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Das dritte Kind

 

 

Vor zehn Jahren habe ich Sandra kennen gelernt. Wir verliebten uns schnell, heirateten und bekamen zwei Kinder. Es war eine glückliche Zeit. Mia und Elias, unsere beiden Kinder, verstanden sich prächtig miteinander.

 

Damit war unsere Familienplanung eigentlich abgeschlossen, doch dann stellte Sandra fest, dass sie erneut schwanger war. Das war eine richtige Überraschung. Für eine Abtreibung war es zu spät, meine Frau war bereits im dritten Monat. Es stand daher außer Frage, dass das Kind zur Welt kommen sollte.

 

Mia und Elias reagierten zunächst begeistert darauf, ganz besonders Elias, der Siebenjährige, freute sich auf das neue Geschwister. Wir mussten Mia jedoch klarmachen, dass sie nunmehr mit ihren fünf Jahren nicht mehr das Nesthäkchen sein würde. Das verstand sie auch, so dachten wir.

 

Ich nahm mir zwei Wochen frei, um meine Frau vor und nach der Geburt zu unterstützen. Als dann Niklas zur Welt kam und Sandra mit dem Baby nach Hause zurückkehrte, bemerkte ich einen verstörenden Blick von Mia. Meine Frau war so vernarrt in den kleinen Wurm, dass sie das nicht registrierte.

 

Zwei Tage später saßen wir beim Frühstück. Mia stieß ihre Kakaotasse um, diese fiel zu Boden und zerbrach. „Kannst du nicht aufpassen!“, rief meine Frau gereizt. Mia begann zu weinen. Ich nahm sie in Arm, um sie zu trösten. Mia ließ sich gar nicht beruhigen. „Ihr habt mich nicht mehr lieb!“, schluchzte unsere Tochter. „Doch, doch, Mia, natürlich haben wir dich noch lieb. Wir haben Euch alle lieb!“, antwortete ich. „Nein, nein, Ihr lügt!“, rief Mia. Sie stand auf, rannte aus der Küche und lief in ihr Zimmer. Ich folgte ihr, ebenso meine Frau.

 

Wir sahen, wie Mia sich auf ihr Bett warf und hemmungslos heulte. Immer wieder schlug sie mit den Fäusten auf ihr Kopfkissen. So hatte ich meine Tochter noch nie erlebt. „Das hatte ich befürchtet“, sagte ich leise zu Sandra und ergänzte: „Wir können nur hoffen, dass sich das bald wieder gibt.“

 

Am nächsten Tag war meine Frau beim Einkaufen. Sie bestand darauf, das selbst zu erledigen, und ließ sich das nicht ausreden, Elias war in der Schule. Ich war also mit Mia und dem Baby alleine in der Wohnung. Kurz nachdem Sandra losgegangen war, klingelte es. Ich ging an die Tür. Es war der Paketdienst mit einer Bestellung, die Sandra schon zwei Wochen zuvor geordert hatte.

 

Diesen Moment nutzte Mia, um sich in unser Schlafzimmer zu schleichen, wo die Wiege stand. Davon bekam ich zunächst nichts mit. Erst als ich mit dem Paket in der Hand ins Wohnzimmer gehen wollte und am Schlafzimmer vorbei kam, sah ich Mia. Sie hatte ein Kissen in den Händen und drückte es auf das Gesicht von Niklas. Entsetzt rief ich: „Mia! Bist du wahnsinnig!“ Meine Tochter ließ das Kissen fallen und lief hinaus. Ich war keine Sekunde zu spät gekommen. Zwar hatte ich registriert, dass meine Tochter eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder war, aber das hatte ich nie im Leben erwartet.

Zehn Minuten später kam meine Frau vom Einkaufen zurück und sah mich völlig aufgelöst auf dem Sofa sitzen. Ich schilderte ihr das, was gerade zuvor passiert war. Sandra war ebenso konsterniert wie ich. Wir beschlossen, einen Kinderpsychologen einzuschalten. Eine Freundin von Sandra empfahl uns einen Doktor Baumann. Der hatte deren Sohn Benjamin sehr geholfen, als er ein ähnliches Problem hatte.

 

Glücklicherweise bekamen wir schon eine Woche später einen Termin bei Doktor Baumann. Wir erzählten Mia vorher nicht, worum es bei dem Besuch ging, das hatte er uns angeraten. „Kinder blockieren sonst, wenn sie das vorher wissen“, sagte er uns am Telefon. Herr Doktor Baumann wollte noch von uns wissen, ob unsere Tochter wieder einnässt oder einkotet seit das Baby da ist. Das konnten wir nicht bestätigen. „Damit müssen Sie aber rechnen. Das ist eine Art Protest. Kinder in diesem Alter neigen in solchen Fällen dazu, sich wieder ins Kleinkindalter zurück zu versetzen, um mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen“, erklärte er uns.

 

Der Kinderpsychologe erwies sich als ein sehr netter, einfühlsamer Mann. Na, ja, in seinem Beruf muss man das wohl auch sein. Mit Mia sprach er intensiv. Es gab eine Ecke in seinem Behandlungszimmer, wo verschiedene Spielzeuge, unter anderem Puppen und Stofftiere lagen. Mia musste mit den Puppen nachspielen, wie sie sich fühlt. Das klappte sehr gut. Wir hatten tatsächlich das Gefühl, dass es ihr danach besser ging.

 

Acht Wochen lang gingen wir jeden Donnerstag zu Doktor Baumann und der gute Mann hatte tatsächlich Erfolg. Der Vorfall mit dem Kissen wiederholte sich nicht, Mia war zwar nicht so liebevoll wie Elias zu Niklas, aber auch nicht mehr eifersüchtig. Es bleibt zu hoffen, dass das anhält.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.brigitte.de
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2020

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