Eine neue Aufgabe stand für meine beiden Kollegen, die Irin Sarah O'Brian, Expertin auf dem Bereich der Geschichte und Vladimir Kaspersky, der russische Chefprogrammierer und mich bereit. Was würde es diesmal sein? Wir waren gespannt.
„Ich glaube, heute wird es eine kurze Reise für unsere Zeitmaschine“, mutmaßte Sarah. Vladimir fragte nach: „Wie meinst du das, Sarah? Zeitlich oder örtlich?“ Sarah antwortete: „Ich meinte das zeitlich. Vielleicht geht es ins 19. oder 20. Jahrhundert. Wir werden sehen.“
Der Computer piepste. Er hatte ein Ziel auserkoren. Da ich am nächsten daran stand, war es meine Aufgabe, das Ergebnis zu verkünden. Ich las vor: „Martin Luther…“ Weiter kam ich nicht, da sich meine beiden Kollegen empörten. Vladimir rief: „Dieser verfluchte Antisemit!“ Sarah ergänzte ebenso lautstark: „Kirchenspalter!“
Ich hob die Hände und sprach: „Beruhigt Euch, liebe Kollegen. Es geht um Martin Luther King!“ Sarah und Vladimir waren sichtlich erleichtert. Die Irin erklärte: „Das ist etwas ganz Anderes. Dann auf nach Memphis ins Jahr 1968!“ Vladimir widersprach: „Wir sollten mit der Beobachtung seiner Jugend beginnen, also in Atlanta.“ Wir diskutierten und waren uns dann einig, Vladimirs Vorschlag zu folgen.
Die Zeitmaschine machte sich auf ihren Weg und wir berieten, was wir uns genau wir uns im Leben von Martin Luther King ansehen wollten. „Damals war die Rassentrennung in den Südstaaten Amerikas gang und gebe“, berichtete Sarah. Sie fuhr fort: „Schulen, Kirchen, Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel und selbst Toiletten waren getrennt für Schwarze und Weiße. Das ist heutzutage unvorstellbar, war aber seinerzeit normal. Martin Luther King empfand das schon als Kind als große Ungerechtigkeit und wurde dabei von seinem Vater unterstützt. Mit vierzehn Jahren nahm er an einem Redner-Wettbewerb in Dublin teil, den er gewann. Dublin in Georgia, nicht in Irland, wohl gemerkt. Das sollte unser erstes Ziel sein.“
Folglich lenkte Vladimir die Flugmaschine dahin. Es war nur eine Kleinstadt, ziemlich unbedeutend. Dann erfolgte die Transmission zum 17. April 1944, dem Tag der Rede. „Wo genau hielt er sie?“, wollte ich wissen. Sarah antwortete prompt: „Das war in der First African Baptist Church.“ Ich war immer wieder verblüfft, was meine Kollegin alles wusste, ohne nachschauen zu müssen.
Wir schauten auf die Kirche. Da unsere Flugmaschine seit geraumer Zeit durch Wände blicken konnten und wir auch etwas hören konnten, war es uns möglich, die Rede von Martin Luther King aufzuzeichnen. „Es gibt bislang keinerlei Aufnahmen davon. Das wird sich gleich ändern“, erklärte Sarah nicht ohne Stolz. Vladimir nickte. Er blickte gespannt auf den 4D-Projektor. Dort sahen und hörten wir, wie King eine wirklich sehr beeindruckende Rede hielt und den Wettbewerb überlegen gewann.
„Das war großartig“, stellte Sarah fest. Sie beratschlagte sich mit Vladimir, welches Ziel wir als Nächstes ansteuern wollten. „1965 hat er einen Protestmarsch von der kleinen Stadt Selma organisiert. Dort hatte ein Sheriff die schwarze Bevölkerung terrorisiert. Das sollten wir uns unbedingt ansehen“, schlug Sarah vor. Vladimir nickte zustimmend und entgegnete: „Sehr gut. Aber eins nach dem anderen. Wir sollten aber zunächst zum 31. Januar 1956 springen, als das Pfarrhaus, in dem King mit seiner Familie lebte, durch einen Bombenanschlag teilweise zerstört wurde. Das war kurz nach dem Vorfall mit Rosa Parks in Montgomery.“
Ich hakte nach: „Wurde jemand bei dem Anschlag verletzt? Und wer war Rosa Parks?“ Meine beiden Kollegen schauten pikiert. Offenbar hatte ich mich mal wieder blamiert. „Nun, Sebastian. Dass es bei dem Anschlag keine Verletzten gab, muss man nicht wissen. Aber Rosa Parks sollte man schon kennen. Sie war ebenfalls eine schwarze Bürgerrechtlerin. Berühmt wurde sie, als sich im Dezember 1955 weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Sie wurde festgenommen und es kam zu einem landesweiten Boykott aller Busse. King wurde zum Koordinator des Boykotts ernannt.“
Jetzt erblickten wir das Pfarrhaus der Familie. Es war nicht sehr groß und eher schäbig. Es war früher Morgen. Alles schlief und niemand ahnte etwas Böses. Da sahen wir einen weißen Mann, der sich dem Haus näherte. Er trug ein kleines Paket unter dem Arm und legte dieses vor dem Pfarrhaus ab. Danach verschwand er eiligst. Die Ruhe wurde durch das Weinen eines Babys unterbrochen. „Das ist Yolanta Denise, seine erstgeborene Tochter“, erklärte Sarah und fuhr fort: „Sie hat sich ebenfalls als Bürgerrechtlerin engagiert, stark beeinflusst von ihrem Vater. Alt ist sie nicht geworden, sie starb bereits 2007 im Alter von 51 Jahren. Übrigens hat sie die vorhin erwähnte Rosa Parks in einer Fernsehserie gespielt. So verbindet sich alles. Aber lass uns wieder auf das Pfarrhaus schauen!“
Dort tat sich zunächst nichts. Gegen acht Uhr morgens gab es einen großen Knall. Die Bombe in dem Paket war explodiert und zerstörte die Veranda des Hauses. Wenige Minuten zuvor hatte sich Coretta Scot, die Ehefrau von Martin Luther King, dort aufgehalten. Bekanntlich durften wir ja nicht in die Geschichte eingreifen. Da jedoch bekannt war, dass es bei dem Anschlag keine Verletzten gab, war das auch nicht nötig.
Das nächste Ziel unserer Zeitmaschine war der April 1963. Seinerzeit gab es friedliche Sitzstreiks der schwarzen Bevölkerung vor den sogenannten Lunch Counters, das waren Imbissecken in Kaufhäusern, die den Weißen vorbehalten waren. Diese Proteste wurden abends in verschiedenen Kirchen fortgesetzt. Am 12. April gab es eine große Demonstration in Birmingham in Alabama. „Das müssen wir uns unbedingt ansehen“, hatte Sarah entschieden.
Folglich steuerten wir die Flugmaschine dorthin. Wir sahen einen Protestmarsch mit hunderten von Teilnehmern, fast alle waren schwarz. Im Spalier standen etliche Polizisten, die nur darauf warteten, dass die Lage eskalierte. Da rief jemand aus dem Kreis der Demonstranten etwas, was wir nicht verstehen konnten. Ein Polizist fühlte sich offenbar davon provoziert und lief auf denjenigen zu, der gerufen hatte. Er schlug mit seinem Knüppel auf ihn ein. Die anderen Gesetzeshüter folgten und prügelten sich mit den anderen Demonstranten. Die Lage eskalierte.
Nach etwa einer halben Stunde war die Demonstration aufgelöst, es gab etliche Verhaftungen, darunter Martin Luther King, Ralph Albernathy und Fred Shuttleworth. Sie wurden ins dortige Gefängnis verbracht. „Dort wurden sie brutal behandelt“, wusste Sarah zu berichten. Wir entschieden auf die Beobachtung im Gefängnis zu verzichten, obwohl das technisch durchaus möglich gewesen wäre.
Daher war unser nächstes Ziel die Kleinstadt Selma am 21. März 1965. Von dem dortigen Protestmarsch hatte Sarah ausführlich berichtet. Entsprechend aufgeregt war sie, als sich die Kameras unserer Zeitmaschine darauf richteten. „Es gibt Filmaufnahmen davon, da der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson angeordnet hatte, dass die Demonstranten unter dem Schutz der Nationalgarde und den Soldaten der US-Army gestellt wurden. Es war der dritte Marsch von Selma nach Montgomery, der Hauptstadt von Alabama. Erst dieser Marsch hatte Erfolg und führte dazu, dass es Wahlrechtsreformen gab.“
Wir erblickten eine große Menschenansammlung. Alle waren in gespannter Erwartung. King stieg auf ein kleines Podest und nahm ein Mikrofon in die Hand. Er appellierte an die Leute, dass sie sich friedlich verhalten sollten und dass sie sich nicht provozieren lassen sollten. „Birmingham soll sich nicht wiederholen“, sagte er. Daraufhin applaudierten die Leute. Arm in Arm marschierten sie los in Richtung Montgomery. Sie riefen und sangen: We shall overcome. Sarah war entzückt: „Das hat Präsident Lyndon B. Johnson nach diesem Protestzug in einer Rede vor dem Kongress auch gerufen. So schließt sich der Kreis!“, erklärte sie uns.
Die Leute marschierten weiter. Alle waren glücklich. Es gab keinerlei Zwischenfälle wie bei der vorangegangenen Demonstration. „Welch ein erhabener Anblick. Unglaublich, dass damals Menschen wegen ihrer Hautfarbe für Ihre Rechte kämpfen mussten“, bemerkte Vladimir. Sarah ergänzte: „Ja, und einige Jahrzehnte zuvor mussten Frauen für ihr Wahlrecht auf die Straße gehen!“ Ich fühlte mich genötigt, auch etwas beizutragen und sagte: „Ja, und erst seit zehn Jahren dürfen auch Androiden wählen und sogar Menschen heiraten.“ Meine Kollegen nahmen das eher gelangweilt zur Kenntnis und starrten weiterhin auf unseren 4D-Projektor. Ich musste zugeben, dass das spannender war. Es war für mich verblüffend und überwältigend zugleich, dass auch Weiße bei dem Marsch dabei waren. Diese waren es auch, die die amerikanischen Flaggen trugen.
Erst nach vier Nächten und fünf Tagen hatten die Leute ihr 86 km entferntes Ziel erreicht. Wir sprangen zu diesem Zeitpunkt hin, um das Konzert in Montgomery zu verfolgen, bei dem unter anderem Joan Baez, Harry Bellafonte und Nina Simone auftraten. Es war überwältigend, diese großartigen Sänger und Sängerinnen live zu erleben. Ganz besonders gut gefiel mir Joan Baez. Was für eine Stimme!
Nach diesem Konzerterlebnis steuerten wir die Flugmaschine zu ihrem letzten Ziel bei diesem Projekt, und zwar zum 04. April 1968, in Memphis. Das war Tag und der Ort an dem Martin Luther King erschossen wurde. Es war ein beklemmendes Gefühl, als wir auf das Motel blickten, wo die Tat geschehen würde, weil wir ja wussten, dass das passieren würde. Davon hatten die Leute, die wir da sahen, keine Ahnung. Bis auf den Attentäter natürlich. Es war jetzt 16 Uhr Ortszeit. Zwei Stunden später sollte James Earl Ray, ein vorbestrafter Rassist, King, auf dem Balkon des Motels erschießen. Das hätten wir verhindern können. Da wir jedoch nicht in die Geschichte eingreifen durften, verbat sich das. Andererseits hatten wir bei den früheren Projekten schon oft Veränderungen durchgeführt, manchmal absichtlich, manchmal unfreiwillig.
„Wir könnten die Pistole durch etwas anderes ersetzen, so wie wir es bei Julius Cäsar mit dem Messer gemacht haben. Lasst uns eine Mohrrübe dahin transferieren“, schlug ich vor. Meine beiden Kollegen schüttelten mit dem Kopf. Vladimir entgegnete: „Nein, das wäre albern. Wir könnten aber die scharfe Munition durch Platzpatronen ersetzen. Die Schüsse würden immer noch fallen, aber er würde überleben. Was haltet Ihr davon?“ Wir stimmten uns ab und waren mit Vladimirs Plan einverstanden. Danach prüften wir ob in unserem Lager die entsprechenden Patronen für das Kaliber, das James Earl Ray verwendet hatte, vorrätig waren. Das war zum Glück der Fall. Nun konnten wir das Geplante in die Tat umsetzen.
Als es 17:59 Uhr Ortszeit war, starrten wir gespannt auf den Bildschirm. Es waren zwei Minuten bis zu dem Attentat. Der mutmaßliche Attentäter stand im Badezimmer des dem Motel gegenüberliegenden Gästehauses. Er wirkte keineswegs angespannt, sondern zu allem entschlossen. In seiner rechten Hand hielt er eine Pistole. Er machte sich nicht einmal die Mühe diese zu verdecken. Das war gut für uns. So konnten wir ohne Probleme seine Waffe erfassen und diese zu uns transferieren. Diese erschien umgehend in unserem Teleporter, nachdem Vladimir einen entsprechenden Knopf gedrückt hatte. In Memphis fror die Szene ein.
Sarah nahm die Pistole aus dem Teleporter und bemerkte: „Unglaublich, dass sich die Leute früher damit umgebracht haben. Heutzutage ist das undenkbar, zum Glück!“. Geschickt tauschte sie die Patronen aus. Sarah hatte oftmals unentdeckte Talente. Nachdem sie das erledigt hatte, legte sie die nunmehr harmlose Waffe zurück in den Teleporter und transferierte sie zurück. James Earl Ray drückte ab. Nichts geschah. Verwundert sah er auf seine Pistole.
Martin Luther King hatte überlebt. Wir hatten die Geschichte doch verändert. Der sichtlich verärgerte Ray stürmte aus seinem Gästehaus und lief in das Motel. Er wusste genau, wo sein Opfer sein Zimmer hatte. Wir mussten hilflos mitansehen, wie er in das Zimmer mit Gewalt eindrang, den Balkon betrat und King würgte und mehrfach schlug. Dann warf er ihn über die Brüstung des Balkons. Es war nicht sehr hoch, das Zimmer war im ersten Stock. Unglücklicherweise war darunter ein Auto geparkt, auf das King aufschlug. Die FBI-Agenten, die ihn observierten, konnten nicht rechtzeitig eingreifen, weil alles blitzschnell geschah. Der Aufprall auf dem Auto endete tragisch, weil Martin Luther King sich dabei das Genick brach. So geschah es, dass er trotzdem am 04. April 1968 starb, zwar nicht durch Pistolenschüsse, sondern durch einen Sturz vom Balkon.
„Wir haben die Geschichte verändert, aber nur minimal“, resümierte Sarah. „Auf jeden Fall war es sehr lehrreich und imposant“, ergänzte Vladimir. Ich nickte nur und sagte nichts dazu. Das war wohl besser so.
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Tag der Veröffentlichung: 25.05.2022
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