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Das Projekt Zarensturz

 

 

Vladimir hatte Geburtstag. Daher hatte er an diesem Tag das Recht, das Ziel für unsere Zeitreise zu bestimmen. Ich war gespannt, was mein Kollege sich dafür ausgesucht hatte. Es würde bestimmt etwas sein, was mit Russland zu tun hatte.

 

Als ich unser Büro betrat, saßen Vladimir und Sarah schon an unserem Tisch. Ein großer Topf mit einer rötlichen Suppe stand in der Mitte, drei Teller standen daneben. „Das ist Borschtsch“, erklärte Vladimir, nachdem ich ihm zu seinem Ehrentag gratuliert hatte. Er ergänzte: „Eine russische Suppe aus Rote Bete, leider nur aus dem Nahrungsgenerator!“ Er füllte unsere Teller mit dem Gericht. Es schmeckte großartig. „Vor hundert Jahren hätte ich Euch auch noch Wodka serviert. Aber wir wissen ja seit dem Projekt Moses, was echter Alkohol anrichten kann!“ Alle lachten. Wir erinnerten uns an dem Malheur mit der Steintafel und die Folgen, die dieses hatte. Dadurch wurde weltweit der Ehebruch legalisiert.

 

„Nun aber an die Arbeit. Ich habe mir, wie Ihr Euch vielleicht denken könnt, ein Ziel aus Russland ausgesucht. Es geht in das Jahr 1917“, erklärte Vladimir. Ich wollte mich auch einmal mit Wissen hervortun und rief: „Die Oktoberevolution, die zum Sturz des Zaren führte!“ Sarah grinste und Vladimir schüttelte den Kopf. Er entgegnete: „Nein, Sebastian. Die Februarrevolution führte zum Zarensturz, sie war allerdings erst im März 1917. Darum geht es heute. Die Oktoberevolution hingegen führte zur Machtübernahme der Kommunisten und war eine Folge der Februarrevolution. Sie war übrigens im November 1917.“ Sarah ergänzte: „Völlig richtig. Das hängt mit dem gregorianischem und dem julianischem Kalender zusammen. Ersterer wurde in Russland erst im Februar 1918 eingeführt. Man beließ es bei den Bezeichnungen der Revolutionen.“ Ich hatte wieder etwas dazu gelernt.

 

Nun war ich aber sicher, dass das was ich jetzt sagen wollte, korrekt war: „Dann auf nach Moskau!“ Sarah lachte, Vladimir warf mir einen strafenden Blick zu. Er verbesserte mich: „Sebastian, der Zar hat immer in Sankt Petersburg residiert, nicht in Moskau!“ Ohne ein weiteres Wort drückte er den Startknopf an der Konsole. Die Flugmaschine erhob sich majestätisch in nordöstlicher Richtung.

 

Bis sie ihr Ziel erreichen würde, sollte noch einige Zeit vergehen. Vladimir Kaspersky nutze diese, um von seinem Heimatland und der Geschichte berichten. Außerdem erzählte er einiges von seiner Familie. So erfuhren wir, dass einer seiner Vorfahren ein beliebtes Anti-Viren-Programm geschrieben und erfolgreich vermarktet hatte. Ich war überrascht, dass Computer früher so etwas benötigt hatten und diese nicht gleich gegen Viren geschützt waren.

 

Dann war die Flugmaschine in Sankt Petersburg angekommen. Vladimir versetzte sie mittels der Konsole zum 08. März 1917 unserer Zeitrechnung. Auf dem 4D-Projektor war eine prachtvolle Stadt zu sehen mit wunderschönen Gebäuden voller Gold. Ich war beeindruckt. Sarah hielt einen Vortrag: „Sankt Petersburg hatte seinerzeit schon über zwei Millionen Einwohner und hieß seinerzeit Petrograd. In der Innenstadt gibt und gab es über 2.000 Paläste, Prunkbauten und Schlösser. Einer der schönsten Städte überhaupt, wie ich finde!“

 

Sarah hatte vollkommen Recht, Vladimir hatte schon vorher davon geschwärmt. Er freute sich sehr über das, was Sarah gesagt hatte. „Nun wollen wir aber zu unserem Ziel kommen“, sagte er, bestens gelaunt. Vladimir steuerte die Flugmaschine mittels der Konsole zu den Putilow-Werken. Das war ein Rüstungsbetrieb, wie Vladimir erklärte. Dort erblickten wir zahlreiche Demonstranten, die lautstark etwas riefen, was uns Vladimir mit „Gebt uns Brot. Wir verhungern. Wir brauchen Brot“ übersetzte. Die Leute waren wütend und aufgebracht. Das war deutlich zu sehen. Vladimir erklärte: „Der Zar hatte seine Gegner durch Polizeigewalt unterdrückt. Im Jahre 1905 gab es einen Blutsonntag, wo in Petrograd viele Demonstranten erschossen wurden. Dazu kamen im Herbst 1916 zahlreiche Streiks der Arbeiter. Außerdem spitzte sich das Problem der Lebensmittelversorgung zu. Die Leute mussten sogar nachts nach Brot anstehen.“

 

Sarah applaudierte und erklärte: „Super, Vladimir. Du hast das sehr gut beschrieben. Ich hätte es nicht besser zusammenfassen können. Man kann wirklich gut verstehen, warum es zum Aufstand kam. In Irland gab es auch Hungersnöte, zum Beispiel zwischen 1846 und 1849, was zu einer großen Auswanderungswelle nach Amerika führte.“

 

Jetzt wäre es an mir gewesen, dergleichen aus der deutschen Geschichte zu berichten. Während ich noch überlegte, sagte Vladimir: „Nun lasst uns unser nächstes Ziel ansteuern!“ Er hantierte an der Konsole und lenkte die Flugmaschine zum Zarenpalast, ein überaus prachtvolles Gebäude. Dort war jedoch nichts besonderes los. „Wir müssen auf den 14. März vorspulen“, erklärte Vladimir. Gesagt, getan. Er berichtete: „Die Unruhen hatten sich unterdessen auf Moskau und weiteren Teilen des Landes ausgeweitet. Der Zar Nikolaus war zwischenzeitlich in Mogilew. Dort schickte er am 09. März ein Telegramm an den Stadtkommandanten. Darin forderten er diesen auf, die Unruhen in der Stadt am nächsten Tag zu liquidieren. Zwei Tage später, am 11. März, hatte der Zar den Präsidenten des russischen Parlaments Rodsjanko, aufgefordert, das Parlament aufzulösen. Doch die Abgeordneten weigerten sich, dieser Aufforderung nachzukommen. All dieses heizte die Situation natürlich noch mehr auf. Die Folge war, dass der Zar nun wiederum vom Parlament zur Abdankung aufgefordert wurde. Wie er darauf reagiert hat, werden wir gleich sehen.“

 

Sarah gab zu bedenken: „Ich glaube nicht, dass der Zar schon wieder am 14. März in seinem Zarenpalast war. Meines Wissens war er zu diesem Zeitpunkt in Zarskoje Selo, seiner Sommerresidenz, um seine Familie zu treffen.“ Vladimir nickte und entgegnete: „Stimmt, Sarah. Du hast Recht. Das war mir entfallen. Lass uns aber mal im Zarenpalast nachsehen, ob das tatsächlich stimmt. Gut, dass wir jetzt durch Wände scannen können. Wir können also gleich feststellen, ob der Zar zu Hause ist.“

 

Vladimir scannte den gesamten Zarenpalast gründlich ab. Wir konnten den Dialog eines Zimmermädchens mit einem Koch entnehmen, dass sich Zar Nikolaus tatsächlich nicht dort aufhielt, sondern in Zarskoje Selo. Also wurde unsere Flugmaschine dorthin gesteuert. „Wir spulen auf den Morgen des 14. März“, sagte Vladimir und hantierte an der Konsole.

 

Die sogenannte Sommerresidenz des Zaren war zwar wunderschön, aber nicht annähernd so prachtvoll wie der Zarenpalast. Wir scannten das gesamte Gebäude. Das Schlafgemach des Zaren fanden wer sehr schnell. Sarah sollte Recht behalten. Der Zar lag friedlich schlummernd in seinem Bett. Gegen fünf Uhr wurde er von seinem Kammerdiener geweckt. Er reagierte darauf ungehalten. Noch verärgerter wurde er, als ihm das Telegramm gezeigt wurde, in dem ihn das Parlament zur Abdankung aufgefordert hatte. Er schrie laut auf und stieß einige Flüche aus. Davon wurden seine Frau und seine Kinder geweckt.

 

Ein junges Mädchen betrat das Schlafzimmer des Zaren. Sie war etwa sechzehn Jahre alt. „Das muss Anastasia sein. Lange Zeit glaubte man, dass sie die Ermordung der gesamten Familie am 17. Juli 1918 überlebt habe. Das konnte aber 2007 endgültig abgewiesen werden!“, erklärte Sarah. Ich fragte entsetzt nach: „Die Ermordung sehen wir uns doch hoffentlich nicht an, oder?“ Vladimir schüttelte den Kopf und entgegnete: „Keine Sorge, Sebastian. Das werden wir uns nicht ansehen.“

 

Wir sahen uns auf dem 4-D-Projektor an, was in Zarskoje Selo weiter geschah. Der Zar war immer noch zornig und schickte seine Tochter in einem harschen Ton hinaus. Anastasia ging murrend hinaus und in ihr Zimmer. Wir folgten ihr und sahen, dass auf ihrem Nachtschrank ein eiförmiger Gegenstand lag. Vladimir zoomte näher heran und rief aus: „Ich werde verrückt. Das ist ein Fabergé-Ei in Form einer goldenen Henne mit rosa Diamanten, die ein kleines Saphir-Ei mit dem Schnabel aus dem Nest nimmt. Das ist ein Vermögen wert. Es gilt als verschollen. Ich würde alles darum geben, es einmal in Händen zu halten!“ „Warum holst du es nicht einfach herüber zu uns? Das haben wir ja schon öfters gemacht“, entgegnete Sarah.

 

Vladimir grinste und holte das Fabergé-Ei mittels des Teleporters zu uns. Mein Kollege betrachtete das kostbare Stück mit zunehmender Begeisterung. In diesem Moment erloschen sämtliche Lichter bei uns im Büro, auch der 4-D-Projektor wurde dunkel. Sarah rief aus: „Oh, nein, ein Stromausfall. So ein verdammter Mist!“Ich fragte besorgt: „Was ist jetzt mit unserer Flugmaschine? Wird sie abstürzen?“ „Nein, Sebastian. Wir haben da eine Sicherung eingebaut. Die Maschine kehrt automatisch zu uns zurück. Allerdings wird der Kontakt zum Beobachtungsgebiet unterbrochen. Ich weiß nicht, wann wir ihn wieder herstellen können!“, antwortete Vladimir.

 

Unglücklicherweise hielt der Stromausfall über vier Stunden an. Wir entschieden, die Mission abzubrechen. Das Fabergé-Ei verblieb bei uns. So erklärte es sich, dass es als verschollen galt.

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 28.04.2021

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