Ich, Hubert Hundertmark, war empört. Diesmal ausnahmsweise mal nicht über einen Händler oder Hersteller, sondern über meine Frau. Wissen Sie, was Wilma letzte Woche zu mir gesagt hat? Wir saßen gerade gemütlich beim Samstagsmorgen-Frühstück. Sie hatte gesagt: „Alles hat ein Verfallsdatum, sowohl Gutes als auch Schlechtes.“
Ich war geschockt und konnte erst einmal gar nichts sagen. Wenn ich in diesem Moment eine Kaffeetasse in der Hand gehalten hätte, hätte ich diese bestimmt fallen gelassen. Wilma ist kurz danach zum Friseur gegangen und ich hatte Zeit darüber nachzudenken. Als sie weg war, habe ich gleich den Kühlschrank und die Speisekammer kontrolliert, ob dort irgendwelche Lebensmittel wären, deren Haltbarkeitsdatum schon abgelaufen war, oder die bereits verdorben waren. Da war aber alles in Ordnung. Danach habe ich mir den Obstkorb vorgenommen. Dort fanden sich tatsächlich eine Banane und zwei Pfirsiche, die schon dunkelbraun bzw. etwas verfault waren.
Aber warum hatte mich meine Frau auf verdorbenes Obst hingewiesen? Das war sehr seltsam. Voller Verzweiflung habe ich danach meinen guten Freund Oskar Plümecke angerufen. Der war gerade zu Hause, weil das Europaparlament, in dem er für unsere Partei, die PDDS, vertreten war, Sommerpause hatte. Oskar berichtete, dass in der letzten Sitzung vor der Sommerpause im Parlament eifrig über die Änderung der EU-Richtlinien zu den Haltbarkeitsdaten von Lebensmitteln diskutiert wurde. So sollten diese bei bestimmten Produkten, z.B. Reis oder Nudeln abgeschafft werden. Oskar mutmaßte, dass Wilmas Äußerung damit zu tun hätte. Ich bedankte mich bei meinem Freund für diese Information und beendete das Gespräch.
Nachdenklich legte ich mich auf mein Bett. Das mache ich immer, wenn ich Beschwerdebriefe an Händler oder Hersteller schreiben muss, wenn ich festgestellt habe, dass man als Verbraucher mal wieder getäuscht wurde. Es sollte mir auch in diesem Fall weiterhelfen. Ich überlegte, ob sich der Kommentar meiner Frau eventuell auf mich bezog. Ob sie meinte, dass ich verfallen würde? Ich ging ins Badezimmer und betrachtete mich im Spiegel. Mein Haupthaar war schon immer ziemlich licht und wurde jetzt allmählich etwas grau. Auch erste Falten waren zu entdecken. Aber das war größtenteils schon so, als ich Wilma damals kennen gelernt hatte. Das konnte nicht die Lösung sein!
Beethoven könnte mich vielleicht inspirieren. Ich setzte mich an mein Klavier und spielte die neunte Sinfonie, die ich so liebte. Gerade, als ich zum Ende kam, hörte ich, dass sich der Schlüssel in der Tür drehte. Wilma war zurück gekehrt, mit einer wunderschönen neuen Frisur. Ich tat aber so, als ob mir das nicht auffiel und warf ihr nur einen kurzen Blick zu.
„Ist etwas, Hubert?“, fragte sie, spürbar verärgert. „Nein, da ist gar nichts, rein gar nichts!“, antwortete ich. „Doch, da ist etwas, das merke ich“, entgegnete Wilma und setzte sich danach in den grünen Ohrensessel. Sie nahm ein Buch zur Hand. Neugierig blickte ich auf den Titel. Es war "Das Flüstern der Erinnerung" von Hester Young, das klang nach einem typischen Frauenroman. Als Wilma zur Toilette ging, was immer bei ihr länger dauerte, nutzte ich die Gelegenheit, um in dem Buch zu blättern.
Überraschenderweise war es sehr interessant. In der Beschreibung stand: „Seit dem plötzlichen Tod ihres Sohnes vor drei Monaten träumt die Journalistin Charlotte Cates nachts von Kindern, die sie um Hilfe anflehen. Um ihren Albträumen zu entfliehen, reist sie für ein Buchprojekt nach Louisiana und recherchiert in dem ungelösten Fall des kleinen Gabriel Deveau. Gabriel, Erbe eines wohlhabenden und angesehenen Südstaaten-Clans, wurde als Kleinkind entführt und wird seitdem vermisst. In ihm erkennt Charlie den Jungen aus ihren Träumen und ahnt, dass sich hinter all dem mehr verbirgt als nur die Halluzinationen einer trauernden Mutter. Was geschah vor 30 Jahren? Und was versucht ihr der Junge im Traum mitzuteilen?“
Und dann entdeckte ich mitten im Buch diesen Satz: „Alles hat ein Verfallsdatum, sowohl Gutes als auch Schlechtes.“ Ich war wie von den Socken. Wilma hatte also beim Frühstück nur aus dem Buch zitiert, das sie gerade las. Das war des Rätsels Lösung. „Na, gefällt dir mein Buch?“, fragte Wilma. Ich erschrak, sie war unbemerkt zurückgekehrt. „Es klingt sehr interessant, mein Schatz“, sagte ich und nahm sie in den Arm.
So hatte sich alles aufgeklärt. Nicht ich, war derjenige der verfällt, auch nicht unsere Lebensmittel. Das Buch werde ich lesen, sobald Wilma es durch hat.
Bildmaterialien: www.kreiszeitung-wochenblatt.de
Tag der Veröffentlichung: 12.09.2020
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