Ich bin Berta Hundertmark. Meine Brüder Hubert, Kunibert, Norbert und Herbert und meine Cousine Hermine kennen Sie bereits. Es wird Zeit, dass ich auch endlich zu Wort komme. Mit vier Brüdern hat man es als einzige Schwester nicht leicht. Das war schon in der Kindheit so. Ich bin die Zweitjüngste, nur Hubert ist noch ein Jahr jünger als ich. Norbert, der Älteste, hat es als Programmdirektor von TELE 12 am weitesten von uns gebracht, wohingegen Kunibert ewig gebraucht hat, bis er mit seinem Jura-Studium fertig war. Er wohnt immer noch bei unserer Mutter. Das ist nicht zu fassen. Herbert, der Nervenarzt, ist auch etwas seltsam, vorsichtig gesagt. Er sollte mal einen Kollegen aufsuchen. Und Hubert? Der will ja unbedingt Bundeskanzler werden. Das ist nicht lache. Das wird er mit seiner komischen Partei niemals schaffen. Immerhin hat er mir einen Ministerposten angeboten, falls das doch klappt. Über meine eigenartige Cousine Hermine, die immer alles verwechselt, schweige ich lieber.
Ich, Berta Hundertmark werden nun allen zeigen, was in mir steckt. Bislang wurde ich unterschätzt. Doch jetzt habe ich etwas entwickelt, womit ich auf einen Schlag berühmt werden werde. Ich bin ja Chemielaborantin. Das wird nicht besonders gut bezahlt, aber ich kann davon leben. Doch schon bald werde ich in Luxus schwelgen. Aber der Reihe nach, wie mein Bruder Hubert immer sagt.
Es war vor drei Wochen, ich hatte Überstunden gemacht, alle Kollegen hatten schon Feierabend. Ich wollte einige Reagenzgläser spülen, das machte ich täglich. Es waren völlig harmlose Chemikalien. Ich hätte niemals erwartet, dass diese miteinander reagieren. Schließlich bin ich nicht erst seit gestern in diesem Beruf. Doch das Unglaubliche geschah: Das Spülbecken löste sich in Luft auf! So hatte es zumindest den Anschein. In Wirklichkeit war es unsichtbar geworden, wie ich feststellte, als ich es anfasste.
Der Effekt hielt allerdings nur wenige Minuten an. Danach sah es aus wie zuvor. Insofern war ich froh, dass kein Kollege mehr da war. Wenn ich ihn herangeholt hätte, um ihn das zu zeigen, hätte er mich für verrückt erklärt. Nun musste ich herausfinden, welche Chemikalien ich weg geschüttet hatte. Das war nicht allzu schwierig, da es für alle unsere Versuche Protokolle gab. Aber es kam auch auf das Mischungsverhältnis an. Ich machte erstmal Feierabend und beschloss, das am nächsten Tag herauszufinden.
Am nächsten Tag blieb ich erneut länger. Als alle Kollegen gegangen waren, hatte ich Gelegenheit, meine Forschung fortzusetzen. Es waren sieben verschiedene Chemikalien, die ich am Vortag zusammengeschüttet hatte. Es dauerte drei Stunden, bis ich die richtige Mischung zusammen hatte. Rasch merkte ich, dass sich der Effekt der Transparenz nur auf Metalle auswirkte, nicht auf Holz, nicht auf Plastik, schon gar nicht auf lebendigem Gewebe. Immerhin schaffte ich es aber, dass der Effekt nun auf Dauer anhielt.
Ich beschloss, meinen Bruder Norbert anzurufen. In seinem Sender TELE 12 gab es seit einiger Zeit eine Erfinder-Show, die „Das gibt es doch gar nicht“ hieß. Dort wollte ich meine Substanz präsentieren. Norbert legte mir aber nahe, dort nur mit meinem Vornamen anzutreten, um den Verdacht einer Manipulation zu entkräften. Als Hubert vor einiger Zeit bei TELE 12 die Reise nach Magdeburg gewann, waren entsprechende Stimmen laut geworden. Ich hielt mich also daran.
Außer mir präsentierten vier andere Kandidaten ihre Erfindungen. Das war eine harte Konkurrenz! Eine Jury von drei Personen sollte die Vermarktungschancen der Innovationen prüfen und anschließend den Sieger krönen, dem 20.000 Euro winkten.
Als Erstes trat ein junger Mann an, der einen Fleisch-Scanner präsentierte. Man musste sein Smartphone an das Fleisch heranhalten und auf dem Bildschirm konnte man dessen exakte Herkunft sehen. Eine tolle Sache. Die Jury hielt sich bedeckt und wollte sich erst äußern, wenn alle Bewerber aufgetreten waren.
Der zweite Kandidat war ein etwa 30-jähriger Mann aus Kassel, der einen Elektro-Rollstuhl vorstellte, der keine Räder hatte, sondern Beine, wie ein Roboter. Er war wesentlich schmaler als ein normaler Rollstuhl und auch höher. „Was ist das größte Problem für Rollstuhlfahrer?“, fragte der Mann. „Nun, ich würde sagen: Treppen!“, beantwortete er seine Frage selbst. Mit seinem Gerät war das Problem offenbar gelöst.
Ich war beeindruckt. Wie konnte ich nur gegen solch tolle Erfindungen ankommen? Jedenfalls kam ich als Nächste dran. Ein Tisch wurde aufgebaut, auf dem mehrere Metallgegenstände lagen. Ich träufelte etwas von meiner Flüssigkeit darauf und scheinbar waren die Sachen verschwunden. Jemand aus dem Publikum wurde auf die Bühne gebeten und konnte sich davon über überzeugen, dass diese nur unsichtbar waren.
„Wahnsinn, was wir heute hier zu sehen bekommen – oder auch nicht“, äußerte sich der Moderator. „Da können andere Sender mit ähnlichen Shows, wo es rohen Kuchenteig zum Auslöffeln gibt, aber neidisch werden!“, ergänzte er.
Danach trat ein junges Mädchen auf, die ein revolutionäres Übersetzungsprogramm präsentierte. „Sie werden sagen, dass es das schon gibt. Aber mein Programm ist etwas Besonderes. Es ist ein Universalübersetzer, damit verstehen und sprechen Sie alle Sprachen und Dialekte dieser Welt. Es arbeitet absolut fehlerfrei, auch bezüglich der Grammatik. Auch Wörter, die in einer Sprache verschiedene Bedeutungen haben, kann mein Programm korrekt erkennen!“, berichtete das Mädchen.
Der letzte Bewerber war ein älterer Mann, der ziemlich schlank war. Auf der Videowand wurde ein Foto von ihm gezeigt, wo er untersetzt war. „Das war ich vor einem Jahr“, erzählte er voller Stolz. Dann hielt er ein kleines Kästchen in die Höhe. „Doch Dank meiner kleinen Freunde habe ich in kürzester Zeit sechzig Kilo abgenommen. Es sind Mücken, die kein Blut, sondern Fett absaugen“, erzählte der Mann.
Es folgte eine Werbepause. Danach sollte von der Jury der Sieger bekannt gegeben werden. Dem Moderator wurde ein Umschlag in die Hand gedrückt. „Meine Damen und Herren. Unsere Show heißt Das gibt es doch gar nicht. Und das ist auch unser heutiges Ergebnis. Alle fünf Kandidaten waren so überragend, dass wir heute fünf Sieger haben. Alle Erfindungen haben allerbeste Vermarktungschancen. Ich gratuliere!“ Tosender Applaus folgte. Damit hatte niemand gerechnet.
Ich war überglücklich. Wenn Sie in Zukunft gegen einen Laternenpfahl rennen, den Sie erst in letzter Minute sehen, weil er durchsichtig ist, wissen Sie, wem Sie das zu verdanken haben.
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Tag der Veröffentlichung: 02.07.2020
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