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Der Bierkellerputsch

 

 

Viktor Zastrowski und sein Kollege Marius Hallbaum betraten am 12. April 2091 das Zeitreise-Labor in Berlin. Ihr dritter Auftrag stand an. Vor gut zwei Wochen hatten die beiden das Attentat von Sarajevo beobachtet. Das Ganze war nicht zur vollsten Zufriedenheit von Professor Schulze abgelaufen. Die beiden Zeitreisenden gelobten daher Besserung.

 

„Heute geht es in das dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts“, sagte Hallbaum. Zastrowski antworte: „Auch da ist wieder viel passiert. Mal sehen, wohin es geht!“ Sie begrüßten Professor Schulze und setzten sich. „Meine Herren, ich freue mich, sie zu sehen. Ich hoffe, sie haben sich gut erholt. Unser heutiges Ziel ist in Deutschland, Sprachprobleme wird es daher nicht geben. Genauer gesagt reisen Sie nach München. Herr Hallbaum hat ja eine Großmutter aus Wien. Allzu weit liegt das nicht auseinander!“, sprach der Professor.

 

Hallbaum lächelte süffisant und antwortete dann: „Nun, ja, geographisch stimmt das, aber sprachlich sind da schon große Unterschiede. Aber es wird schon gehen!“

„Nun gut, meine Herren. Sie schaffen das schon. Jetzt zu unserem heutigen Ziel: Es geht in das Jahr 1923. Sagt Ihnen der Bierkellerputsch etwas?“

 

Es folgte ein Schweigen. Dann antwortete Zastrowski: „Das hat irgendetwas mit Hitler zu tun, nicht wahr?“

„Richtig, Herr Zastrowski. Darum nennt man den Vorfall auch Hitlerputsch. Die NSDAP hat am 8. und 9. November 1923 versucht, gegen die bayrische Landesregierung zu putschen. Außer Hitler war auch noch Erich Ludendorff beteiligt. Das hat bekanntlich nicht geklappt, mit der Folge, dass die NSDAP in ganz Deutschland verboten wurde und Hitler wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, wovon er aber nur neun Monate abgesessen hatte. Es hätte aber auch ganz anders kommen können. Hätten die Nazis erfolgreich geputscht, wären sie schon viel früher an die Macht gekommen. Die Geschichte wäre ganz anders verlaufen. Und wenn Hitler bei dem Aufstand getötet worden wäre mit Sicherheit auch. Es ist wichtig, dass die Ereignisse genau so ablaufen, wie wir es kennen. Sie dürfen nicht eingreifen, nur beobachten. Aber das wissen sie ja!“

 

Danach gingen sie in das Nachbarzimmer und der Professor schaltete den Fernseher an. Es folgte ein kurzer Dokumentarfilm über das Ereignis. „Wie schon bei Ihren letzten beiden Aufträgen, sollten Sie nichts verändern und auch möglichst wenig mit den Leuten sprechen. Nähere Instruktionen finden Sie hier auf diesen Ausdrucken. Wir werden Sie als Kellner verkleiden. Verhalten Sie sich unauffällig und beobachten Sie nur“, erklärte der Professor abschließend.

 

Drei Tage später betraten Hallbaum und Zastrowski den Transporterraum. Man hatte sie mit Kellner-Kleidung aus der damaligen Zeit ausgestattet. „Ich habe irgendwie ein mulmiges Gefühl“, bemerkte Zastrowski. Hallbaum nickte und antwortete: „Ich auch, Viktor. Der Gedanke, Hitler persönlich zu begegnen, ist nicht gerade angenehm!“ Viktor entgegnete: „Vielleicht haben wir ja Glück, und wir haben nicht direkt mit diesem Mistkerl zu tun. Aber wie auch immer: Da waren noch ein paar mehr unangenehme Zeitgenossen dabei!“

„Wie auch immer, wir müssen jetzt unsere Pflicht tun.“

 

Die beiden Zeitreisenden betraten die Transporterplatte und verharrten dort. Der Professor drückte einen roten Knopf. Es surrte, augenblicklich später wurden Zastrowski und Hallbaum von einem silbrigen Sternenregen erfasst. Sekunden später tauchten sie am 08. November 1923 im Bürgerbräukeller in München auf. Es war 19.30 Uhr. Der Saal war etwa zur Hälfte gefüllt. Für 20 Uhr war geplant, dass Gustav von Kahr seine Rede beginnen sollte. Dieser war seit dem 26. September Generalstaatskommissar und hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt den Ausnahmezustand erklärt und die Grundrechte außer Kraft gesetzt. Insofern war das einer der Auslöser für den Konflikt. Außerdem unterstanden von Kahr die bayrischen Truppen, nachdem diese vom Reichswehr abgetrennt worden waren.

 

Hitler und seine Konsorten würden eine halbe Stunde später eintreffen. So blieb den beiden Zeitreisenden genügend Zeit, die Lage zu sondieren. Die Tarnung war perfekt gelungen, sie fielen nicht auf. Es waren derart viele Kellner im Bierkeller, dass es nicht auffiel, dass da plötzlich zwei hinzugekommen waren. Immer wenn jemand von den Gästen bei Zastrowski und Hallbaum ein Getränk orderte, wiegelten sie das ab mit den Worten: „Ich bin gleich wieder da!“

 

Als von Kahr mit seinen Ausführungen begann, hörten die beiden Zeitreisenden aufmerksam zu. Man hatte sie darauf vorbereitet, welches die politischen Ziele des Generalstaatskommissars waren. Dennoch waren Zastrowski und Hallbaum entsetzt darüber, was dieser von sich gab. Das war ausgesprochen republikfeindlich und gegen Berlin gerichtet. Die Weimarer Republik wurde abgelehnt und das zeigte, dass von Kahr eindeutig dem rechten Lager zuzuordnen war, was einige ablehnende Äußerungen gegen Juden bestätigten. „Eigentlich müsste das Hitler gefallen“, flüsterte Hallbaum Zastrowski zu. Dieser entgegnete: „Richtig, aber von Kahr stand im Wettkampf mit Adolf Hitler um die Führungsrolle im rechten Lager Bayerns. Beide waren Gesinnungsgenossen, aber auch erbitterte Konkurrenten!“

 

Um 20.30 Uhr geschah dann das, was die beiden Zeitreisenden schon wussten: Adolf Hitler und seine Gefolgsleute stürmten den Saal. Hitler stieg auf einem Stuhl und feuerte ein paar Mal mit einer Pistole in die Decke, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Neben ihm stand Hermann Göring. Hitler erklärte, dass das Lokal von der SA umstellt sei und dass die nationale Revolution ausgebrochen sei. Im Saal gab es Unruhe, einige Anwesenden schauten entsetzt, andere schienen das erfreut hinzunehmen. Es konnte ja seinerzeit niemand ahnen, welches Unglück dieser Despot über Deutschland und die ganze Welt bringen würde.

 

Hitler verließ den Bierkeller. Die beiden Zeitreisenden wussten, dass er jetzt mit von Kahr, Lossow, Seißer und Ludendorff in einem Nebenraum eine Unterredung hatte. Göring betrat das Podium und hielt eine Rede. Leise sagte Zastrowski: „Die Geschichte verläuft genau so, wie es vorgesehen ist!“ Dieses Mal hatte das niemand mitgehört, wie es in Sarajevo der Fall war. Alle im Saal waren auf das fixiert, was auf der Bühne geschah.

 

Nach etwa zwanzig Minuten hatte Göring seine Rede beendet. Es folgte eine Aufbruchstimmung der Besucher. Kurz vor 22 Uhr verließ Ernst Röhm mit ein paar Schergen den Bierkeller. Ihr Ziel war die Schönfeldstraße, wo General von Lossow seinen Amtssitz hatte. Zastrowski und Hallbaum folgten ihnen unauffällig. Doch leider gelang dieses nicht optimal, schon nach ein paar hundert Metern wurden die beiden Zeitreisenden entdeckt. Derjenige, der die beiden aufspürte, war Ernst Röhm. „Darf ich mal fragen, wer sie sind, meine Herren? Und warum folgen Sie uns?“, wollte er wissen. Hallbaum antwortete im österreichischen Akzent: „Wir sind Kellner und uns haben die Reden von den Herren Hitler und Göring begeistert. Wir würden uns Ihnen gerne anschließen.“ Röhm war misstrauisch und sagte: „Und warum sind Sie dann nicht im Saal geblieben? Ich habe das Gefühl, dass Sie lügen und uns nur hinterher spionieren wollen!“ An seine Männer gewandt, befahl er: „Durchsucht die Kerle!“, und an die Zeitreisenden: „Hände hoch!“.

 

Zastrowski und Hallbaum bekamen es mit der Angst zu tun. Sie hatten Fotokameras dabei, die zwar in dem Look der damaligen Zeit getarnt waren, aber ein hochmodernes Innenleben hatten. Viel wichtiger jedoch war der Knopf an dem Gerät, das sie für den Notfall mit sich führten, um zurückgeholt zu werden. Das durfte keinesfalls in falsche Hände geraten. Sie dachten mit Schrecken daran, was passieren würde, wenn einer dieser Nazis, vielleicht sogar Röhm oder etwa Hitler ins späte 21. Jahrhundert versetzt werden würden. Diese Befürchtungen verstärkten sich noch, nachdem das Rückholgerät entdeckt wurde und Röhm es ausgiebig inspiziert hatte.

 

„Das wird Adolf interessieren“, hatte er gesagt und angeordnet, dass er selbst mit zwei Gefolgsleuten und den beiden Verdächtigen zum Bürgerbräukeller zurückkehren sollte. Der Rest der Mannschaft sollte an dem gegenwärtigen Ort verbleiben. „Die Schönfeldstraße muss warten“, bemerkte Röhm noch. Offenbar war er geschwätzig oder kein guter Geheimnisträger. Röhms Gefolgsleute hielten den beiden Zeitreisenden Pistolen im Anschlag, an eine Flucht war nicht zu denken.

 

Zehn Minuten später waren sie wieder am Bürgerbräukeller angekommen. Hitler sah gerade zufällig aus dem Fenster und war sehr verwundert, als er Röhm mit zwei seiner Gefolgsleute und zwei unbekannten Männern ankommen sah. Noch verwunderter war er, als Röhm ihm in einem separatem Raum erklärte, was passiert war und dieser ihm die seltsamen Apparaturen zeigte, die den beiden Männern abgenommen wurden. „Das ist ganz gefährliche Geheimwaffe. Sie ist noch in Erprobung“, erklärte Hallbaum mit österreichischen Dialekt. Hitler zeigte sich beeindruckt. „Oh, der Mann ist aus meiner Heimat. Ich vermute aus Wien?“, sagte er erfreut. Hallbaum nickte. Weniger begeistert war Hitler, nachdem Zastrowski ein paar Worte gesagt hatte. Dessen russischer Akzent missfiel ihm sichtlich. „Ich kann nicht verstehen, wie ein ehrbarer Österreicher mit einem Russen gemeinsame Sache macht“, ereiferte er sich.

 

Hallbaum intervenierte: „Der Mann war glühender Anhänger des Zaren und ist vor der russischen Revolution geflüchtet. Er hat sich dann nach Deutschland durchgeschlagen und will auch hier bleiben. Sein Deutsch ist noch nicht perfekt. Er ist aber ein wahrer Volksgenosse!“ Hitler freute sich und antwortete: „Das ist natürlich etwas anderes. Der Ausdruck Volksgenosse gefällt mir. Den merke ich mir. Aber kommen wir zu diesem interessanten Gerät zurück!“

 

Hallbaum biss sich auf die Zunge. Jetzt hatte er unabsichtlich ein Wort gesagt, dass es noch nicht gab und Hitler inspiriert. Er riss sich aber zusammen und entgegnete: „Das kann ich Ihnen demonstrieren!“ Zugleich griff er sich eines der beiden Rückholgeräte, die auf dem Tisch lagen und zielte damit auf die Stehlampe in der Ecke. Zur großen Überraschung von Hitler und Röhm blieb diese unversehrt, stattdessen löste sich Hallbaum in Luft auf, was die Überraschung noch immens steigerte. Der Zeitreisende erschien kurz darauf wieder im Transporterraum.

 

„Oh, je, er hat das Gerät verkehrt herum gehalten!“, rief Zastrowski mit gespieltem Entsetzen. Er nutzte die allgemeine Verwirrung, griff das andere Rückholgerät und versetzte sich ebenfalls zurück in das Jahr 2091. Hitler und Röhm schauten verwirrt. „Das bleibt unter uns, Ernst!“, sagte Hitler. Röhm nickte.

 

Im Zeitreise-Labor in Berlin berichteten Zastrowski und Hallbaum ausführlich von den Geschehnissen, insbesondere von der unliebsamem Begegnung mit Hitler. Professor Clemens Schulze zeigte sich höchst zufrieden und erklärte: „Sie haben völlig richtig damit gehandelt, dass Sie die den Auftrag vorzeitig abgebrochen haben. Das hätte fatale Folgen haben können. Ich werde gleich einmal die Abweichung der Zeitlinie überprüfen.“ Er ging an seinen Computer und teilte nach wenigen Minuten das Ergebnis mit: „Lediglich 0,09 % Abweichung zur ursprüngliche Geschichte, das ist ein guter Wert. Ich habe auch gecheckt, ob Hitler oder Röhm später über den Vorfall berichtet haben. Hitler hat nie ein Wort darüber verloren, weder schriftlich noch mündlich. Röhm hingegen schon, aber man hat ihn nie geglaubt. Er starb 1934 im Gefängnis München-Stadelheim, wo ihn Hitler hineingebracht hatte durch Erschießung. Das Geheimnis hat er mit ins Grab genommen.“

 

Zastrowski und Hallbaum hatten interessiert zugehört. Auch sie waren froh, dass alles gut ausgegangen war. Aber das nächste Abenteuer wartete schon, jetzt hatten sie erst einmal Pause.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.historiaoccidentalis.com
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2020

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