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Der Angriff auf Pearl Harbor

 

 

 

Viktor Zastrowski und sein Kollege Marius Hallbaum betraten am 16. Mai 2091 mit einem mulmigen Gefühl das Zeitreise-Labor in Berlin. Ihr fünfter Auftrag stand an. Sie wussten, dass es in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts ging, also vermutlich mitten in den Zweiten Weltkrieg. „Ich hoffe doch, man schickt uns nicht nach Dresden oder Hiroshima“, unkte Zastrowski. Hallbaum antwortete: „Das werden sie schon nicht machen. Aber vielleicht zum Philadelphia-Experiment. Das war 1943.“ Zastrowski lachte und entgegnete: „Das wäre zwar recht spannend aber auch gefährlich. Außerdem habe ich keine Lust wieder im kalten Wasser zu landen wie bei unserer Reise in das Jahr 1904 beim Doggerbank-Zwischenfall.“

 

Danach gingen die beiden Zeitreisenden ins Labor, wo sie von Professor Schulze freundlich begrüßt wurden. „Na, machen Sie sich Sorgen, dass Ihr diesmaliger Auftrag gefährlich wird?“, fragte er. Zastrowski und Hallbaum nickten. „Nun, angesichts dieses Jahrzehnts lässt sich das leider nicht vermeiden, auf der ganzen Welt herrschte damals Krieg, zumindest bis 1945. Wir haben aber etwas ausgesucht, das zwar dramatisch und sehr bedeutend für die Weltgeschichte ist, aber nicht lebensgefährlich, jedenfalls nicht für Sie. Es geht nach Pearl Harbor!“

 

„Der Angriff der Japaner auf die Pazifikflotte der USA, der dazu führte, dass die Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg eintraten!“, widerfuhr es Zastrowski. Der Professor nickte und sagte: „Völlig richtig. Die Amerikaner wurden davon völlig überrascht. Sie waren davon geschockt. Aus dem Geschichtsunterricht kennen Sie das sicherlich. Für nähere Informationen werde ich ihnen jetzt einen Film zeigen.“

 

Alle gingen in den Nachbarraum, wo der Fernseher stand. „Ich zeige Ihnen jetzt ein längeren Dokumentarfilm sowie ein kurzer Ausschnitt aus einem Spielfilm aus dem Jahre 2001“, sagte der Professor. Zastrowski und Hallbaum waren davon beeindruckt und hatten nunmehr doch ein wenig Angst um ihr Leben. Das bemerkte Schulze sehr wohl. Er erklärte: „Wir haben die Vorsichtsmaßnahmen verbessert. Die Rückholknöpfe mit denen Sie in unsere Zeit zurückzukehren können, funktionieren jetzt auch bei Hitze. Ich bedaure nochmals, dass Sie beim letzten Mal damit Probleme hatten. Das hätte nicht passieren dürfen.“ Das beruhigte die beiden Zeitreisenden nur minimal. Sie bezweifelten, dass der Auftrag so sicher war, wie der Professor vorgab.

 

Er berichtete weiter: „Sie kennen das ja: Sie dürfen nur beobachten, aber nicht eingreifen. Wir werden Sie als Soldaten tarnen, die gefälschten Uniformen händige ich Ihnen gleich aus. Nähere Informationen zum Nachlesen finden Sie wie üblich neben sich auf dem Stuhl. Sie haben wieder zwei Tage zum Regenerieren und zur Vorbereitung, bis es nach Hawaii auf die Insel O’ahu geht.“

 

„Er macht sich das immer leicht, denn er setzt sich ja keiner Gefahr aus“, sagte Hallbaum zu Zastrowski, nachdem sie das Gebäude verlassen hatten. Dieser nickte und entgegnete: „Richtig. Mir fiel aber auch auf, dass er diesmal sehr wenig erzählt hat, sonst hat er immer einen halben Roman herunter gebetet.“ „Stimmt, das habe ich auch bemerkt. Keine Ahnung, warum das so ist. Na, ja, wir haben immerhin unsere Unterlagen. Dann mach es gut bis übermorgen.“

 

Zwei Tage später, am 18. Mai 2091 trafen sich Zastrowski und Hallbaum vor ihrer Zeitreise in einem Café. Das hatte Zastrowski vorgeschlagen. Beide freuten sich, dass es dort echte Speisen und Getränke gab, und keine aus dem Nahrungsgenerator. Während Zastrowski einen Schluck von seinem Milchkaffee nahm und in sein knuspriges Croissant biss, sagte sein Kollege: „Ich habe allmählich keine Lust mehr, mir immer den Arsch aufzureißen während der alte Sack in seinem Zeitreise-Labor sitzt und sich die Eier schaukelt!“ Zastrowski nickte und antwortete: „Du hast vollkommen recht. Das geht mir genau so.“

 

Immer noch leicht verärgert begaben sich die beiden in das Zeitreise-Labor. Sie ließen sich aber nichts anmerken. Der Professor begrüßte sie, an diesem Tag wirkte er wie immer. Die Uniformen der US-Marines sahen aus wie Originale, das war zu erwarten. Sie passten wie angegossen. Schulze sprach noch ein paar Worte. Danach begaben sich Zastrowski und Hallbaum zur Transporterplatte und verharrten dort. Der Professor drückte einen roten Knopf. Es surrte, augenblicklich später wurden Zastrowski und Hallbaum von einem silbrigen Sternenregen erfasst. Sekunden später tauchten sie in Pearl Harbor auf Hawaii auf. Es war der 07. Dezember 1941. Es war kurz nach Mitternacht, der Angriff der japanischen Truppen auf die Marinebasis sollte erst Stunden später erfolgen. Zastrowski und Hallbaum hatten daher genug Zeit, sich umzusehen.

 

Es war eine gespenstische Ruhe. Fast hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Aus den Unterlagen, die sie vom Professor bekommen hatten, wussten die beiden Zeitreisenden, dass ein Großteil der Besatzungen Landgang hatte. Von einem der Schiffe drang dennoch etwas Partylärm hervor. Es wurde Tanzmusik gespielt. „Wenn die wüssten, was ihnen bevorsteht“, sagte Hallbaum. Zastrowski zuckte mit den Schultern und entgegnete: „Du weißt ja, dass wir nicht eingreifen dürfen, so gerne wir das auch machen würden. Es ist nun einmal so.“ Sie gingen weiter dem Pier entlang. Ein stark angetrunkener Soldat, der zwei Hawaiikränze um den Hals trug, torkelte ihnen entgegen. Er ging bedrohlich nah am Wasser. Dann passierte es. Er fiel hinein.

 

„Scheiße, was machen wir jetzt? Wir dürfen doch nicht eingreifen!“, rief Hallbaum entsetzt. Zastrowski ignorierte das und sprang hinterher. Das Wasser war nicht kalt, es waren angenehme 25°. Doch Zastrowski war ja nicht zum Baden hierher gekommen, schon gar nicht in Uniform. Zum Glück war er kräftig gebaut, sodass es ihm ohne große Probleme gelang den Angetrunkenen an Land zu ziehen, wobei Hallbaum half, ihn hochzuziehen.

 

Der Soldat war sichtlich erleichtert. „Danke, Kameraden, Ihr habt mir wirklich das Leben gerettet“, sagte er, immer noch außer Atem. Sein Namensschild war gut erkennbar: Francis Charles Flaherty. Er war Ensign, also Fähnrich. „Ich bin auf der Oklahoma. Und Ihr?“, fragte er. Zastrowski antwortete prompt: „Wir sind auf der Maryland.“ „Oh, die liegt ja längsseits neben uns. Dann müssten wir uns schon einmal gesehen haben“, stellte Flaherty fest. Zastrowski hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen und hätte sich gewünscht, die Unterlagen des Professors besser durchgelesen zu haben.

 

Hallbaum rettete die Situation: „Wir sind erst vor Kurzem hier her versetzt worden. Vorher waren wir auf der California.“ Flaherty überlegte. Dann sagte er: „Die liegt hier auch, ich weiß aber nicht genau wo. Sie gehört zur Tennessee-Klasse. Ein sehr gutes Schiff. Ich persönlich bevorzuge die Nevada-Klasse, zu der die Oklahoma gehört. Und Ihr?“ Zastrowski entgegnete: „Mein Kamerad und ich ziehen die Colorado-Klasse vor. Daher gefällt es uns auf der Maryland so gut. Aber du solltest dich allmählich auf dein Schiff begeben und dir trockene Klamotten anziehen.“

 

Flaherty nickte und verabschiedete sich. Als er außer Sicht- und Hörweite war, sagte Hallbaum: „Ich glaube, über Flaherty stand etwas in unseren Unterlagen. Ich schaue mal nach!“ Er las nach und sagte dann: „Wusste ich es doch. Flaherty wurde posthum, also nach seinem Ableben, mit der Medal of Honor ausgezeichnet, das ist die höchste Tapferkeitsauszeichnung der US-Streitkräfte. Es war also wirklich richtig und wichtig, dass wir ihn gerettet haben!“ Zastrowski dachte nach und entgegnete dann: „Wenn wir ihn nicht gerettet hätten, wäre er ertrunken und hätte seine Heldentaten nicht vollbringen können. Aber wieso hat er das ohne unser Zutun dann doch tun können? Das ist doch ein Paradoxon.“ Hallbaum antwortete: „Das stimmt. Ich habe jetzt keine Lust, darüber nachzudenken. Der Professor wird uns das sicherlich erklären können.“

 

Sie gingen wieder zurück und sahen sich weiter um. Auf dem Schiff auf dem vorhin noch Tanzmusik gespielt wurde, war Ruhe eingekehrt. Offenbar war die Party beendet. „Jetzt schlafen sie und ahnen nichts Böses. In ein paar Stunden ist hier die Hölle los“, sinnierte Hallbaum. Das hörte ein hochrangiger Offizier. Er stand unbemerkt von ihnen einige Meter entfernt. Der Admiral hatte die Worte verstanden, obwohl Hallbaum und Zastrowski Deutsch miteinander gesprochen hatte, denn er hatte deutsche Vorfahren.

 

Der Mann kam auf sie zu. „Darf ich fragen, was Sie hier machen? Warum sind Sie nicht auf Ihren Schiffen?“, fragte er und an Zastrowski gewandt ergänzte er: „Und warum sind Sie so nass?“ Dieser war verdattert und sagte dann: „Nun, Sir, das Wasser sah so einladend aus, und da dachte ich, dass ich ein Bad nehmen könnte.“ „In Ihrer Uniform und mitten in der Nacht. Finden Sie das nicht auch etwas seltsam?“

 

Das konnte Zastrowski nicht leugnen. Er betrachtete das Namensschild des Mannes. Samuel Glenn Fuqua las er. Zu gerne hätte Zastrowski jetzt in seinen Unterlagen nachgeschaut, aber das ging nicht. Dann kam die Frage, die er befürchtet hatte: „Auf welchem Schiff sind sie stationiert?“ Spontan und ohne weiteres Nachdenken antwortete Zastrowski: „Auf der Arizona.“ Diesmal wollte er keinen Fehler machen und nannte deswegen ein anderes Schiff. Fuqua lachte jedoch höhnisch und sagte: „Ach ja? Und warum kenne ich Sie dann nicht, wenn Sie auf meinem Schiff sind? Und warum sprechen Sie Deutsch miteinander? Ich habe nämlich verstanden, was Sie gesagt haben!“

 

Zastrowski schluckte. Das war definitiv die falsche Antwort. „Meine Herren, Sie sind hiermit verhaftet. Leisten Sie keinen Widerstand und kommen Sie mit“, sagte der Offizier. Widerwillig fügten sich die beiden Zeitreisenden und folgten Samuel Glenn Fuqua. Die Arizona lag nicht weit davon vor Anker. Mit vorgehaltener Waffe wurden Hallbaum und Zastrowski gezwungen, an Bord zu gehen, und dort in eine Arrestzelle verbracht.

 

„Das kommt mir bekannt vor“, bemerkte Zastrowski. Er spielte auf ihren ersten Auftrag an, als sie an Bord der Kamtschatka im Jahre 1904 ebenfalls in Arrest genommen wurden. Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass Zastrowki diesbezüglich ein Déjà-vu hatte. „Tja, zu blöd, dass wir immer wieder in solche Situationen geraten. Dem Professor wird das nicht gefallen“, antwortete Hallbaum. „Sicherlich nicht. Wir sitzen hier jetzt erst einmal fest, aber die automatische Rückholung wird uns retten“, entgegnete Zastrowki.

 

In diesem Moment schloss jemand die Tür der Arrestzelle. Samuel Glenn Fuqua trat ein in Begleitung von zwei weiteren Soldaten. „Meine Herren, wir haben ihre Papiere überprüft. Sie sind zweifelsohne echt. Ich frage mich nur, warum amerikanische Soldaten sich auf Deutsch unterhalten und solche seltsamen Gespräche führen. Irgendetwas ist da faul mit Ihnen, meine Herren. Ich weiß nur nicht was, aber das werde ich herausfinden“, berichtete Samuel Glenn Fuqua. Er schaute grimmig und ergänzte: „Glauben Sie bloß nicht, dass sich das für Sie erledigt hat!“

 

Immer noch erregt verließ er den Raum und knallte die Tür zu. Zastrowki und Hallbaum sahen sich an. „Da haben unsere Jungens ganze Arbeit geleistet, was die Ausweise betrifft“, stellte Hallbaum fest. Zastrowki ergänzte: „Allerdings. Außerdem ist es toll, dass sie unsere Rückholgeräte so verkleinert haben, dass sie nicht entdeckt worden sind. Seit unserer Begegnung mit Hitler bin ich da vorsichtig geworden. Das hätte eine Katastrophe geben können.“

 

Zwei Stunden vergingen. Nun war es noch wenig Zeit, bis um 7.55 Uhr die Bombardierung von Ford Island beginnen sollte. „Ich schlage vor, wir machen uns rechtzeitig vom Acker“, schlug Hallbaum vor. Zastrowki stimmte zu, gab aber zu bedenken: „Wir sollten aber so lange bleiben, bis der Angriff losgeht. Danach können wir aufbrechen.“

 

Kurz danach klopfte es. Zwei niederrangige Offiziere betraten die Zelle. Einer von ihnen verkündete mit barscher Stimme: „Man möchte Sie nochmals sprechen!“ Beunruhigt folgten die beiden Zeitreisenden den Soldaten ins Büro. Fuqua saß zigarrerauchend an seinem Schreibtisch und hatte offensichtlich noch schlechtere Laune als zuvor. Er verkündete: „Meine Herren, ich habe mich mit meinem Vorgesetzten Husband Edward Kimmel abgesprochen. Er ist der hiesige Oberbefehlshaber der Pazifikflotte. Er hat entschieden, dass wir Sie noch heute mit einem U-Boot von hier wegbringen werden. Das Ziel verrate ich Ihnen noch nicht. Sie werden jetzt in ihre Zelle zurück gebracht.“ Zastrowki und Hallbaum reagierten umgehend, als sie wieder unter sich waren. Sie drückten ihre Rückholknöpfe und lösten sich auf und erschienen wieder im Transporterraum des Zeitreiselabors.

 

Der Professor war über ihren Bericht zwar zufrieden, aber er war auch enttäuscht darüber, dass sie so wenig beobachten konnten. „Sicherheit geht aber vor, meine Herren“, sagte er und ergänzte: „Sie haben vollkommen richtig gehandelt.“ Er ging zu seinem Computer, um die Zeitlinie und etwaige Abweichungen zu überprüfen. Danach sprach er: „Das hat doch einige Auswirkungen auf die Geschichte gehabt. Francis Charles Flaherty wäre ohne Ihre Hilfe ertrunken, Herr Zastrowki. Er war zwar ein guter Schwimmer, aber stark betrunken. Es kann zwar sein, dass er andernfalls von jemand anderem gerettet worden wäre, aber das wissen wir nicht. Jedenfalls rettete er seinerseits einige seiner Kameraden, gleich nachdem der Angriff auf sein Schiff begonnen hatte. Die Oklahoma wurde von drei Torpedos an der Backbordseite getroffen. Flaherty war ein tapferer Mann und erhielt nach seinem Tod die höchste Tapferkeitsauszeichnung der US-Streitkräfte.“

 

Hallbaum nickte. Das wusste er. Aber ihn interessierte etwas anderes: „Was ist aus Fuqua geworden? Hat er Ärger bekommen wegen unseres Verschwindens?“ Professor Schulze nickte und erzählte: „Ihr geheimnisvolles Verschwinden wurde ihm angekreidet. Er konnte sich nicht dafür rechtfertigen. Es hat ihm auch nichts genutzt, dass er sich so vorbildlich bei dem Angriff auf sein Schiff verhalten hat. Samuel Glenn Fuqua hat die Tapferkeitsauszeichnung nicht erhalten und wurde gleich nach dem Angriff, den er schwer verletzt überlebte, in den Innendienst versetzt. Das wurmte ihn sehr. Er hatte ursprünglich noch auf diversen anderen Schiffen gedient und wurde später Rear Admiral. Das alles ist nunmehr nicht geschehen. Bedauerlich für den Mann, aber das lässt sich nicht mehr ändern. Ach ja, die Abweichung zur Zeitlinie beträgt 0,08% zur ursprünglichen Geschichte, das ist o.K. Haben Sie noch weitere Fragen?“

 

Zastrowki und Hallbaum schüttelten mit dem Kopf. Sie waren froh, diesen Auftrag relativ unbeschadet erledigt zu haben. Der nächste würde schon bald folgen.

 

 

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Bildmaterialien: www.wikipedia.org
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2022

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