Hartmut wollte noch einmal im Nachlass seiner Tante Agathe stöbern, auf Rat von seinem Freund Berti. In der Kommode der Tante, in der viele alte Bücher waren, hatten sie schon die amerikanische Originalausgabe von „The Little Prince“ entdeckt, die viel Wert war. Vielleicht war ja doch noch ein weiterer Schatz dabei.
Berti war diesbezüglich ein guter Helfer, da er als Stammzuschauer von „Bares für Rares“ viel Ahnung über den Wert der alten Schwarten hatte. Sie waren schon zwanzig Minuten damit beschäftigt, als Berti begeistert ausrief: „Boah, das ist doch etwas!“. Er hielt ein altes, vergilbtes Buch mit einem braunen Einband hoch. Eine Ananas, verschiedene Braten und Weinflaschen zierten das Buch. Über den Zeichnungen stand: Praktisches Kochbuch von Davidis-Holle.
„Ach, das olle Kochbuch meiner Tante. Das ist nichts Wert. Werfen wir es weg!“, sagte Hartmut verächtlich. „Nicht so schnell, mein Freund“, entgegnete Berti und ergänzte: „Ich google mal eben danach!“ Schon wenig später war er fündig geworden. „Das ist ein richtiger Schatz, mein Freund. Es wird bei Ebay für 150 Euro gehandelt, wobei die dort angebotenen Bücher weit schlechter erhalten sind als deines. Dein Buch ist in einem tadellosen Zustand. Es fehlt keine Seite, hat keine Fettflecken und ist nur vergilbt.“
Hartmut grübelte nach. Er entschied sich dafür, das Kochbuch zu behalten. Geld hatte er genug, seitdem er das Kinderbuch, das Fabergé-Ei sowie die Notenblätter und die alten Schallplatten der Beatles verkauft hatte. Da kam es auf die 150 Euro nicht mehr an. Darüber hinaus war das Kochbuch wirklich schön. Da standen tolle Rezepte drin und es gab sogar Farbfotos, die aber wahrscheinlich kolorierte Schwarz-Weiß-Bilder waren.
Er hatte für seine Freundin Beate noch nie gekocht. Es wäre eine tolle Überraschung für sie, wenn er das tun würde. Auf Seite 114 fand er ein Rezept für Kartoffelpatzen. Das Wort hatte Hartmut noch nie zuvor gehört, aber es klang köstlich. Die Autorin schreib, dass dieses als Beilage zu Schmor- und Hammelbraten empfehlenswert sei. Hammel wollte Hartmut nicht zubereiten, aber Schmorbraten schon. Aber eins nach dem anderen. Erst einmal waren die Kartoffelpatzen dran.
Er machte sich gleich an die Arbeit. Die Gelegenheit war günstig, weil seine Freundin gerade für zwei Tage ihre Mutter besuchte. Laut dem Kochbuch sollte man die mehligen Kartoffeln am Tage vor dem Gebrauch in der Schale kochen. Eine alte Glasschale hatte Hartmut auch von seiner Tante geerbt. Er nahm diese und stellte sie mit den Kartoffeln, aber ohne Wasser auf den Herd. Er verließ die Küche, um fernzusehen. Im zweiten Programm lief „Bares für Rares“. Hartmut sah interessiert zu, als er von einem lauten Knall aufgeschreckt wurde. Das Geräusch kam aus der Küche.
Die Glasschale war in tausend Stücke gesprungen, und es roch fürchterlich. Die Kartoffeln hatten sich zum Teil in Bratkartoffeln verwandelt. So wie Hartmut diese kannte, rochen sie aber nicht. Irgendetwas habe ich falsch gedacht, dachte er. Hartmut rief umgehend Berti an, um das Problem zu lösen. Dieser brach in großes Gelächter aus, als sein Freund ihm alles erzählte.
„Du musst die Kartoffeln in einem Topf mit Wasser kochen, du Heimchen“, erklärte Berti und fuhr fort: „Mit in der Schale kochen ist gemeint, dass man sie nicht schälen soll. Es sind also zunächst Pellkartoffeln.“ Das machte Sinn, denn im Rezept stand, dass sie nach dem Kochen schälen soll und am folgenden Tag auf dem Reibeisen reiben sollte.
Am nächsten Morgen stellte Hartmut das Reibeisen auf und setzte sich drauf. Es war schon etwas unbequem. Aber so sehr sich Hartmut auch bemühte, es klappte nicht. Er rieb die Kartoffeln aneinander, jedoch verwandelten sie sich nicht in eine geriebene Kartoffelmasse. Deswegen rief Hartmut erneut Berti an. Dieser lag noch im Bett, da seine Kneipe an diesem Tag zu war. Er war hilfsbereit und versprach, schnellstmöglich vorbeizukommen. Als gelernter Gastronom mit Kocherfahrung würde er Hartmut problemlos helfen können.
„Was machst du nur für Sachen, mein Freund“, sagte er, als er Hartmuts Kochversuche sah. Berti fuhr fort: „Das ist ein altes Kochbuch. Da ist manches anders beschrieben als heute. Nimm zum Beispiel das Rezept auf Seite 163 für gerolltes Kalbfleisch. Da steht: 500 g Kalbfleisch wird mit 100 g Rindermark feingewiegt, mit Salz, Pfeffer, Muskatblüte und einigen Eiern vermischt. Jetzt fragst du dich sicherlich, was feingewiegt heißt und wie viel einige Eier sind. Nun, das kann ich dir erklären. Feingewiegt bedeutet so viel wie ganz fein zerkleinert, am besten mit einem Wiegemesser. Vermutlich hast du so etwas nicht.“
Hartmut schüttelte den Kopf und fragte: „Aber das habe ich jetzt verstanden. Was ist nun mit den Eiern? Wie viele sind einige Eier?“ Berti grinste und antwortete dann: „Das muss man abschätzen. Noch eine Frage, Hartmut. Wenn vier Eier vier Minuten zum Kochen brauchen. Wie lange brauchen dann sechs Eier?“ Hartmuts Antwort kam schnell: „Sechs Minuten würde ich sagen!“ Berti konnte ein Lachen gerade noch unterdrücken und sagte dann: „Ein Meisterkoch wirst du nie, Hartmut. Aber lass uns mit deinem Rezept für die Kartoffelpatzen weitermachen!“
Berti schlug das Kochbuch wieder auf . Er las vor: „Ein gehäufter Teller von der geriebenen Kartoffelmasse wird mit einem halben voll feinen weißen Semmelkrumen, vier ganzen Eiern, 100 g zerlassener Butter, etwas Sahne, Salz und wenig geriebener Muskatnuss zu einem nicht zu festen Teig verrührt.“ Hartmut sagte: „Die Zutaten habe ich alle da. Das mit dem halben Teller erledige ich gleich.“ Er nahm einen Teller aus seinem Küchenschrank und brach ihn in der Mitte durch.
Berti war sprachlos. Es war wirklich unglaublich, was Hartmut immer alles falsch verstand. Berti fragte sich, wie sein Freund im Leben zurechtkam. Daher fragte er nach: „Hartmut, was meinst do wohl, wie viel Muskatnuss wir verwenden müssen?“ Hartmut kratzte sich am Kopf und überlegte. Dann kam seine Antwort: „Ich würde sagen, so zwei bis drei Stück.“ Berti schrie auf: „Bis du wahnsinnig? Weißt du, dass eine ganze Muskatnuss reichen würde, um einen erwachsenen Menschen zu töten? Allerdings gibt es in dieser Konzentration einen unangenehmen Geschmack, so dass das niemand essen würde.“ Das hatte Hartmut tatsächlich nicht gewusst. Er war schon etwas schockiert.
„Schön, dass wir das geklärt haben. Lass uns fortfahren. Wir bereiten zunächst deine Kartoffelpatzen zu und widmen uns dann dem Hauptgericht“, schlug Berti vor. Er blätterte in dem alten Kochbuch und entdeckte auf Seite 164 ein interessantes Rezept für eine ganze Leber, die im Netz gebraten werden sollte. Die sollte gut zu den Kartoffelpatzen passen. Etwas darüber stand ein Rezept für gebackene Kalbsfüße. Berti ging davon aus, dass die Kalbsfüße Hartmuts Freundin Beate weniger munden würde, und dass Hartmut keine Kalbsfüße vorrätig hätte, Leber aber schon.
So war es auch. Die Leber, die Hartmut hervorholte, war tiefgefroren. Das sollte keine Rolle spielen, obwohl in dem Rezept von einer frischen die Rede war. Es wurde erwähnt, dass diese nach einem heißen Tage der Gesundheit nachteilig sein könnte. Nun war damals noch nicht bekannt, dass es einst Tiefkühlschränke geben würde, die dieses verhindern. Das Häuten und Waschen der Leber entfiel auch.
In dem Rezept war von einem gereinigten Kalbsnetze die Rede. Als Berti Hartmut fragte, ob er so etwas hätte, verneinte er dieses erwartungsgemäß und dieser wollte wissen: „Ich wusste nicht, dass Kälber gefangen werden müssen, Berti. Geht das wie mit Schmetterlingen oder wie mit Fischen?“ Dazu sagte Berti lieber nichts. Stattdessen bereitete er mit Hartmut das Essen zu. Ohne seine eigenen Gastronomiekenntnisse wäre das nicht so leicht gewesen, da die Angaben in dem Kochbuch für einen Laien doch recht vage waren.
So gelang es den beiden, das Hauptgericht zuzubereiten. Es sollte aber noch Nachtisch geben. Dazu wurde Seite 305 aufgeschlagen. Onkel Toms Pudding, der dort als billig und gut beschrieben wurde, wurde von Hartmut abgelehnt, da darin Rindsnierenfett verarbeitet werden musste. Stattdessen gab es Schokoladenpudding, der laut Frau Davidis-Holle für 10 bis 12 Personen reichen sollte. So viele Leute wollte Hartmut dann doch nicht einladen.
Das Essen gelang dank Bertis Hilfe exzellent. Beate war begeistert. Ihr wurde verschwiegen, wer die Hauptarbeit geleistet hatte.
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2021
Alle Rechte vorbehalten