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Gelb

 

 

Ich bin ein großer Fan von den Simpsons. An diesem Abend saß ich – wie fast täglich – vorm Fernseher, um meine Lieblingsserie zu gucken. Gerade als die diesjährige Halloween-Folge beendet war, und der Vorspann der nächsten Episode begann, zog ein heftiges Gewitter auf. Das hätte besser zur vorherigen Folge gepasst, dachte ich. Den Fernseher ließ ich an. Ich wusste zwar, dass man bei Gewitter nicht fernsehen sollte, aber das war mir egal. Was sollte schon passieren? Ich hatte an all meine elektronischen Geräte einen Überspannungsschutz angeschlossen.

 

Es stand die Folge 24 der sechsten Staffel an, sie hieß „Auf zum Zitronenbaum!“. Die war lustig, ich hatte sie schon ein paar Mal gesehen und konnte fast mitspielen. Da geschah es. Mein Wohnzimmer wurde hell erleuchtet, ein heftiger Knall folgte sogleich. Offenbar hatte der Blitz direkt in mein Haus eingeschlagen. Für wenige Sekunden war ich benommen.

 

Als ich wieder zu mir kam, wollte ich nicht glauben, was ich sah. Ich stand direkt vor dem Haus von Milhouse, dem besten Freund von Bart Simpson, dem aufsässigen Sohn der Familie. Irgendwie war ich also direkt in die Episode hineingeraten, wie auch immer das geschehen konnte. Ich sah an mir herunter: Ich war ein kleiner Junge, hatte eine gelbe Haut und nur je vier Finger an jeder Hand, wie jede Figur in dieser Serie. Wow!

 

Milhouse verkaufte Zitronenlimonade. Nach einer Weile musste er feststellen, dass ihm die Zitronen ausgegangen waren. Bart kam vorbei und gemeinsam gingen sie zum Zitronenbaum, der ein Heiligtum von Springfield, der Heimatstadt der Simpsons darstellte. Ich folgte den beiden unauffällig. Bis jetzt lief alles so ab, wie ich die Episode kannte. Meine Anwesenheit schien keine Auswirkungen auf die Handlung zu haben.

 

Doch dann, am Zitronenbaum, sprach mich Bart an: „Wer bist du denn? Wie heißt du? Kommst du etwa aus dem verdammten Shelbyville?“ Ich wollte auf keinen Fall für einen Jungen aus der verhassten Nachbarstadt gehalten werden, daher antwortete ich: „Ich heiße Matt und bin mit meinen Eltern gerade erst nach Springfield gezogen.“ Der Name Matt war mir spontan eingefallen und war eine Anspielung auf Matt Groening, dem Schöpfer der Serie.

 

Mehr musste ich in diesem Moment nicht sagen, denn plötzlich tauchte wirklich ein Junge aus Shelbyville auf und beleidigte Springfield und ihre Bewohner. Immer mehr Kinder aus beiden Städten kamen hinzu. Sie begannen einen Streit und bewarfen sich schließlich mit den Zitronen.

 

Wie aus dem Nichts erschien Barts Großvater und erklärte den Ursprung des Streites zwischen Springfield und Shelbyville, wobei der Zitronenbaum eine entscheidende Rolle spielte. Immer noch verlief die Folge weitestgehend so, wie ich sie kannte. Ich begann mir Gedanken zu machen, was mit mir geschehen würde, wenn die Folge zu Ende sein würde.

 

Die nächste Szene würde am nächsten Tag spielen, in der Grundschule. Das wusste ich. Doch zu meinem Erstaunen gingen alle anderen Kinder und ließen mich alleine am Baum zurück. Offenbar war ich zwar in der Episode gefangen, aber nicht in der Zeit. Ich konnte mich frei bewegen und nutzte die Gelegenheit, mir Springfield anzusehen: das Haus der Simpsons, das Atomkraftwerk, die Polizeistation, den Kwik-E-Mart von Apu Nahasapeemapetilon, eine Krusty-Burger-Filiale, Moes Taverne und die Grundschule. All das konnte ich mir nur von außen ansehen, betreten konnte ich die Gebäude nicht. Das war alles sehr aufregend für mich, als echten Fan der Serie.

 

Dann brach der nächste Tag an, ich begab mich zur Schule. Als kleiner Junge fiel ich dort nicht auf. Ich versteckte mich hinter einem Baum und wartete darauf, dass der chaotische Nelson angestürmt kam, um mitzuteilen, dass die shelbyviller Kinder den Zitronenbaum entführt und in ihre Stadt verschleppt hätten. Doch das geschah nicht. Ich war baff! So war das doch in der Folge vorgesehen. Warum passierte das nicht?

 

Alle Kinder saßen friedlich in der Schule beim Unterricht. Plötzlich sprach mich jemand von hinten an. Ich drehte mich um. Vor mir stand ein kleiner, dicklicher, rothaariger Junge, der mir bekannt vorkam, allerdings nicht aus der Serie, sondern aus dem echten Leben. Er sah aus wie Felix, mein Nachbar, jedoch als Kind. Innerhalb weniger Minuten wurde ich zum zweiten Male überrascht.

 

Felix erzählte mir, dass er, ebenso wie ich, die Simpsons geguckt hätte und dass der Blitz auch bei ihm eingeschlagen hätte. Auch er wurde in die Folge hineinversetzt. „Da hat es wohl uns beide erwischt“, sagte Felix und grinste. Er berichtete, dass er am Zitronenbaum geblieben war und dessen Diebstahl verhindert hatte, indem er die Kinder aus Shelbyville mit Steinen beworfen hatte. Dadurch hatte er den ganzen Handlungsablauf der Folge zerstört.

 

„Du Idiot“, schalt ich Felix und fuhr fort: „Jetzt müssen wir auf ewig hier als zehnjährige Jungens in dieser Zeichentrickserie verbleiben!“ Felix war entsetzt. Darüber hatte er nicht nachgedacht. Er hatte es doch nur gut gemeint. Was ich befürchtet hatte, geschah tatsächlich. Felix und ich verblieben in der Serie und wurden zu zwei neuen Nebenfiguren.

 

Wenn Sie das nächste Mal die Simpsons gucken und sich wundern, warum da plötzlich Matt und Felix auftauchen, wissen Sie, warum das so ist. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Serie niemals abgesetzt wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: www.uloc.de
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2020

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