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Fremde Mutter

 

Peter hatte ein beklemmendes Gefühl. Seine Mutter wollte ihn treffen, nach so vielen Jahren. Er war sieben Jahre alt, als er sie zuletzt gesehen hatte. Peter hatte nur noch eine schemenhafte Erinnerung an diese Frau, sie war für ihn nie eine wirkliche Mutter gewesen. Peter wuchs bei seinen Großeltern auf, die sich liebevoll um ihn kümmerten, nachdem ihm seine Mutter dort abgab. Der Großvater starb zwei Jahre später, völlig unerwartet.

 

Die Großmutter ließ nie ein gutes Wort an ihre Tochter. Sie nannte sie nie bei ihrem Namen oder sagte nie „deine Mutter“ zu Peter, wenn sie über sie redete. Für die Oma war sie nur ein Flittchen. Später, nachdem Peter älter wurde, bezeichnete sie sie als Hure oder Männermatratze.

 

Anfangs hatte Peter gehofft, dass seine Mutter ihn irgendwann zurückholen würde. Als dann aber die Anrufe weniger wurden und schließlich ganz ausblieben, gab er die Hoffnung auf. Peter begann sie zu vergessen.

 

Mit Mitte zwanzig gründete Peter seine eigene Familie. Die beiden Töchter, Melanie und Svenja, fragten gelegentlich nach der verschwundenen Großmutter und dem unbekannten Großvater, aber das wurde im Laufe der Jahre immer weniger. Peters Frau Simone war das ohnehin egal.

 

Dann kam der überraschende Anruf des Privatfernsehsenders. Peter kannte zwar diese Sendung, sah sie aber nie, da er das Ganze für gefakt hielt. Die Frau am Telefon war sehr nett, was Peter beschwichtigte. „Es war nicht einfach, Sie ausfindig zu machen, Herr Bertram!“, sagte sie. Damit hatte sie Recht. Peter war nicht nur in eine andere Stadt gezogen, er hatte auch nach seiner Hochzeit den Namen seiner Frau angenommen. Das geschah aus gutem Grund.

 

Zwei Stunden lang dauerte das Telefonat. Peter konnte dazu überredet werden, von der Frau, die die Sendung moderierte, interviewt zu werden, ohne Kamera. Das sollte an einem neutralen Ort geschehen, in einem Café in der Innenstadt.

 

„Ihre Mutter will sie wirklich wiedersehen“, erklärte die Moderatorin. Sie ergänzte: „Es tut ihr unendlich leid, was damals geschah und bittet um Verzeihung!“ „Und warum hat sie sich in all den Jahren nicht gemeldet? Sie hat nicht mehr angerufen und nicht einmal eine Karte geschrieben. Von Geschenken will ich gar nicht erst reden. Sie hätte sich ja auch an meine Großmutter wenden können“, erwiderte Peter verbittert. „Dafür gibt es einen Grund. All das würde Ihre Mutter Ihnen gerne persönlich erklären“, antwortete die Moderatorin. Peter brauchte drei Tage Bedenkzeit für die Zustimmung zu dem Treffen. Nach einem langen Gespräch mit seiner Frau stimmte er schließlich zu.

 

Es wurde eine rührende Sendung mit viel Pathos, wobei der Sender das Ganze noch mit entsprechender Musik unterlegte. Die Einschaltquoten waren überdurchschnittlich. Peter bereute seine Entscheidung nicht. Nunmehr sah er seine Mutter wieder regelmäßig. Sie war ihm nicht mehr fremd.

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Bildmaterialien: www.spiegel.de
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2021

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