der Hauptkommissar fest. Er erinnerte sich an zwei Fälle aus der Umgebung von Hannover aus den letzten Jahren, bei denen Thallium ebenfalls das Mittel war, das zum Tode der Opfer führte. In dem einen Fall hatte eine junge Frau aus Bad Münder unabsichtlich ihren Geliebten mittels eines vergifteten Käsebrotes umgebracht. Eigentlich galt der Mordanschlag ihrem verhassten Ehemann.
In dem anderen Fall wurde in einem Hotel in Hannover am Nordufer des Maschsees ein Mann aufgefunden. Er wurde auch durch Thallium vergiftet, aber danach übel zugerichtet. Dieser Fall wurde nie aufgeklärt.
Nachdem der Hauptkommissar von seinen Erinnerungen berichtet hatte, stellte Hohmann fest, dass er sich an die Fälle sehr gut erinnern konnte, besonders an den unaufgeklärten. Berthold hingegen hatte nur vage Erinnerungen daran. „Ich werde mit den Kollegen in Hannover darüber sprechen und die Akten einsehen“, kündigte Seegers an.
Am nächsten Tag machte sich Seegers auf den Weg von Osterode nach Hannover. Er brauchte etwas mehr als anderthalb Stunden. Es war wenig Verkehr, aber kurz vor seinem Ziel gab es doch noch einen Stau. An der Pferdeturm-Kreuzung bog der Hauptkommissar links ab Richtung Kleefeld. Rechterhand erblickte er die Petrikirche, schräg gegenüber das Eisstadion.
Kurz danach war auch schon sein Ziel: Scheidestraße 20. Direkt davor war kein Parkplatz frei, aber in der benachbarten Breithauptstraße um die Ecke. Der Hauptkommissar war viele Jahre nicht mehr in dieser Gegend gewesen. Es hatte sich einiges verändert. Der gute alte Elektroladen war nicht mehr da, und auch nicht die Fahrschule gegenüber. Aber das zypriotische Lokal in dem Haus, wo die junge Dame bei ihren Eltern wohnte, gab es noch.
Seegers klingelte. Er hatte sich nicht angekündigt, da nicht auszuschließen war, dass Merle Hausmann etwas mit der Tat zu tun hatte. Das war nicht unbedingt wahrscheinlich, aber immerhin möglich. Der Türsummer ertönte, der Kommissar konnte das Haus betreten. Im zweiten Stock rechts war die Wohnung. Eine ziemlich untersetzte Frau mittleren Alters, bekleidet mit einer schmuddeligen Kittelschürze öffnete ihn. Es roch nach Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln.
„Ja, was ist? Was wollen Sie“, fragte die Frau.
„Ich bin Hauptkommissar Seegers von der Kripo Südharz. Ich würde gerne mit Ihrer Tochter sprechen“, antwortete er pflichtgemäß und zeigte seine Dienstmarke.
Die Frau zog eine Augenbraue hoch und rief: „Merle, kommst du mal. Hier ist ein Typ von der Polizei, der will was von dir!“ Besonders freundlich klang das nicht, eher widerspenstig. Gefühlt fünf Minuten später schlurfte Merle heran. Sie war fast genau so dick wie ihre Mutter.
„Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?“, fragte Seegers. Er war verwundert über die Leibesfülle der jungen Frau. Immerhin hatte sie ja früher Leistungssport gemacht.
„Warum? Ist etwas passiert?“, wollte sie wissen.
„Das erkläre ich Ihnen gleich“, antwortete der Kommissar. Sie gingen in das Zimmer der jungen Frau. Es ähnelte eher dem Raum eines Teenagers als dem einer 20-Jährigen. An der Wand klebten Poster von Skispringern. Auf einem war auch sie selbst zu sehen.
„Das war früher meine große Leidenschaft, aber das ist Vergangenheit“, erklärte sie.
„Ich weiß, Frau Hausmann. Darum geht es auch, genauer gesagt um Konrad Kaiser. Er …“
„Ist er tot?“ Die Frage von Merle klang besorgt, das spürte Seegers ganz deutlich.
„Ja, leider, Frau Hausmann. Er ist tot, er wurde ermordet.“
„Oh, Gott. Wissen Sie schon, wer es war?“
Immer diese Frage, dachte der Kommissar. Als ob Ermittlungen noch nötig wären, wenn man den Täter hatte. Das kam aber auch in jedem zweiten Krimi vor.
„Nein, Frau Hausmann. Wir tappen noch im Dunklen. Wo waren Sie in der Nacht von Sonntagabend auf Montagmorgen?“
Merle schluckte. Eine solche Frage, wurde üblicherweise nur an jemanden gestellt, der als tatverdächtig galt.
Sie antwortete, ohne zu überlegen: „Ich war hier. Ich bin immer hier. Seitdem ich so dick geworden bin, gehe ich nur noch selten raus. Ich habe Konrad wirklich geliebt, auch wenn das keiner geglaubt hat. Es hat mich sehr betrübt, dass er auf den Druck hin die Beziehung beendet hat. Darum habe ich auch das mit dem Skispringen aufgegeben.“
„Kann das jemand bezeugen, dass Sie hier waren?“
„Meine Eltern. Die waren auch hier.“
Der Hauptkommissar befragte danach die Mutter. Sie sagte aus, dass sie kurz nach ihrer Tochter ins Bett gegangen war, zuvor hatten beide ferngesehen. Ihr Mann hatte sich schon Stunden vorher schlafen gelegt, weil er Frühdienst hatte. Darum war er auch jetzt nicht da. In circa zwei Stunden würde er von der Arbeit zurück sein. Solange wollte der Kommissar aber nicht warten. Er verabschiedete sich und fuhr mit seinem Auto Richtung Innenstadt.
Ziel war das Polizeikommissariat Mitte in der Herschelstraße. Seegers freute sich einerseits auf das Wiedersehen mit den alten Kollegen, jahrelang hatte er dort gearbeitet, bis er in den Südharz versetzt wurde. Andererseits durfte er seinen Fall nicht aus dem Auge verlieren. Die beiden anderen Morde im Raum Hannover mit diesem Gift lagen zwar schon ein paar Jahre zurück, aber Seegers war sich sicher, dass Alfred Groß sich noch daran erinnern konnte. Er hatte ein Elefantengedächtnis und brauchte keinen Computer oder Karteikarten. Das hatte Seegers schon damals bewundert.
Erfreulicherweise war der Kollege noch nicht zu Tisch, obwohl es schon halb eins war.
„Es gibt heute Fisch, den mag ich doch nicht“, erklärte ihm Alfred Groß und ergänzte: „Es tut mir auch mal ganz gut, zu fasten. Aber nun sag schon, was führt dich in deine alte Heimat?“
Seegers antwortete: „Wir haben da einen Fall, bei dem das Opfer mit Thallium vergiftet wurde. Es gab in Hannover zwei Fälle, bei denen in den letzten Jahren dieses Zeug ebenfalls verwendet wurde.“
„Ja, der Fall mit dem Käsebrot und der in dem Hotel am Nordufer des Maschsees. Aber ich weiß nicht, ob dich das weiterbringt. Die Käsebrot-Dame sitzt immer noch im Knast. Es gab seinerzeit einen Riesenwirbel, weil sie ja nicht absichtlich das Opfer um die Ecke gebracht hat. Sie wollte zwar töten, aber nicht ihren Liebhaber, sondern ihren Ehemann. Aber Mord ist Mord. Sie muss noch drei Jahre absitzen.“
„Hm, und der andere Fall?“
„Erinnere mich bloß nicht daran. Ich habe in meiner Laufbahn schon vieles erlebt, aber das war wirklich schlimm. Das Opfer wurde nicht nur vergiftet. Die Täterin hat den Mann regelrecht abgeschlachtet. Seine Leber und sein Herz wurden entfernt. Wir haben die Organe nicht gefunden. Es ist davon auszugehen, dass sie mitgenommen worden sind oder sie wurden verspeist.“
Seegers schüttelte sich. Er wollte später eigentlich noch etwas essen. Jetzt war ihm der Appetit vergangen, jedenfalls auf Innereien.
„Du kannst gerne in die Akten gucken. Warte, ich hole sie dir. Ach ja, noch etwas zu dem Fall mit der zerstückelten Leiche. Es gab da noch ähnliche Fälle in Bremen, in Nürnberg und in Stuttgart.“
Mit Interesse sah sich Seegers die Akten an. Im Fall mit dem Käsebrot stieß er auf eine gewisse Daniela, einer Freundin der Täterin. Diese arbeitete in einer Glasbläserei in Hameln. Dort hatte sich die Mörderin unberechtigterweise das Gift besorgt.
Thallium wurde also für das Färben von Gläsern benutzt. Das war eine wichtige Spur und könnte zur Aufklärung seines Falles führen. In der anderen Akte stand, dass die Überwachungskamera des Hotels am Tag der Tat ausgefallen war, sodass es keine Bilder des Täters gab.
Ein Barkeeper einer nahe gelegenen Bar hatte aber ausgesagt, dass das Opfer dort mit einer eleganten Dame einige Drinks konsumiert und mit ihr ausgiebig geflirtet hatte. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass es sich um die Täterin gehandelt hatte. Sie wurde als sehr attraktiv beschrieben: lange schwarze Haare, vollbusig und schlank, aber nicht dürr. Eine bundesweite Fahndung verlief aber ergebnislos.
„Dabei erfuhren wir aber von den Fällen in den anderen Städten. Es scheint sich um eine Serientäterin zu halten, vielleicht aus der BDSM-Szene“ , sagte Alfred Groß und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Wir haben das mit dem BDSM auch schon vermutet, auf Grund der Würgemale an der Leiche. Aber dieser Fall ist anders“, entgegnete Seegers.
Mit gemischten Gefühlen verabschiedete sich Seegers von Alfred Groß und fuhr zurück nach Osterode. Er kam dort so spät an, dass es sich nicht mehr lohnte, ins Kommissariat zu fahren.
Am nächsten Tag wollte er alles mit Berthold besprechen.
Dieser hörte sehr interessiert zu, als ihm sein Kollege alles erzählte. „Das mit der Glasbläserei könnte eine wichtige Spur sein“, bemerkte Berthold.
„Richtig. Das habe ich auch sofort gedacht. Was wollen wir jetzt tun? Sämtliche Glasbläsereien in Deutschland anrufen, um nachzufragen, ob dort eine hübsche Frau arbeitet, die Männer tötet und ausweidet?“ Das war sarkastisch gemeint und wurde von Berthold auch so verstanden. Daher lächelte dieser süffisant und antwortete: „Wohl kaum, aber wir könnten eine Fernsehfahndung starten.“
Diese konnte erfreulicherweise schon zwei Wochen später ausgestrahlt werden. Die Resonanz war zunächst sehr spärlich, doch dann kamen vielversprechende Hinweise der Zuschauer. Sie kamen allesamt aus dem Raum Südharz und bezogen sich auf dem Toten von der Wurmbergschanze.
Zu den anderen Fällen und den scheußlichen Morden kam kein einziger Anruf. Immerhin waren zwei Hinweise der Zuschauer zum Wurmberg-Fall sehr aufschlussreich. Der eine Anrufer war ein Zeuge, der in der Mordnacht am Tatort unterwegs war. Er beschrieb, dass sich dort zwei Männer aufgehalten hatten, wobei es sich wahrscheinlich zum Einen um das Opfer gehandelt hatte und zum Anderen um den Täter handelte.
Der zweite Anrufer berichtete, dass er in der Nähe der Wurmbergschanze etwas gefunden hätte, möglicherweise das Tatwerkzeug. Aus ermittlungstaktischen Gründen wurden in der Sendung keine näheren Angaben dazu gemacht.
Am nächsten Morgen verfolgten die beiden Kommissare die neuen Spuren und suchten die Zeugen auf, welche beide in Braunlage wohnten. Der erste war derjenige, welcher zur Tatzeit am Tatort war.
„Ich frage mich, warum sich der Kerl nicht eher gemeldet hat. Das stand doch groß in der Zeitung“, sagte Seegers auf der Fahrt zu dem Mann.
„Nun, heutzutage liest nicht jeder Zeitung. Manche gucken nur Fernsehen. Wenn man die falschen Programme guckt, entgehen einem solche Meldungen“, entgegnete Berthold. Er sollte Recht behalten.
Der Zeuge namens Edgar Wehmeyer war ein kleiner Mann mit Vollglatze. Er trug eine altmodische, runde Brille, bei der das rechte Glas einen Sprung hatte. Als er die Tür öffnete, hatte er eine Bierflasche in der linken Hand und roch nach Erbrochenem. Kein angenehmer Anblick, dachte der Hauptkommissar, ließ sich das aber nicht anmerken, ebenso wenig wie sein Kollege.
Sie betraten die Wohnung. Wie von Berthold vorausgesagt, lief der Fernseher, und zwar ein Privatsender. Es war eine dieser Dokusoaps. Frauen wurden ausgetauscht und kamen zu einer anderen Familie.
„Ich gucke das wirklich gern, das ist wie im richtigen Leben“, erklärte der Mann und grinste. „Ich kann das aber auch gerne ausmachen, wenn es Sie stört“, ergänzte er. Das tat er dann auch auf Bitten des Hauptkommissars.
Danach erzählte er, was er in der Nacht des Mordes gesehen hatte. „Die beiden Männer stritten miteinander. Der Jüngere würgte den Älteren mit eine Art Band. Dieser fiel irgendwann zu Boden. Danach nahm der Jüngere dann noch etwas aus seiner Tasche und steckte es dem anderen in den Mund.“
Seegers fragte sich, warum der Zeuge nicht eingegriffen hatte, wenn er das alles so genau beobachtet hatte. Er verkniff sich aber diese Frage. Stattdessen fragte er ihn: „Können Sie die Männer näher beschreiben? Den Täter vor allem. Wer das Opfer war, wissen wir ja.“
„Nun, der andere war klein und dick und hatte wenig Haare auf dem Kopf.“
Seegers und Berthold sahen sich an. Sie wussten, auf wen diese Beschreibung zutraf: auf Manfred Möller, dem Finder der Leiche.
Die Kommissare fuhren danach zu dem anderen Zeugen, einen Herrn namens Sebastian Meißner.
„Ich denke, wir haben unseren Täter, Manfred. Mal sehen, was der nächste Typ beisteuert“, sagte Seegers auf der Fahrt dahin. Berthold nickte und antwortete: „Das sehe ich auch so. Und auf sein Motiv bin ich gespannt.“
Herr Meißner war ein großer, hagerer Mann, er sah aus wie ein Oberlehrer. Seine Wohnung war vollgestopft mit allen möglichen Krimskrams, schöne Dinge und kuriose Sachen waren es.
„Ich sammle alles Mögliche, wie Sie sehen. Man weiß ja nicht, wann man es mal gebrauchen kann. Am Morgen nach dem Mord habe ich an der Sprungschanze das hier gefunden.“
Er holte ein langes Stück Kabelbinder hervor.
„Das hilft uns sehr viel weiter, Herr Meißner, vielen Dank“, erklärte der Hauptkommissar und verwahrte das Band sorgsam in eine mitgebrachte Plastiktüte, damit keine weiteren Fingerabdrücke daran kamen.
Am nächsten Morgen wurde der ahnungslose Herr Möller ins Polizeikommissariat vorgeladen. Er erschien auch brav. Nach anfänglichem Leugnen gestand er die Tat, zumal seine Fingerabdrücke auf dem Kabelbinder waren.
„Jetzt wüssten wir noch gerne, warum Sie das getan haben, Herr Möller“, fragte der Hauptkommissar.
„Dieser Saukerl hat mich erpresst. Er hat herausgefunden, dass ich Geld des Vereins unterschlagen habe. Keine Ahnung, wie er das herausgefunden hat. Er wollte seinen alten Posten zurück, das Schwein. Das konnte ich nicht zulassen, beides nicht. Ich habe zunächst versucht, ihn mit dem Kabelbinder zu erwürgen. Das klappte aber nicht. Er wurde nur ohnmächtig, war aber nicht tot. Dann nahm ich das Gift, um sicher zu gehen“, erklärte der Täter.
Nachdem er abgeführt wurde, sagte Seegers zu Berthold: „Mal wieder ein Fall abgeschlossen. Aber diese Tussi, die die Kerle abschlachtet, läuft immer noch frei herum. Hoffen wir, dass sie bald gefunden wird!“
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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2022
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