Cover

Die Straße meiner Kindheit

 

Geboren und aufgewachsen bin ich in Hannover-Kleefeld. Bis Mitte 1968 wohnten wir in der Kapellenstraße. Kleefeld ist im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört worden, nur vereinzelt gab es Treffer von Bomben, die für das benachbarte Misburg gedacht waren. Demzufolge standen hier viele alte Häuser, zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert. Es war und ist eine sehr kurze Straße, die mir als Kind aber riesig vorkam.

 

Unser Wohnhaus war in der Mitte der Straße und eigentlich ein Zweifamilienhaus. Unten im Erdgeschoss wohnten unsere Vermieter, Herr und Frau U., die mir damals steinalt vorkamen. Sie waren sehr nett, ich durfte sie Opa und Oma nennen. Wir bewohnten den ersten Stock: meine Eltern, mein Bruder Achim und ich. Wir hatten weder ein Bad noch eine Toilette, in der Wohnung. Die Toilette war nur erreichbar durch das Treppenhaus. Neben unserer Wohnung gab es noch ein abgetrenntes Zimmer, dass an die alte Frau T. vermietet war. Die hatte einen Buckel und erinnerte mich an die Hexen aus meinem Märchenbuch. Frau T. war aber sehr nett und mochte mich gerne.

 

Direkt gegenüber von unserem Haus war eine Hofeinfahrt und in dem Hof war eine Autowerkstatt mit einer angeschlossenen Tankstelle. Neben der Hofeinfahrt war ein winzig kleines Häuschen, wo Schuster B. residierte. Dieser war stets betrunken, wobei er nicht etwa Bier trank, sondern nur Korn. Dieses auch nicht aus einer großen Flasche, sondern aus diesen kleinen grünen Fläschchen. Die Marke gibt es auch noch heutzutage und wird auch gerne von Horst Schlämmer getrunken, jene Kunstfigur, die Hape Kerkeling erfand. Herr B. war aber zu faul, um selbst zum Kiosk zu gehen, um sich Nachschub zu holen. Er beauftragte dafür immer ein Kind, das zufällig vorbei kam. Das Kind durfte sich dann auch immer etwas Süßes mitbringen. Ich war auch oft dabei.

 

Kioske gab es insgesamt drei in der kleinen Straße, dazu zwei Tante-Emma-Läden und eine Fleischerei. Dort arbeitete Frau W., die immer sehr nett war, auch zu Kindern. Wenn ich dort etwas für unsere Familie kaufte, gab es oft einen Lacherfolg, nämlich dann, wenn ich für meinen Bruder eine Frikadelle kaufen sollte, da mir beim Bestellen fast immer das „r“ fehlte. Ich konnte damals nie verstehen, warum so gelacht wurde. Frau W. war zugleich die Schwester meines damaligen Zahnarztes, bzw. die Tante meiner späteren Zahnärztin.

 

In dem Haus, wo die Fleischerei war, wohnte mein Freund Rainer, ein Einzelkind. Mit ihm und Karsten sowie dessen Schwester Daniela, welche im Hinterhaus lebten, spielte ich oft im Stadtwald Eilenriede, der sich nur wenige Meter weiter am Ende der Straße anschloss. Das war herrlich. Dazu gesellte sich später noch Christian, dessen Vater um die Ecke in der Kleestraße einen Friseursalon betrieb. Christian mochte ich anfangs gar nicht, da er etwas „seltsam“ war. Er wurde daher oft von mir und den anderen Kindern geärgert und einmal von mir, als ich im Kindergarten war, in den Wassergraben geschubst, der den Wald von der Straße abtrennte. Das führte dazu, dass ich aus dem Kindergarten herausflog. Dieser Kindergarten war auch in der Kapellenstraße, und zwar am anderen Ende. Er gehörte zur evangelischen Petri-Kirchengemeinde. Das Titelbild des Buches zeigt das Gebäude des Kindergarten im Jetztzustand.

 

Neben dem Kindergartengelände war links eine Barackensiedlung. Dort lebten Spätaussiedler mit zumeist kinderreichen Familien. Mit diesen Kindern durften wir aber nicht spielen. Anfang 1966 wurden die Baracken abgerissen. Das Gelände wurde von der Kirchengemeinde gekauft und es entstand eine Grünfläche.

 

Ein paar Schritte weiter an der Ecke zum Dohmeyers Weg war eine Kaffeerösterei mit einem winzigen Tante-Emma-Laden, der von Frau S. betrieben wurde. Dem Laden entströmte zumeist ein lieblicher Duft. Weniger angenehm roch die Fisch-Großhandlung, die sich in dem einzigen Fachwerkhaus in unserer Straße befand, schräg gegenüber von unserem Wohnhaus. Sie gehörte dem Sohn unseres Vermieters.

 

Vor ein paar Wochen bin ich meine alte Straße entlang spaziert. Der Spaziergang weckte alte Erinnerungen in mir an meine Kindheit in den Sechzigern. Es hat sich einiges verändert, aber nicht allzu viel. Die Straße ist längst asphaltiert, das Kopfsteinpflaster ist verschwunden. Die meisten Wohnhäuser stehen noch, wurden aber renoviert. Einige wenige, die baufällig waren, wurden abgerissen und durch Neubauten ersetzt, die aber – zum Glück - der umliegenden Bebauung angepasst wurden. Keinen einzigen Gewerbebetrieb gibt es dort mehr in der Kapellenstraße, nicht einmal einen Kiosk. So ändern sich die Zeiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.wikipedia.com
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /