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Die große Herausforderung

 

 

Drei Jahren sind vergangen, seitdem wir von Gliese 581 c zurückgekehrt sind. Seitdem ist viel passiert. Viele Kinder wurden geboren, auch Sarah, meine Frau, hatte zwei Jungens bekommen. Wir hatten sie Helmut und Ronald genannt, nach unseren beiden Vätern, die schon vor Hunderte von Jahren verstorben waren.

 

Auch Giovanni wurde Vater. Er hatte mit Jaqueline, eine hübsche Französin, eine liebenswerte Gefährtin gefunden. Die gemeinsame Tochter nannten sie Lisa. Damit spielten die beiden auf das berühmte Gemälde Mona Lisa von Leonardo da Vinci an. „In Italien gemalt, in Frankreich ausgestellt“, erklärte Giovanni uns lachend.

 

Insgesamt gab es bislang beachtliche 42 Geburten. Knapp zwei Dutzend Frauen sind derzeit schwanger. Die Frage, warum auf Gliese keine Frau geschwängert werden konnte, wurde noch nicht geklärt und wird es wohl auch nicht mehr. Letztendlich war das auch nicht mehr wichtig.

 

Unser Lager hatten wir mittlerweile sehr schön ausgebaut. Wir bauten Obst und Gemüse an und hielten einige Hühner, denn auf Eier wollten wir nicht verzichten. Außerdem zähmten wir ein paar wilde Schafe und Ziegen, um deren Milch trinken zu können. Es war uns sogar gelungen, Käse daraus herzustellen. Immer noch verzichteten wir auf Fleisch, so wie uns die Gliesianer uns das gelehrt hatten. Veganer wollten wir aber nicht werden.

 

Dann geschah es. Als ich die Hühner füttern wollte, bemerkte ich, das zwei verschwunden waren. Wir mutmaßten, dass sie weggeflogen waren und bald zurückkehren würden. Doch auch drei Tagen später waren sie immer noch nicht da. „Wir sollten davon ausgehen, dass sie ein Fuchs geholt hat. Das ist zwar ärgerlich, aber nicht zu ändern“, sagte Sarah. Ich nickte und erwiderte: „Völlig richtig. Das kommt nun einmal vor. Zum Glück gibt es hier keine Bären oder Wölfe.“

 

Drei Tage später geschah etwas, was wesentlich dramatischer war. Eine Ziege verschwand, die noch dazu trächtig war. „Das war diesmal garantiert kein Fuchs! Schaut, was ich neben dem Stall gefunden habe“, stellte Giovanni fest und zeigte seinen Fund. Es war ein blutiger Pfeil. Wir waren entsetzt! Kein Tier konnte einen Pfeil abschießen. Daraus konnte man nur einen Schluss ziehen: Es musste doch noch andere Menschen außer uns geben. Bislang waren wir davon ausgegangen, dass diese alle gestorben waren.

 

Wir informierten umgehend die anderen Siedlungen von diesem sensationellen Vorkommnis. Etwas Ähnliches hatte niemand von denen gemeldet. Mir fiel ein, was ich vor drei Jahren gesagt hatte: „Von jetzt an werden wir auf der Erde auch mit den Tieren in Frieden leben!“ Wenn es tatsächlich hier noch andere Menschen gab, galt diese Regel offenbar nicht für diese.

 

Es wurde beschlossen, Nachtwachen aufzustellen, um zu klären, wer uns unsere Tiere stahl und diese tötete. Vier Nächte lang geschah nichts. Dann war es soweit: Ich beobachtete, wie eine wilde Horde sich unserem Lager näherte. Sie waren fast nackt, ungepflegt und zumeist sehr jung. Als sie Pfeil und Bogen anlegten und auf eine weitere Ziege zielten, machte ich ein lautes Geräusch. Sie erschraken und flohen.

 

„Jetzt haben wir Gewissheit“, schloss ich meinen Bericht auf der Versammlung aller Bewohner unserer Siedlung ab. Die anderen waren sichtlich schockiert. Das hatte niemand erwartet. Schließlich hatten uns die Gliesianer versichert, dass alle Menschen auf der Erde seit langem ausgestorben sind.

 

„Vielleicht sollten wir versuchen, Kontakt zu den Wilden aufzunehmen“, schlug Giovanni vor. Sein Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Es war zwar eine große Herausforderung und risikoreich, aber andererseits waren wir auch neugierig. Wie hatten die Wilden es geschafft zu überleben und wie konnten sie sich vor den Scans der Gliesianer verbergen, die die Erde gründlich nach intelligenten Lebewesen abgesucht hatten?

 

Mit vier anderen Siedlern machte ich auf den Weg in den Wald, denn es war äußerst wahrscheinlich, dass dort unsere Viehdiebe irgendwo lebten. Wir hielten Augen und Ohren offen, und auch unsere Nasen, denn es war zu vermuten, dass die Wilden Feuer machten, um ihre Beute zu braten.

 

Nach knapp einer Stunde bemerkte ich den Geruch gebratenen Fleisches. Früher hätte ich Appetit darauf bekommen, jetzt fand ich es eklig, denn ich war ja wie alle anderen Siedler Vegetarier geworden. Ich machte meine Begleiter darauf aufmerksam. Wir gingen langsam und vorsichtig in Richtung des Geruches. Dann sahen wir sie: die Wilden. Sie saßen rings um ein Lagerfeuer und aßen etwas Fleischiges. War es eine unserer Ziegen oder ein Reh? Das konnten wir nicht erkennen.

 

Mutig näherten wir uns. Wir mussten mit ihnen reden. Dank unseres Übersetzungschips, den uns die Gliesianer eingepflanzt hatten, sollte das kein Problem sein. Doch was war das? Sie verstanden offenbar kein Wort und gaben nur unartikulierte Laute von sich. Das war eigenartig. Es hatte keinen Zweck. Auch auf Handzeichen reagierten sie nicht. Sie sahen uns nur verständnislos an. Daher gingen wir wieder und kehrten in unser Lager zurück.

 

Wir diskutierten über das, was zuvor geschehen war. „Ich habe da eine Vermutung“, sagte ich und fuhr fort: „Wenn sich die Vorfahren dieser Wilden als kleine Kinder in den Wald versteckt haben, bevor sie richtig sprechen lernten, ist deren Sprachvermögen im Laufe der Generationen verloren gegangen. Stumm sind sie nicht, sie haben ja Laute von sich gegeben.“ „Das kann gut sein, Bernhard. Aber warum haben sie nicht auf die Handzeichen reagiert? Irgendwie müssen sie sich ja untereinander verständigen“, entgegnete Giovanni. „Nun, ich glaube, sie waren verschreckt. Sie haben zwar zuvor unsere Siedlung gesehen, aber nicht uns. Wir wirken auf sie genauso fremd wie sie auf uns“, sagte ich. Die anderen schwiegen. Dann meldete sich Ian, der junge Schotte zu Wort: „Ich glaube Ihr habt Recht. Wir sollten aber auf jeden Fall die anderen Siedlungen darüber verständigen, was hier bei uns geschehen ist!“ Das taten wir. Immer noch waren wir die Einzigen, die das beobachtet hatten.

 

So vergingen einige Wochen, ohne dass es weitere Übergriffe gab. Fast schon hatten wir das vergessen, als dann doch noch etwas geschah. Wir hatten gerade mit unserer monatlichen Versammlung begonnen, als plötzlich und unerwartet einer von den Wilden hineinplatzte. Er machte einen gefassten Eindruck, von Furcht oder Aggression war bei ihm nichts mehr zu spüren. Ganz im Gegenteil: Er lächelte. Das freute uns sehr. In unserer untergegangenen Welt hatten Menschen Schimpansen und Gorillas die Zeichensprache beigebracht. Warum sollte uns das jetzt nicht auch mit ihm gelingen?

 

Es war nicht einfach, aber es gelang uns. Unterdessen hatten wir ihn Hong getauft. Eigentlich ein blöder Name, aber irgendwie passt es er zu ihm. Hong hatte auch eine negative Bedeutung, aber nicht in jeder Sprache. Für Hong selbst jedenfalls nicht. Es stellte sich heraus, dass er sehr gelehrig war.

 

Hong hatte gezeigt, dass er Humor hatte. Als Ian ihn zeigen wollte, wie wir mit Messer und Gabel aßen, guckte er misstrauisch und leicht angeekelt, deutete auf das Essen und ahmte mit seinen Händen Kaninchenohren nach. Außerdem schob er seine Zähne nach vorne. Damit wollte er zeigen, was für ihn unsere Nahrung war: Kaninchenfutter. Wir waren begeistert von seiner Kreativität. Als ich ihm Sarah und meine beiden Jungens vorstellte, hatte er sofort verstanden, dass wir eine Familie waren. Er grunzte, machte ein Handzeichen und bedeutete uns, ihm zu folgen. Dem kamen wir gerne nach.

 

Das Lager der Wilden erreichten wir überraschend schnell. Offenbar kannte Hong eine Abkürzung. Dort wurden wir freundlich begrüßt. Zumindest zeigten die Wilden keine Angst mehr und verhielten sich ganz anders, als beim letzten Mal. Hong ging schnurstracks auf eine sehr junge Frau zu, die zwei kleine Kinder an der Hand hielt. Offenbar war das seine Familie. Hong wirkte sehr stolz.

 

Jemand von den Wilden bot uns etwas zu essen an. Es war gebratenes Fleisch, das war zu befürchten. Wir lehnten dankend ab. Hong ging kurz weg und kam gleich danach mit einem Bündel Blätter wieder. Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Das irritierte Hong. Nun tat es mir leid, gelacht zu haben. Daher nahm ich in spontan im Arm. Das irritierte ihn noch mehr. Ich hatte wohl gleich zwei Fehler gemacht.

 

Um das Ganze zu überspielen, sah ich mich um und entdeckte zunächst einige Brennnesseln in der Nähe. Die waren zwar lecker und gesund, aber nur wenn man sie zubereitet, roh sind sie etwas kratzig. Doch dann sah ich Brombeeren und Pilze. Bei den Pilzen war ich vorsichtig. Ich war nicht hundertprozentig sicher, welche giftig waren und welche nicht. Das konnte meine Frau besser, aber die war im Lager. Hingegen konnte bei den Brombeeren nichts passieren. Ich nahm ein paar und steckte sie mir in den Mund. Hong deutete auf seine Kinder. Offenbar war das für ihn ein Essen für sie.

 

Soweit es möglich war, führten wir eine Konversation. Es war wirklich bedauerlich, dass der Übersetzungschip nicht funktionierte. Daher verlief unser Besuch recht kurz. Wir konnten aber mit Hong vereinbaren, dass er und seine Leute auch bald im Lager besuchen könnten. Ich hoffte, er hatte das verstanden.

 

Eine Woche später kamen sie dann tatsächlich, und zwar alle, soweit ich es überblickte. Sie waren alle freundlich und blickten sich erstaunt bei uns um. Unsere Bauten kamen ihnen völlig fremd vor. Sie fassten sie an und fragten sich wahrscheinlich, aus welchem Material diese bestehen würden. Das konnten wir ihnen natürlich nicht erklären. Sie hätten es auch nicht verstanden, im doppelten Sinne.

 

Begehrliche Blicke warfen unsere Gäste auf unsere Schafe, Ziegen und Hühner. Wir boten ihnen Milch und Eier an, um klarzustellen, dass wir dieses verzehrten, nicht aber die Tiere. Ich war mir nicht sicher, ob sie das verstanden. Jedenfalls lehnten die Erwachsenen die Milch ab und gaben diese an die Kinder weiter. Käse hatten wir erst gar nicht angeboten, da dieser ihnen mit Sicherheit unbekannt war. Die Eier aßen sie roh, das hätte man erwarten können.

 

Wir besuchten uns noch einige Male gegenseitig, es gab keine weiteren Übergriffe mehr. Offenbar hatte Hong ihnen klar gemacht, dass wir diese nicht wünschten. Fortan lebten wir in friedlicher Koexistenz mit den Wilden, die wir nunmehr als Freunde bezeichnen konnten. Die große Herausforderung war geschafft. Wir konnten froh darüber sein. Die Wilden konnten viel von uns lernen, wir aber auch von ihnen.

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Bildmaterialien: www.infranken.de
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2021

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