Und wieder ist der 3. Juni. Mit Wehmut dachte ich an jenes schreckliche Ereignis zurück, das heute vor 22 Jahren mein Leben so dramatisch verändert hatte. Damals, im Jahre 1998 war ich überglücklich. Ich hatte wenige Monate zuvor Stefanie kennen gelernt. Es war Liebe auf dem ersten Blick, beidseitig.
Dann kam der Tag, als sie mit dem Zug zu einem Seminar nach Hamburg fahren musste. „Nimm doch den ICE, das ist bequemer und geht schneller“, schlug ich vor. „Stimmt, dann haben wir noch etwas mehr Zeit für uns und die Trennung ist nicht so lange“, antwortete Steffi begeistert. Sie nahm meinen Vorschlag an und kaufte sich eine Platzkarte für den ICE 884 Wilhelm Conrad Röntgen.
Wir begaben uns um kurz nach zehn zum hannoverschen Hauptbahnhof. Es war noch reichlich Zeit für eine ausgiebige Verabschiedung. Am Bahnsteig lagen wir uns in den Armen, ich drückte meine Freundin und hätte sie am liebsten gar nicht losgelassen. Die anderen Fahrgäste schauten erfreut auf uns.
Um Viertel vor elf bemerkten wir, dass der Zug abfahrbereit war. „Ich muss jetzt einsteigen, ich rufe dich an, sobald ich in Hamburg bin“, sagte Stefanie. Sie ergänzte noch: „Es ist ja kein Abschied für immer. Heute Abend sehen wir uns schon wieder.“ Ich gab ihr einen großen Kuss und streichelte sie ein letztes Mal. Dann stieg meine Freundin ein und der Zug fuhr ab.
Ich winkte ihr nach und begab mich erst nach unten, als vom Zug nichts mehr zu sehen. Beglückt ging ich nach Hause. Das waren nur ein paar Meter. Damals wohnte ich in einem Penthouse auf dem Dach des Bredeo-Hochhauses direkt am Bahnhof. Von da konnte man das ganze Bahnhofsgelände überblicken und hatte ein wundervolles Panorama auf die Stadt.
Zu Hause schaltete ich das Radio ein. Fröhliche Musik wurde gespielt, das brachte mich auf andere Gedanken. Gegen halb zwölf wurde die Musik gestoppt. Eine Nachrichtensendung folgte. Das war ungewöhnlich. Irgendetwas war passiert. Der Sprecher las vor: „Kurz vor elf hat sich bei Eschede auf der Zugstrecke Hannover-Hamburg ein schweres Zugunglück ereignet. Näheres ist noch nicht bekannt. Wir melden uns wieder, sobald dieses der Fall ist.“ Mir stockte der Atem. Das war genau die Strecke, auf der Stefanie unterwegs war, ich hoffte innig, dass nicht ihr Zug betroffen sei.
Um zwölf Uhr folgte die Hauptnachrichtensendung. Darin hieß es, dass eine Brücke eingestürzt und auf einen durchfahrenden ICE gefallen sei. Es wurde aber nicht erwähnt, aus welcher Richtung der Zug kam. Somit könnte es auch der ICE aus der Gegenrichtung gewesen sein. Beunruhigt rief ich bei der Polizei an. Dort riet man mir, zur Unglücksstelle hinzufahren.
Also machte ich mich mit dem Auto auf den Weg nach Eschede. Um 12.40 Uhr hatte ich den Ort erreicht. Alles war abgesperrt. Man konnte aber jenseits der Absperrung einen Trümmerberg sehen. Helfer sprachen mich an, ich erwähnte, dass meine Freundin in den Zug nach Hamburg gewesen sei. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Der verunglückte ICE war tatsächlich der 884. Ich brach zusammen und wurde in ein Zelt gebracht, wo sich ein Seelsorger um mich kümmerte.
Nachdem ich erzählt hatte, in welchem Wagon meine Freundin gesessen hatte, erfuhr ich, dass ausgerechnet dieser unter den Trümmern begraben und völlig zerstört sei. Man machte mir wenig Hoffnung. Drei Stunden später wurde es dann zur Gewissheit: In diesem Wagon gab es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Überlebenden. Auch die Hoffnung, dass Steffi sich ins Zugrestaurant begeben hätte, zerschlug sich, da man mir sagte, dass dieses geschlossen gewesen sei.
Noch hoffte ich aber, dass Stefanie nicht tot sei. Ich rief sie auf ihrem Handy an. Das hätte ich schon längst machen sollen, aber ich war so durch den Wind, dass ich daran nicht gedacht hatte. Leider sprang nur ihre Mailbox an, nachdem ich ihre Nummer gewählt hatte.
Am Abend hatte ich dann die traurige Gewissheit: Stefanie hatte das Unglück nicht überlebt, sie war eine von 99 Toten im Zug, zwei weitere Opfer gab es unter den Streckenarbeitern, die sich unter der eingestürzten Brücke befunden hatten. Der tatsächliche Unfallhergang wurde erst nach vielen Tagen bekannt. Ein defekter Radreifen hatte das Unglück ausgelöst und zu einer Kettenreaktion geführt. Mangelhafte Wartung und ein Konstruktionsfehler waren die Ursache.
Ich verfiel in schwere Depressionen und machte mir schwere Vorwürfe, dass ich meiner Freundin geraten hatte, diesen Zug zu nehmen. Wochenlang konnte ich nicht arbeiten und ich konnte auch den Blick aus dem Fenster nicht mehr ertragen, da ich von dort den Bahnhof und die Züge sah. Ich verkaufte die Wohnung und zog weit weg, jenseits einer Bahnstrecke.
Wir mussten lange auf ein Zugeständnis der Bahn warten, dass die mangelnde Wartung das Unglück ausgelöst hatte. Zur Verantwortung wurde jedoch niemand gezogen, da ein pflichtwidriges Verhalten nicht nachgewiesen werden konnte. Das machte mich wütend.
Einmal im Jahr, immer am 03. Juni, treffen sich die Angehörigen und Überlebenden des Unglücks in Eschede, um miteinander zu reden. Über das Verhalten der Bahn und den knausrigen Entschädigungszahlungen waren und sind darüber alle wütend. Für die Opfer hat man unterdessen an der Unglücksstelle eine Gedenktafel angebracht, mit ihren Namen. Für jeden Toten einen Kirschbaum gepflanzt.
Mit Tränen in den Augen stehe ich an dem heutigen Tag an der Gedenkstätte. Ich werde Stefanie niemals vergessen können.
Bildmaterialien: www.de.wikipedia.org
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2020
Alle Rechte vorbehalten