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Weihnachten in Afrika

Bruno war glücklich. Seit über zehn Monaten lebte er jetzt mit seinem Kater Mäxchen in diesem kleinen Dorf im Norden von Ghana. Bruno war dort bei einem Projekt für den Bau von Brunnen und Bewässerungsanlagen engagiert, um die hiesige Bevölkerung mit sauberen Trinkwasser zu versorgen und somit die Ernährungslage zu verbessern. Das machte ihm sehr viel Spaß und er war stolz darauf, helfen zu können.

 

Heute war Heiligabend. Bruno dachte daran, wie es ihm vor genau einem Jahr ergangen war. Damals ging es ihm wesentlich schlechter, er war arbeitslos und er hatte wenig Geld. Spontan war er in die Kirche gegangen und einen wunderschönen Gottesdienst erlebt. Vor allem die Orgelmusik hatte es ihm angetan. Es wurde das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach gespielt. Als die Kollekte herumging, fielen zwanzig Euro heraus, die Bruno heimlich einsteckte. Nachdem ihn zu Hause das schlechte Gewissen überkam und er deswegen nicht schlafen konnte, wollte Bruno das Geld am nächsten Morgen zurückbringen. Dabei wurde er vom Pastor ertappt. Nachdem Bruno diesem seine Situation erörtert hatte, bot ihm der Pastor an, bei diesem Projekt mitzumachen, für das auch die Kollekte bestimmt war. Bruno sagte zu, uns so gelangte er hierher, samt seinem Kater Mäxchen.

 

Bruno hatte sich hier gut eingelebt und hatte ein sehr gutes Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung. Ganz besonders zu Grace, einer jungen Frau die hier als Übersetzerin fungierte. Grace sprach fast fehlerfrei Deutsch, obwohl sie nur eineinhalb Jahre in Deutschland gelebt hatte. Grace war nicht freiwillig nach Europa gekommen, sie wurde von ihrem Onkel zu einem Voodoo-Hexer gebracht und mit einem Voodoo-Zauber gefügig gemacht. Sie musste in Köln als Prostituierte arbeiten, und das, obwohl sie damals noch minderjährig war. Nachdem sie sich offenbaren konnte, flog alles auf und sie konnte in ihre Heimat zurückkehren. Hier heiratete sie und bekam zwei Kinder. Ihr Onkel und der Voodoo-Zauberer wurden von einem hiesigen Gericht zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

 

Für den Nachmittag hatte Grace ihren Besuch bei Bruno angekündigt. Sie wollten zusammen ein deutsch-ghanaisches Weihnachtsfest feiern. Der Pastor hatte vor einer Woche ein großes Paket geschickt, mit lauter Spezialitäten, die man hier nicht bekam, unter anderem Zimtsterne, ein Stollen, Spekulatius, Marzipan und Lebkuchen. Auch ein kleiner, fertig geschmückter Plastikweihnachtsbaum war dabei. Ein echter hätte den Transport kaum überstanden. Außerdem hatte der Pastor ein kleines Buch mit deutschen Weihnachtsliedern beigelegt.

 

Grace wollte ein selbst gekochtes, ghanaisches Gericht mitbringen. Welches das sein würde, hatte sie nicht verraten. Bruno war gespannt. Er ging zum CD-Player und legte die CD mit dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Die ersten Töne erklangen. Bruno war immer noch angetan davon. Er erinnerte sich an letztes Jahr und war immer noch begeistert davon. Das würde Grace sicherlich gut gefallen, denn sie war sehr gläubig. „Grace“ bedeutete übersetzt „Anmut“. Das passte sehr gut zu ihr, denn sie war sehr hübsch.

 

Bruno setzte sich in seinen Sessel und hörte der wunderbaren Musik zu. Mäxchen schien das auch zu gefallen. Der Kater schnurrte, strich Bruno um die Beine und sprang ihm auf den Schoß. „Na, Mäxchen, das ist schön, nicht wahr?“, sagte Bruno und streichelte Mäxchen.

 

Um 15 Uhr hörte Bruno eine wohlbekannte Stimme. Sie gehörte Grace. Die junge Frau war einfach so in Brunos Unterkunft hineingegangen. Niemand klopfte hier an die Tür, soweit überhaupt eine vorhanden war. Daran hatte sich Bruno mittlerweile gewöhnt. „Hallo, Bruno“, sagte Grace und lächelte. Dieser entgegnete: „Hallo, Grace. Ich freue, dass du da bist!“

 

Grace hatte einen Topf und zwei kleine Päckchen dabei. „Erst essen wir, denn ist Bescherung“, sagte Grace und stellte den Topf auf den Tisch. Sie öffnete den Deckel. Es war eine Gemüsesuppe mit Reisbällchen. „Das nennt sich Omo Tuwe. Das wird in Ghana gerne gegessen. Bei uns im Norden zum Abend, im Süden des Landes zum Frühstück“, erklärte Grace. Es duftete wundervoll.

 

Und es schmeckte auch sehr gut. Bruno war begeistert. „Etwas Musik?“, fragte er. Grace nickte. Bruno schaltete den CD-Player an. „Das Stück heißt Jesu, bleibet meine Freude auf Deutsch und Jesu, Joy of Man's desiring auf Englisch. Es ist von Johann Sebastian Bach. Das war das Stück, das ich vor einem Jahr in der Kirche gehört habe“, sagte Bruno. Grace hörte andächtig zu. „Das ist das Schönste, was ich je gehört habe. Gibt es auch einen Text dazu?“, antwortete Grace. Bruno blätterte in dem Büchlein und wurde tatsächlich fündig. Auf Seite 96 war der Text samt Noten abgedruckt.

 

Als beide aufgegessen hatten und die letzten Takte von der CD verklungen waren, nahm sich Grace das Buch und sang das Lied noch einmal. Sie hatte eine ausgezeichnete Stimme. „Wow. Du hast wirklich Talent, Grace. Du könntest mehr aus dir machen. Dazu kommt dein Sprachtalent“, sagte Bruno. Grace bedankte sich und sprach: „Danke, sehr, Bruno. Aber ich möchte keine Sängerin werden. Allerdings möchte ich irgendwann studieren. Ich spreche Englisch, Deutsch, Französisch und etwas Spanisch. Ich möchte Lehrerin werden!“, antwortete Grace. Sie lächelte. Bruno nickte und sagte: „Dazu wünsche ich dir viel Glück, liebe Grace. Aber nun lasst uns zur Bescherung kommen!“

 

Bruno hatte auch ein Geschenk für Grace. Sie öffnete ihres als Erste. Es war eine kleine, handgeschnitzte Krippe. Es war nicht einfach für Bruno diese zu besorgen. Grace freute sich sehr. „Jetzt musst du aber dein Päckchen öffnen, Bruno. Das größere ist für dich, das kleinere für Mäxchen“, erklärte sie. In seinem Paket fand Bruno eine kleine Schneekugel, in dem anderen eine Spielzeugmaus. „Damit du auch dieses Jahr weiße Weihnachten hast. In der Zeit, als ich in Deutschland war, habe ich das leider nicht erlebt. Aber ich habe Bilder davon gesehen. Als jemand von meinen Kunden von weiße Weihnachten sprach, habe ich das erst falsch verstanden. Ich dachte, das wäre rassistisch gemeint. Jetzt weiß ich, was das heißt“, berichtete Grace. Bruno bedankte sich und Mäxchen stürzte sich sogleich auf die Maus.

 

Grace und Bruno ließen den Heiligabend mit den Keksen und dem Stollen ausklingen. Dazu gab es Tee, den beide gerne tranken. „Das war mein schönsten Weihachten seit langem“, sprach Bruno. Grace nickte und entgegnete: „Für mich auch, lieber Bruno. Und danke für alles, was du hier für uns im Dorf getan hast!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.augenblickmalonline.de
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2020

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