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Diener zweier Damen

 

 

Der Winter 1978/79 war einer der schneereichsten, an die ich mich erinnern kann.

 

Am 30. Dezember 1978 hat sich diese Geschichte ereignet, von der ich hier berichten möchte, exakt am gleichen Ort, wo ich als Dreijähriger, meinen ersten Kinofilm, nämlich Schneewittchen und die sieben Zwerge sah: dem Theater am Aegi in Hannover. 1964 ging es dort heiß her, denn das Theater brannte nach der Vorstellung ab, 1978 hingegen war es eiskalt und es lag sehr viel Schnee. Noch zwei Tage vorher waren zehn Grad plus, denn stürzten die Temperaturen auf zwanzig Grad minus und es schneite ohne Unterlass.

 

Meine Deutschlehrerin, Frau S., hatte die gesamte Klasse zu dem Theaterstück Diener zweier Herren von Carlo Goldoni eingeladen und die Karten besorgt. Frau S. war Mitte zwanzig und hatte langes, blondes Haar. Sie war äußerst attraktiv und fast jeder Junge aus meiner Klasse fand sie sehr begehrenswert. Ich auch!

 

Pünktlich zur vereinbarten Zeit stand ich vor dem Theater, das inzwischen kein Kino mehr war, sondern als Schauspielhaus und Konzerthalle diente. Von meinen Klassenkameraden war weit und breit keine Spur. Fünf Minuten später traf zumindest eine Mitschülerin ein: Claudia. Sie war einen Kopf kleiner als ich, hatte schwarze Haare und dunkelbraune Augen, eine wirkliche Schönheit, sie sah fast so aus, wie man sich Schneewittchen vorstellt. Ich mochte sie sehr.

 

„Ich fürchte, viele werden wir heute nicht, bei dem hohen Schnee“, sagte ich zu meiner Mitschülerin, nachdem wir uns begrüßt hatte. „Das sehe ich auch so. Mein Vater meinte auch, ich sollte nicht kommen, aber ich wollte aber unbedingt das Stück sehen!“, antwortete Claudia und lächelte.

 

Kurz darauf kam meine Lehrerin, in Begleitung einer anderen jungen Frau, die uns Frau S. als ihre Freundin vorstellte. Wir warteten noch fünfzehn Minuten auf Nachzügler, denn gingen wir hinein. Es kam kein weiterer Mitschüler mehr. Der Saal war nur zu etwa zwanzig Prozent gefüllt, obwohl alle Karten verkauft, bzw. abgegeben waren. „Zum Glück musste ich für die Karten nichts bezahlen, weil es eine Vorpremiere ist und wir diese als Schule kostenlos bekommen haben“, erklärte Frau S. Sie ergänzte: „Ich freue mich, dass zumindest Ihr beiden gekommen seid!“

 

Ich saß zwischen Claudia und meiner Lehrerin, links Claudia, rechts Frau S. Denn begann die Vorstellung. Das Bühnenbild war ziemlich spartanisch und als Besonderheit war der Kasten der Souffleuse vorne mitten auf der Bühne aufgebaut, und diese griff auch direkt in die Handlung ein, wenn die Schauspieler vorgeblich einen Hänger hatten.

 

Ich konnte mich aber kaum auf das Stück konzentrieren, weil mich die beiden Damen rechts und links von mir zu sehr ablenkten. So wie Truffaldino in Diener zweier Herren zwei Herren diente, stellte ich mir vor, zwei Damen zu dienen. Als pubertierender 17-jähriger hat man nun einmal solche Gedanken. Wobei Truffaldino nicht wusste, dass einer der beiden Herren gar kein Herr, sondern eine verkleidete Dame war. Solche Überraschungen hatte ich aber nicht zu erwarten, da war ich mir sicher.

 

Dann fiel der Vorhang und es ertönte der Gong zur Pause. Wir begaben uns ins Foyer, man hatte durch das große Glasfenster einen schönen Blick nach draußen auf den Aegidientorplatz. So konnte man sehen, dass es in der einen Stunde, in der wir im Theatersaal waren, heftig geschneit hatte. Der Schnee lag unterdessen etwa einen halben Meter hoch. Frau S. hatte uns einen Sekt spendiert. Während wir diesen genossen, sagte sie: „Ich will Euch ja nicht beunruhigen, aber ich habe jetzt schon zehn Minuten keine Straßenbahn mehr vorbei fahren sehen“. Wir sahen nach draußen. Tatsächlich waren alle Gleise zugeschneit, auch die, die nach Kleefeld bzw. Kirchrode führten, wo Claudia und ich wohnten. „Wenn alle Stricke reißen, und die Bahnen wirklich nicht mehr fahren, kann ich Euch auch nach Hause fahren“, ergänzte sie noch. In diesem Moment gingen mir heiße Gedanken durch den Kopf. Claudia schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich habe mit meinem Vater vereinbart, dass er mich abholt, wenn das passieren sollte.“ Diese Option hatte ich nicht, denn meine Eltern hatten weder einen Führerschein noch ein Auto und mein Bruder Achim war mit ein paar Freunden verreist.

 

Der Gong ertönte und forderte uns dazu auf, in den Saal zurückzukehren. Wir tranken aus und kehrten zurück. Die Vorstellung ging flott weiter und gefiel allen im Saal sehr gut. Entsprechend gab es am Schluss viel Applaus. Als wir wieder vor dem Theater standen, gab es eine Überraschung. Die Gleise waren unterdessen freigeräumt, die Straßenbahnen fuhren wieder.

 

So kam es dazu, dass ich doch nicht von meiner Lehrerin nach Hause gebracht wurde, was ich sehr bedauerte. In der darauf folgenden Nacht fiel allerdings noch viel mehr Schnee, so dass der Straßenbahnverkehr in Hannover etwa eine Woche lang eingestellt wurde. Viele Silvesterpartys fielen deswegen aus, nicht aber die Show in dem hiesigen Kuppelsaal, die vom ZDF übertragen wurde. Der Grund dafür war, dass diese wochenlang zuvor aufgezeichnet wurde.

 

Dennoch wird mir dieser Winter lange in Erinnerung bleiben. In Hannover war die Lage noch relativ entspannt, in weiten Teilen des Nordens in der BRD und der DDR war es hingegen katastrophal, weil viele Dörfer lange von der Außenwelt abgeschnitten waren.

 

Ich verließ die Schule wenige Monate später, im Sommer 1979. Frau S. habe ich danach nie mehr getroffen, während mir Claudia noch mehrmals über den Weg gelaufen ist. Sie hat dann irgendwann geheiratet und ist in die Schweiz gezogen.

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Bildmaterialien: www.haz.de
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2021

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