Norbert Hundertmark, der Programmdirektor von TELE 12, war zufrieden. Gerade waren die letzten Castings für die neue Show des Senders beendet. Bei dem Senioren-Gesangstalente-Wettbewerb gab es aber leider einen unerfreulichen Zwischenfall. Norberts Bruder Hubert hatte sich unter die Bewerber gemischt und dabei einen Bart angeklebt und eine dunkle Brille aufgesetzt. Außerdem war er unter einem falschen Namen aufgetreten. Das flog jedoch rasch auf. Darüber war Norbert zutiefst verärgert. Hubert hatte sich dafür noch nicht einmal entschuldigt. Stattdessen hatte er ihn angerufen und vorgeschlagen, eine Reihe mit Filmen zu senden, in denen die Musik von Beethoven eine wichtige Rolle spielte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.
Zum Glück wurde das nicht publik. Das hätte unangenehm werden können, ähnlich wie damals, als Hubert bei einer Verlosung von TELE 12 den ersten Preis gewonnen hatte. Das hatte einigen Wirbel ausgelöst und dazu geführt, dass bei den folgenden Verlosungen auch die Angehörigen von Mitarbeitern des Senders von der Teilnahme ausgeschlossen wurden. Aber das war Schnee von gestern.
Im Zuge der Disqualifikation von Hubert wurde das Teilnahmealter von fünfzig auf sechzig heraufgesetzt, was auch ein Grund dafür war, dass sein Bruder nicht teilnehmen durfte. Nun galt es, sich einen zugkräftigen Namen für die Show auszudenken. Dafür war üblicherweise Nathalie Hollmann zuständig. Die junge Frau hatte sich schon zahlreiche Titel für die Shows des Senders ausgedacht. Auch Lars Steinke wurde zu der Besprechung hinzugezogen.
„Ich begrüße Sie zu unserer heutigen Besprechung. Sie wissen, worum es geht. Haben Sie schon Vorschläge für den Titel der Show?“, fragte Norbert seine beiden Mitarbeiter. Nathalie antwortete prompt, wie so oft: „Ich habe drei Vorschläge: Zunächst Wir lassen die Senioren ran. Der zweite Vorschlag ist Je oller, je toller. Die dritte Idee ist Alter schützt vor Singen nicht.“ Norbert dachte kurz nach. Dann kam die Antwort: „Am besten gefällt mir Wir lassen die Senioren ran. Die anderen Vorschläge klingen abgedroschen. Außerdem wollen wir nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Was meinen Sie dazu, Lars?“ „Nun, das sehe ich auch so. Es gilt, die Leute neugierig zu machen. Für das Konzept der Sendung habe ich mir schon einige Gedanken gemacht. Es sollte ähnlich ablaufen wie bei den Castingshows der Konkurrenz und doch anders. Ich dachte daran, dass sich die Kandidaten gegenseitig bewerten, so wie in bestimmten Kochsendungen. Das ist doch mal etwas anderes.“
Norbert dachte kurz nach. Dann sagte er: „Das gefällt mir sehr gut. Diese blöden Promi-Juroren vermiesen mit ihren Kommentaren die Stimmung und schüchtern die Teilnehmer ein. Genau so machen wir das! Ich danke Ihnen beiden für die konstruktive Arbeit. Das war es für heute.“
Wie üblich startete der Sender eine große Werbekampagne und schaltete Anzeigen in allen großen Tageszeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch Plakatwände und Litfaßsäulen warben für die neue Sendung. Das fand großes Interesse und ließ auch die Presse aufhorchen. Viele Senioren riefen beim Sender an und erkundigten sich danach, was genau geplant war. Man verhielt sich bedeckt bei TELE 12 und gab nur vage Auskünfte.
„Super. Das ist genau das, was wir wollten“, stellte Norbert bei der nächsten Besprechung fest und ergänzte: „Die Leute sind neugierig und heiß auf die Sendung. Ich bin nur gespannt, wie unsere Kandidaten auf die Konzeptänderung reagieren.“ Diese waren ziemlich überrascht davon. Einige waren skeptisch, andere begeistert. „Ich bin doch kein Experte“, meinte eine Dame, während ein Mann sagte: „Das ist eine tolle Sache. Und es ist viel gerechter!“
Die ersten Pilotsendungen verliefen vielversprechend. Auch die Kandidaten, die anfangs murrten, fügten sich dem neuartigen Bewertungssystem. Es gab keinen Streit und Zank. Der Moderator der Sendung Bernd Sonnenberg, der selbst ein bekannter Schlagerstar ist, fand sich mit dem Format auch gut zurecht. Insgeheim war er froh, keine Jury mit unliebsamen Kollegen vorzufinden.
Dann war es soweit: Die erste Live-Show stand an, zur Prime-Time um 20.15 Uhr. Auf den anderen Sendern liefen nur langweilige, alte Filme oder Dokus, die schon tausendmal gezeigt wurden. Deswegen erhoffte man sich bei TELE 12 eine bombige Einschaltquote. Im Studio herrschte gespannte Unruhe. Bernd Sonnenberg war hingegen relativ abgeklärt. Er war es gewohnt, vor einer großen Kulisse aufzutreten, und hatte nunmehr zahlreiche Shows bei seinem Sender moderiert. Die Zuschauer zu Hause konnten in das Geschehen eingreifen, indem sie per Televoting Beiträge stoppen konnten, wenn sie zu schlecht waren. Dazu wurde der Flippometer eingesetzt, der aus der Sendung Flip Flop bekannt war, von der vor einem Jahr die letzte Ausgabe ausgestrahlt worden war.
Als Erstes trat eine 80-jährige Dame namens Agnes aus Wipperfürth auf, die voller Inbrunst „Ave Maria“ sang. Alle waren begeistert. Sie bekam 39 von 40 möglichen Punkten, also dreimal die Höchstpunktzahl zehn von drei anderen Bewerbern. Ein weiterer Kandidat gab neun Punkte. Die Teilnehmer konnten jedoch zunächst nicht erfahren, wer jeweils wie viel Punkte gegeben hatte, damit sollten Beeinflussungen und Manipulationen unterbunden werden. Bei dieser grandiosen Leistung blieb der Flippometer natürlich auf Flip stehen.
Der zweite Sänger war der 75-jährige Felix aus Gehrden bei Hannover. Er sang „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens. Allerdings war er sehr nervös und traf des Öfteren nicht den richtigen Ton. Daher schlug der Flippometer schon bald auf Flop aus. Felix schaffte es gerade noch, sein Lied zu Ende zu bringen. Dann folgte die Wertung seiner Konkurrenten. Diese fiel entsprechend schlecht aus. Er bekam nur 22 Punkte.
Bewerber Nummer drei war eine 60-jährige Dame namens Martina aus Karlsruhe, die jüngste Teilnehmerin in dieser Ausgabe. Sie kokettierte bei ihrer Vorstellung mit ihrem Alter. Der Moderator witzelte darüber und kam nicht umhin, zu bemerken, dass er fast ihr Vater sein könne. Das war aus mehreren Gründen komisch. Zum Einen war er selbst knapp älter als Martina und zum Zweiten zeigte er zeitlebens wenig Interesse an Frauen, was das Körperliche betraf. Das wusste mittlerweile jeder, so dass sein Spruch für große Erheiterung beim Saalpublikum brachte. Martinas Vortrag von „My Way“ von Frank Sinatra war eher durchschnittlich, sie erhielt 31 Punkte.
Kandidat Nummer vier war der 69-jährige Fiete aus Husum, der ein Lied aus seiner ostfriesischen Heimat zu Gehör brachte. Es war „Mein Ostfriesland, meine Heimat“, und nicht etwa „An der Nordseeküste“, wie manch einer, nachdem Fiete vorgestellt wurde, erwartet hatte. „Das Lied von Klaus und Klaus hat mit Ostfriesland oder dem Norden zu tun“, hatte Fiete zuvor erklärt und ergänzt: „Das ist eigentlich ein irisches Volkslied, das man mit diesem blödsinnigen Text verunstaltet hat!“ Diese Aussage sorgte für Unruhe im Publikum. Einige fanden das gut und applaudierten, anderen missfielen diese Worte. Insofern war es gut für den Ostfriesen, dass diese Leute nicht stimmberechtigt waren. Seinen Mitbewerbern gefiel der Auftritt und honorierten das mit 35 Punkten.
Als Letztes trat die 72-jährige Elsbeth aus Dresden auf. Sie hatte sich einen alten deutschen Schlager von Bill Ramsey ausgesucht, und zwar „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“ aus dem Jahre 1962. Leider waren die Sangeskünste der Dame eher bescheiden, weswegen nur bescheidene 25 Punkte heraussprangen.
Danach folgte eine Werbepause. Als diese beendet war, trat der Moderator auf die Bühne. Bernd hatte einen Zettel mit den Ergebnissen in der Hand. Dann verkündete er das, was darauf stand. Dabei wurde der Letztplatzierte zuerst genannt, also Felix. Dieser war trotz seines Namens gar nicht glücklich, sondern sehr enttäuscht über das Resultat.
Elsbeth und Martina nahmen das lockerer hin, wobei Martina bemerkte: „Dabei sein ist alles!“ Elsbeth stimmte nickend zu. „Jetzt wollen wir aber wissen, wer gewonnen hat! Fiete oder Agnes? Bleiben Sie dran, meine Damen und Herren, es geht gleich weiter!“
Nach den unvermeidlichen Verbraucherinformationen kam die Verkündigung des Gewinners. Fiete und Agnes traten nach vorne. Lauthals rief der Moderator: „Und der Sieger des heutigen Wettbewerbs ist Agnes! Ich gratuliere!“ Die Dame war überglücklich und jubelte wie ein junges Mädchen. Danach sang sie noch einmal „Ave Maria“. Das Publikum raste.
Zwei Tage später betrachtete Norbert die Einschaltquoten und war hochzufrieden. TELE 12 lag auf dem zweiten Platz bei der Primetime, gleich hinter einem Konkurrenzsender, der einen alten, aber beliebten Film zeigte. „Das hätte kaum besser ausfallen können“, stellte Norbert erfreut fest. Ein paar Stunden später wuchs seine Freude immens. Zahlreiche Hersteller von seniorengerechten Produkten meldeten sich bei dem Sender. Alle wollten Werbezeit bei TELE 12 kaufen. „Die werben sonst nur bei einem öffentlich-rechtlichen Sender zur Vorabendzeit“, stellte Norbert fest und lachte.
So geschah es, dass Wir lassen die Senioren ran ein riesiger Erfolg wurde und wöchentlich jeden Samstag zur Prime-Time ausgestrahlt wurde.
Bildmaterialien: www.rp-online.de
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2022
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