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Der Absturz der Hindenburg

 

 

Viktor Zastrowski traf seinen Kollegen Marius Hallbaum am 26. April 2091 vor dem Eingang zum Zeitreise-Labor in Berlin. Ihr vierter Auftrag stand an. „Ich hoffe, es geht diesmal nicht schon wieder um diese verdammten Nazis. Die Begegnung mit Hitler beim letzten Mal hat mir gereicht!“, bemerkte Viktor. Marius nickte und antwortete: „Zu befürchten ist das aber. Es geht ja in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.“

 

Sie betraten das Gebäude. Professor Schulze begrüßte die beiden und sagte: „Ich habe zufällig mitgehört, worüber Sie sich draußen unterhalten, da ich am Fenster stand. Ja, es geht in dreißiger Jahre, genauer gesagt nach 1937. Mit den Nazis hat ihr diesmaliger Auftrag aber nur ganz am Rande zu tun. Sagt Ihnen Lakehurst etwas?“

 

Hallbaum schaute ratlos, aber Zastrowski wusste Bescheid: „Da ist das Luftschiff LZ 129 Hindenburg abgestürzt. Es gab einiger Tote.“ Der Professor nickte und antwortete: „Die Absturzursache ist bis heute nicht hundertprozentig geklärt. Es gibt dazu mehrere Theorien. Möglicherweise liegt es daran, dass das Schiff mit Wasserstoff statt mit Helium betankt war. Die Amerikaner hatten nämlich ein Handelsembargo für Helium verfügt. Dazu nachher mehr.“ Zastrowski und Hallbaum sahen sich an. Beide waren mit dieser Aufgabe offensichtlich sehr zufrieden.

 

Alle begaben sich in den Nebenraum. Dort stand der Fernseher schon bereit. „Ich zeige Ihnen jetzt historische Originalaufnahmen sowie Ausschnitte aus einem Spielfilm aus dem Jahr 1975. Der ist zwar wenig authentisch und sehr spekulativ, kann Ihnen aber einen ersten Eindruck vermitteln“, sagte der Professor und startete den Film. Trotz der schlechten Bildqualität waren Zastrowski und Hallbaum beeindruckt, als sie die Originalaufnahmen sahen. Besonders der Absturz an sich nahm die beiden mit. Sie hatten diesen noch nie zuvor gesehen. Zastrowski kannte aber eine Schallplattenaufnahme davon.

 

„Bei dem Unglück starben sechsunddreißig Menschen, davon ein Mitglied der Bodenmannschaft. Versuchen Sie auf keinen Fall, daran etwas zu ändern. Das könnte fatale Folgen auf den Ablauf der Geschichte haben. Sie wissen ja von Ihren vorherigen Einsätzen: Sie dürfen nur beobachten, aber nicht eingreifen. Wir werden Sie als Fotojournalisten tarnen, die gefälschten Presseausweise und nähere Informationen zum Nachlesen händige ich Ihnen gleich aus. Wir sehen uns dann in drei Tagen wieder. Bis dahin können Sie sich auf die neue Aufgabe vorbereiten.“

 

Am 29. April 2091 begegneten sich Zastrowski und Hallbaum erneut am Eingang des Zeitreise-Labors. „Ist dir schon aufgefallen, dass unsere Aufträge immer irgendwie mit Katastrophen zu tun haben? Das war beim Russenschiff, beim Attentat in Sarajevo und beim Hitler-Putsch so. Und jetzt auch wieder!“, fragte Hallbaum. Sein Kollege antwortete: „Das stimmt. Aber mal ehrlich: Unbedeutendes interessiert nicht. Ich kann verstehen, dass von denjenigen, die das ausgesucht haben, diese Entscheidungen getroffen wurden“, antwortete Zastrowski.

 

Sie gingen hinein und erhielten letzte Anweisungen vom Professor: „Die Hindenburg war eines der beiden größten jemals gebauten Luftschiffe. Wenn das schreckliche Unglück am 06. Mai 1937 nicht passiert wäre, hätte sich die Geschichte der Luftfahrt vielleicht ganz anders entwickelt. Flugzeuge sind zwar schneller, aber bei Weitem nicht so komfortabel wie es die Luftschiffe waren. Auch wenn sie so langsam waren, finde ich sie wirklich faszinierend. Leider hatte ich niemals die Gelegenheit in einem mitzufliegen.“

 

Nach diesen eindrucksvollen Worten des Professors begaben sich Zastrowski und Hallbaum zur Transporterplatte und verharrten dort. Der Professor drückte einen roten Knopf. Es surrte, augenblicklich später wurden Zastrowski und Hallbaum von einem silbrigen Sternenregen erfasst. Sekunden später tauchten sie in Lakehurst auf. Es war der 06. Mai 1937 kurz vor 17 Uhr, etwa eineinhalb Stunden vor dem Unglück. Die beiden Zeitreisenden hatten ausreichend Zeit, um sich umzusehen.

 

Es war schwülwarm. „Gleich zieht ein Gewitter auf“, sagte Hallbaum zu Zastrowski. Dieser nickte und erinnerte seinem Kollegen daran, dass genau dieses Gewitter einer der Auslöser der Katastrophe war. Sie unterhielten sich leise darüber. Schließlich sollte keiner der anderen Leute erfahren, was gleich geschehen würde. Diese waren ohnehin schon unruhig, weil das Luftschiff gewaltig verspätet war, bedingt durch starken Gegenwind. Die Hindenburg hätte schon vor zehn Stunden in Lakehurst ankommen sollen. Eineinhalb Stunden flog das Luftschiff im Kreis über den Ort, um günstigeres Wetter abzuwarten.

 

Die beiden Zeitreisenden amüsierten sich klammheimlich über die damalige Mode, ganz besonders über die Hüte. Jeder Mann und jede Frau trug einen. „Na, ja, unseren beiden Kopfbedeckungen sehen auch nicht besser aus!“, flüsterte Zastrowski. Hallbaum grinste. Immerhin fielen sie deswegen nicht auf. Ringsum die Landestelle waren zahlreiche Imbiss- und Getränkebuden aufgebaut. Es herrschte Stimmung wie bei einem Volksfest. Alles war in gespannter Erwartung.

 

Dann war es so weit, das Luftschiff näherte sich. Alle jubelten. Doch es fiel auf, dass es hecklastig war, und zwar erheblich. Für die Passagiere an Bord war das sicherlich unangenehm. Ein junger Mann, der direkt neben Hallbaum stand, machte ein ernstes Gesicht. Offenbar gehörte er zur Bodenmannschaft. Er murmelte etwas, was die beiden Zeitreisenden jedoch nicht verstanden, da er zu leise gesprochen hatte. Es war 18.15 Uhr.

 

Nicht weit von ihnen befand sich ein amerikanischer Rundfunkreporter, namens Herbert Morrisson der live vom Geschehen für den Chicagoer Sender WLS berichtete. „Diese Reportage wird berühmt werden. Es gibt auch eine Schallplattenaufnahme davon“, sagte Zastrowski leise zu Hallbaum. Nicht leise genug, Morrisson bekam das mit. Er reagierte aber zunächst nicht darauf, weil er zu sehr mit seiner Reportage beschäftigt war.

 

Zehn Minuten später, es war jetzt 18.25 Uhr. Die Hindenburg setzte zur Landung an. Die Zuschauer schrien auf, denn deutlich waren Flammen am Heck des Luftschiffes zu sehen. Die Stimme des Reporters bebte. In bewegenden Worten schilderte er die nahende Katastrophe. Hallbaum und Zastrowski gingen näher zur vorgesehenen Landestelle, um sich das besser anzusehen. Niemand hielt sie auf. Alle starrten auf das Luftschiff. Die Flammen breiteten sich weiter aus. Viele Personen sprangen aus Verzweiflung hinaus, einige starben dabei. Wer sich nicht traute, lief Gefahr, in den Flammen umzukommen. Dreißig Sekunden war die Hindenburg auf den Boden gesunken. Sie brannte lichterloh.

 

Zastrowski und Hallbaum waren entsetzt. In der Aufregung vergaßen sie, Fotos zu machen. Sie hätten zu gerne helfend eingegriffen, aber das durften sie nicht. Es hätte schwerwiegende Auswirkungen auf die Zukunft gehabt. Morrisson setzte unterdessen seine Reportage fort. Er wurde immer emotionaler. Die Flammen hatten mittlerweile das ganze Luftschiff erfasst. Man sah nur das Stahlgerippe. Es war schrecklich. Sowohl aus dem Luftschiff als auch auf dem Boden ertönten Schreie. Die einen schrien aus Schmerzen, die anderen aus Entsetzen.

 

Die beiden Zeitreisenden entschlossen sich, wieder zurückzugehen, um die Rettungsarbeiten nicht zu behindern. Ihnen machte außerdem die Hitze des Feuers zu schaffen. Vom Luftschiff war nicht mehr viel zu retten. Eine Feuerwehr war so schnell nicht zur Stelle, niemand hatte damit gerechnet, dass so etwas passiert. „Wir sollten allmählich aufbrechen“, schlug Hallbaum vor. Zastrowski nickte und entgegnete: „Du hast Recht. Hier können wir nichts mehr tun. Leider haben wir die Ursache der Katastrophe nicht klären können.“

 

Sie drückten auf den Rückholknopf, um in ihre Zeit zurückzukehren. Doch nichts geschah. „Das gibt es doch gar nicht! So eine Scheiße!“, fluchte Zastrowski. Hallbaum ergänzte: „Ich vermute, dass die Hitze unsere Geräte außer Gefecht gesetzt hat. Zum Glück erfolgt der automatische Rücktransport in gut einer Stunde. Das hat der Professor Schulze zum Glück einkalkuliert. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als noch so lange hier zu bleiben und vorsichtig zu beobachten.“

 

Die Worte von Hallbaum blieben nicht unbemerkt. Der junge Mann, der zuvor direkt neben ihm stand, und der zur Bodenmannschaft gehörte, alarmierte umgehend die Sicherheitskräfte. Kurz darauf wurden die beiden Zeitreisenden umringt, überwältigt und in ein Zelt verbracht. Dort wurden sie verhört.

 

Im Zelt waren außer dem jungen Mann noch drei weitere Leute bei den Verhörenden. Einer von ihnen kam Zastrowski und Hallbaum sehr bekannt vor. Es war Franz Maria Alfred Graf von Harrach, dem sie bereits beim Attentat von Sarajevo begegnet waren. Dort hatte er sie beobachtet und aufgedeckt. Für ihn waren seitdem knapp 23 Jahre vergangen, für Hallbaum und Zastrowski nur wenige Wochen.

 

Er war ebenso verblüfft wie die beiden Zeitreisenden über das Wiedersehen, als er sie erkannte. Der Graf war sichtlich gealtert und schien gesundheitlich angeschlagen. Er hustete mehrfach während der Befragung. „Wie haben Sie das gemacht, meine Herren?“, war einer seiner Fragen. Ihm war unerklärlich, dass die beiden Verdächtigen noch so jung geblieben waren. Für ihn bestand aber keinerlei Zweifel, dass es sich um die gleichen Personen handelte, die in Sarajevo kurz nach dem Attentat plötzlich verschwunden waren.

 

Zastrowski und Hallbaum blieben eine Antwort schuldig, so verdattert waren sie. Damit hatten sie nicht gerechnet. In den Unterlagen, die sie erhalten hatten, war der Graf auch nicht erwähnt worden. Der junge Mann, der die Sicherheitskräfte alarmiert hatte, mischte sich ein: „Dürfte ich erfahren, worum es geht, Graf?“ Dieser antwortete prompt: „Nun, Robert. Genau weiß ich das auch nicht. Ich weiß nur, dass ich die beiden Herren schon einmal als Attentäter enttarnte, vor etwa 23 Jahren beim Anschlag auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand. Und die Herren sahen damals genau so aus wie damals. Entweder haben sie den Jungbrunnen entdeckt oder sie sind Zeitreisende!“

 

Der junge Mann namens Robert sagte: „Das mit den Zeitreisen interessiert mich sehr. Ich bin überzeugt davon, dass es das irgendwann geben wird. Wenn das stimmt und Sie aus der Zukunft kommen, macht es natürlich Sinn, dass Sie sich Ereignisse aus der Vergangenheit ansehen und dokumentieren. Nun einmal konkret gefragt meine Herren: Stimmt das und aus welcher Zeit kommen Sie?

 

Diese Frage konnten Zastrowski und Hallbaum nicht mehr beantworten, denn in diesem Moment lösten sich die beiden Zeitreisenden in Luft auf und erschienen wieder im Transporterraum. Der automatische Rücktransport war erfolgt. „Genau wie in Sarajevo!“, rief Graf von Harrach entsetzt und verblüfft zugleich. Robert war ebenso baff und sagte: „Das spricht dafür, dass es Zeitreisende sind! Ich werde das nie vergessen.“

 

Der Professor machte zunächst ein ernstes Gesicht, nachdem ihm berichtet wurde, was passiert war. Dann erklärte er mit gespielter Empörung: „Da haben Sie ja ganz schön was angestellt!“ Zastrowski und Hallbaum schauten bedröppelt. Schulze fuhr fort: „Aber ich kann Sie beruhigen, die verursachten Veränderungen sind positiver als sie denken. Franz Maria Alfred Graf von Harrach ist wenige Tage nach der Hindenburg-Katastrophe gestorben, und zwar am 14. Mai 1937. Das hat sich nicht geändert. Aber dieser Robert, dem Sie da auch begegnet sind, war niemand anderes als Robert Heinlein, der bekannte Science Fiction-Autor. Er hat sich schon lange zuvor für Zukunftsromane interessiert und begann eigentlich erst 1939 mit dem Schreiben solcher Geschichten. Inspiriert durch die Begegnung mit Ihnen fing er nunmehr eher damit an und hatte großen Erfolg, was ihn vor dem finanziellen Ruin bewahrt hat. Als Politiker und Makler hatte er sich fast in den Bankrott geritten. Sie haben also Gutes bewirkt, meine Herren!“

 

Zastrowski und Hallbaum waren glücklich. „Und was ist mit dem Reporter Herbert Morrisson? Hat er uns in seinem Bericht erwähnt?“, wollte Hallbaum wissen. Der Professor antwortete: „Nur mit einer kleinen Randnotiz, die kaum jemand beachtet hat. Ein Zusammenhang mit dem Verhör hat niemand gezogen. Ich muss Sie aber nochmals ermahnen, dass Sie vorsichtiger sein müssen, wenn Sie sich unterhalten. Das hätte auch anders ausgehen können.“ Nachdem der Professor den Computer gescheckt hatte, teilte er mit: „Die Abweichung der Zeitlinie beträgt 0,12% zur ursprünglichen Geschichte, das ist ein zufriedenstellender Wert. Haben Sie noch weitere Fragen?“

 

Zastrowski meldete sich und fragte: „Was ist mit anderen beiden Herren, die mit im Verhörraum waren? Die waren ja recht schweigsam.“ „Davon ist nichts bekannt. Sie haben sich ja mit dem Grafen und Heinlein auf Deutsch unterhalten. Die anderen haben wohl nichts verstanden. Ihr plötzliches Verschwinden wird sie allerdings schon verwirrt haben. Aber wie gesagt: näheres ist nicht bekannt. Heinlein war zwar Amerikaner, sprach und verstand aber die deutsche Sprache sehr gut. Den Nazis und deren Gedankengut stand er sehr nahe, das war schon in den Büchern, die wir zuvor von ihm kannten so“, entgegnete Schulze.

 

Der Auftrag war erledigt. Aber das nächste Abenteuer wartete schon, jetzt hatten Zastrowski und Hallbaum erst einmal ein paar Tage frei.

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 25.07.2021

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