Cover

Versuchskaninchen

 

 

Ich saß beim Frühstück und schlug die Tageszeitung auf und ahnte nichts Böses. Auf Seite 23 fand ich eine Anzeige, die mich ansprach. Dort stand in großen Buchstaben:

 

Leiden Sie unter Sehschwäche? Haben Sie ein eingeschränktes Hörvermögen? Wir können Ihnen helfen!“

 

Nun ist es so, dass ich schon seit meiner Kindheit schlecht sehen kann. Mit acht Jahren bekam ich meine erste Brille. Mittlerweile sind die Gläser nahezu fingerdick und ähneln Glasbausteinen. Das hat mich schon immer gestört. Modische, schicke Brillen oder solche mit Kunststoffgläsern waren nichts für mich, entweder waren die Fassungen für die Gläser zu dünn oder sie gefielen mir nicht. Und Kontaktlinsen vertrage ich nicht, das habe ich ausprobiert. Über das Lasern meiner Augen habe ich auch schon nachgedacht und das immer wieder verworfen.

 

In der Annonce stand weiter, dass 100 Probanden für ein neu entwickeltes Medikament gesucht wurden, das all diese Probleme lösen konnte. Man sollte eintausend Euro dafür erhalten und bekam außerdem vier Wochen lang freie Kost und Logis in einer renommierten Kurklinik in Bad Bevensen. Für die Zeit, wo man nicht arbeiten konnte, bekam von der Firma Gonova, die die Versuchskaninchen suchte, auch noch den Verdienstausfall erstattet.

 

Es gab nur wenige Voraussetzungen zu erfüllen, um an der Versuchsreihe teilnehmen zu können: Man musste zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt sein und musste – abgesehen von der Seh- oder Hörschwäche – körperlich gesund sein. Das war kein Problem für mich und so schrieb ich eine E-Mail, um mich zu bewerben. Nur drei Tage später erhielt ich Antwort: Ich durfte an dem Versuch teilnehmen.

 

Zwei Monate danach war es soweit. Voller Erwartung und Hoffnung fuhr ich nach Bad Bevensen. In der Kurklinik wurden uns zunächst unsere Zimmer zugewiesen. Nachdem jeder seine Koffer ausgepackt und sich frisch gemacht hatte, versammelten wir uns in einem großen Saal. Ein älterer Herr mit gepflegtem, weißen Vollbart und einer Nickelbrille, der sich als Doktor Berger vorstellte, begrüßte uns.

 

„Meine Damen und Herren, im Namen der Firma Gonova danke ich für Ihr zahlreiches und vollständiges Erscheinen. Sie nehmen an einer historischen Versuchsreihe teil. So etwas gab es noch nie zuvor. Während der gesamten Zeit Ihres Aufenthalts werden Sie ärztlich betreut. Es besteht keinerlei Gefahr. Sie haben ferner die Möglichkeit, jederzeit aus dem Projekt auszusteigen, wenn Sie dieses möchten. Allerdings entfällt in diesem Fall die Vergütung.“

 

Es folgte ein kurzer Film über die Herstellerfirma, danach fuhr Doktor Berger mit seinen Ausführungen fort: „Ich möchte betonen, dass Gonova 2000 forte kein Wundermittel ist. Wer vollständig blind oder taub ist, kann davon keine Heilung erlangen. Aber denjenigen, deren Seh- oder Hörvermögen eingeschränkt ist, kann geholfen werden. Wie üblich bei solchen Tests, wird nur die Hälfte von Ihnen das richtige Medikament erhalten, die anderen bekommen nur Placebo-Pillen. Ich wünsche Ihnen nun einen angenehmen Aufenthalt hier in Bad Bevensen. Leider dürfen Sie in der Zeit der Versuchsreihe das Klinikgelände nicht verlassen.“ Im Saal regte sich keinerlei Widerspruch, offenbar nahm das jeder ohne Murren zur Kenntnis. Ich ging auf mein Zimmer zurück und war gespannt, was passieren würde.

 

Mit jeder Mahlzeit erhielten wir zwei kleine, rosafarbene Pillen, die ein wenig an geschrumpfte Schokolinsen erinnerten. Man durfte sie nicht zerkauen, sondern musste sie mit etwas Wasser ganz herunterschlucken.

 

„Glauben Sie, dass das funktioniert?“, sprach mich eine junge Dame beim Frühstück an, die ebenso wie ich, eine dicke Brille trug. „Ich weiß nicht so recht. Vielleicht ist das alles Schwindel. Mich macht stutzig, dass der Doktor auch eine Brille trägt. Entweder traut er seinem eigenen Medikament nicht oder es wirkt doch nicht. Ich heiße übrigens Kai“, antwortete ich. Die junge Frau hieß Tanja und kam aus Bielefeld. Sie war mir sehr sympathisch. Rasch freundeten wir uns an und duzten uns nach wenigen Tagen.

 

Zwei Wochen später saßen wir auf einer Bank im Park der Klinik und genossen das schöne Frühlingswetter. Die Vögel zwitscherten um die Wette, ein Eichhörnchen flitzte an uns vorbei und lief einen Baum hoch. „Sag mal, Tanja. Kannst du schon eine Verbesserung spüren? Bei mir wirkt das Zeug kein bisschen. Vielleicht habe ich ja auch die Placebo-Pillen erwischt“, sagte ich. Tanja nahm ihre Brille ab und sah auf das Eichhörnchen, das unterdessen auf einem Ast saß und sich putzte. Sie antwortete: „Da habe ich wohl auch Pech gehabt. Das ist immer noch so verschwommen wie vorher!“

 

Ein leicht untersetzter, rothaariger, junger Mann näherte sich uns. Er stellte sich als Tobias vor und setzte sich ungefragt zu uns. Tobias sah glücklich aus. Er plapperte los: „Ist das nicht toll? Dieses Zeug wirkt Wunder. Endlich kann ich auch ohne Hörgerät alles hören. Ich bin begeistert!“ Tobias bat uns darum, dass wir uns zehn Meter entfernen sollten und uns etwas zuflüstern sollten. Wir taten ihm den Gefallen.

 

„Das Eichhörnchen ist wirklich niedlich“, sagte ich extrem leise zu Tanja. Sie entgegnete: „So putzig wie die sind. Das sind auch Nesträuber!“ Wir gingen zu der Bank zurück. Erstaunlicherweise konnte Tobias genau das wiederholen, was wir gesagt hatten.

 

Gespräche mit den anderen Probanden ergaben sehr unterschiedliche Ergebnisse. Nur gut ein Drittel derjenigen, die wir befragten, konnten nun besser sehen oder hören. Das überraschte mich sehr, ich hatte das nicht erwartet.

 

Die vier Wochen der Testreihe vergingen wie im Fluge. Wir mussten alle einen mehrseitigen Fragebogen ausfüllen und diesen abgeben.

 

Am letzten Tag versammelten wir uns wieder in dem Saal. Doktor Berger räusperte sich und sprach: „Ich danke Ihnen alle für die Teilnahme an den Test und ihre Rückäußerungen. Über das Ergebnis unseres Experiments sind wir ziemlich erstaunt. Nahezu vierzig Prozent von Ihnen berichtet über eine Verbesserung des Seh- oder Hörvermögens. Einige teilten sogar mit, dass sie keine Brille oder Hörhilfe mehr bräuchten.“

 

Der Doktor machte eine längere Pause und fuhr dann fort: „Jetzt werde ich Ihnen die Wahrheit mitteilen. Das Mittel Gonova 2000 gibt es gar nicht. Sie alle haben wirkungslose Pillen erhalten. Ich heiße auch nicht Berger und bin auch kein Doktor. Dieser Versuch diente nur der Erforschung, ob man durch Autosuggestion erreichen kann, dass sich körperlich Leiden verbessern. Das ist gelungen.“

 

Unglaubliches Raunen im Saal. Die Leute sahen sich gegenseitig an. Manche wirkten äußerst enttäuscht oder entsetzt. Ich nickte nur. Fast gleichzeitig sagten Tanja und ich: „Ich habe es geahnt!“

 

Im Internet und im Fernsehen wurde ausführlich über das Experiment berichtet. Viele von uns wurden interviewt, ganz besonders diejenigen, deren Seh- oder Hörvermögen sich verbessert hatten. Wie das heutzutage so ist, führte das dazu, dass sich in diversen Sendungen und Internetkanälen darüber lustig gemacht wurde.

 

Mir war das egal. Ich hatte vier Wochen Erholung genossen und war um eintausend Euro reicher. Außerdem hatte ich mit Tanja eine nette Bekanntschaft gemacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: www.weheartet.com
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /